Blue Bottle
Blue Bottle Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Buch „Sprint. Wie man in nur fünf Tagen neue Ideen testet und Probleme löst“. Die Autoren des Buches kommen von Google und haben die sogenannte Sprint-Methode entwickelt, mit der in wenigen Tagen Prototypen entwickelt und getestet werden. Zum Einsatz kam sie unter anderem bei Gmail, aber auch bei Unternehmen, die mit Google Ventures (GV) zusammen arbeiten. Der Textauszug zeigt einen Teil des Vorgehens am Beispiel der erfolgreichen US-Kaffeekette Blue Bottle Coffee.

Im Jahr 2002 hängte ein Klarinettist namens James Freeman seinen Job als Profimusiker an den Nagel und gründete … einen mobilen Kaffeeausschank. James war ein leidenschaftlicher Liebhaber von frisch geröstetem Kaffee. Damals war es im Einzugsgebiet von San Francisco praktisch unmöglich, Kaffeebohnen zu finden, deren Röstdatum auf der Packung angegeben wurde. Also beschloss James, seinen Kaffee selber zu rösten. Er röstete die Bohnen zu Hause in einem Gartenschuppen und anschließend fuhr er zu einem Bauernmarkt in Berkeley und Oakland, Kalifornien, wo er einen mobilen Kaffeeausschank aufbaute. Jede Tasse war frisch gebrüht. James war freundlich und zuvorkommend, und sein Kaffee schmeckte ausgezeichnet.

Schon bald hatten James und sein Kaffeewagen namens Blue Bottle Coffee eine Fangemeinde. Im Jahr 2005 richtete er ein stationäres Blue-Bottle-Café in der Garage eines Freundes in San Francisco ein. Im Verlauf der folgenden Jahre wuchs sein Geschäft und er eröffnete peu à peu weitere Cafés. Im Jahr 2012 gab es Blue-Bottle-Cafés in San Francisco, Oakland, Manhattan und Brooklyn. Das war ein Geschäft, das viele als perfekt bezeichnet hätten. Der Kaffee galt als einer der besten des ganzen Landes. Die Baristas waren freundlich und verfügten über umfassende Kaffee-Kenntnisse. Auch die Innendekoration der Cafés war perfekt: Holzregale, geschmackvolle Keramikfliesen und ein zurückhaltendes Logo in perfektem Himmelblau.

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9783868816389.jpg.400x0_q85 Das Buch „Sprint“ von Jake Knapp, John Zeratsky und Braden Kowitz ist im Redline Verlag erschienen.

James fand sein Geschäft jedoch keineswegs perfekt oder vollständig. Er war nach wie vor ein leidenschaftlicher Kaffeespezialist und Gastwirt und wollte noch mehr Kaffeeliebhabern das Blue-Bottle-Erlebnis nahebringen. Deswegen wollte er weitere Cafés eröffnen. Außerdem wollte er den Menschen frisch gerösteten Kaffee nach Hause bringen, selbst wenn sie nicht in der Nähe eines Blue-Bottle-Cafés wohnten. Wäre sein Kaffeewagen ein Sputnik gewesen, wäre die nächste Phase eher ein Raketenstart zum Mond gewesen.

Im Oktober 2012 beschaffte sich Blue Bottle Coffee 20 Millionen Dollar von einer Investorengruppe aus dem Silicon Valley, darunter auch GV. James hatte viele Pläne für die Verwendung des Geldes, der naheliegendste war jedoch die Entwicklung eines besseren Onlineshops für den Verkauf frischer Kaffeebohnen. Blue Bottle war aber kein Technikunternehmen und James war kein Experte in Online-Einzelhandel. Wie konnte er den Zauber seiner Cafés auf Smartphones und Laptops übertragen?

Einige Wochen später, an einem strahlenden Dezembernachmittag, trafen sich Braden Kowitz und John Zeratsky mit James. Sie saßen an einem Bartresen, tranken Kaffee und sprachen über die Herausforderung. Der Onlineshop war wichtig für das Unternehmen. Um ihn gut hinzukriegen, waren Zeit und Geld nötig, und wo und wie sollte man anfangen? Mit anderen Worten, Blue Bottle Coffee klang nach dem perfekten Kandidaten für einen Sprint. James ließ sich darauf ein.

Braden, John und James überlegten, wer an dem Sprint teilnehmen sollte. Ein ganz klarer Kandidat war der Programmierer, der für die Einrichtung des Blue-Bottle-Onlineshops verantwortlich sein würde. James wollte aber auch den Vorstand für das operative Geschäft, den Finanzvorstand und den Kommunikationsmanager dabei haben. Außerdem lud er die Leiterin des Kundenservice ein, die Kundenfragen und -beschwerden behandelte, und sogar den Chairman Bryn Meehan – ein Einzelhandelsexperte, der in England eine Öko-Lebensmittelmarktkette gegründet hatte. Und natürlich würde James selbst am Sprint teilnehmen.

Der Onlineshop war im Wesentlichen ein Softwareprojekt, etwas, womit unser GV-Team sehr vertraut war. Aber diese Gruppe sah überhaupt nicht aus wie ein traditionelles Software-Team. Die Teilnehmer waren vielbeschäftigte Manager, die eine ganze Woche lang ihre wichtige Arbeit liegenlassen mussten. Würde der Sprint diese Zeit wert sein? Am Montagmorgen unserer Sprint-Woche traf sich das Blue-Bottle-Team in einem Konferenzraum der GV-Niederlassung in San Francisco. Wir zeichneten ein Diagramm auf ein Whiteboard, um darzustellen, wie die Kaffeekonsumenten sich möglicherweise durch den Onlineshop bewegten.

Das Blue-Bottle-Team konzentrierte sich auf einen Neukunden, der Kaffeebohnen kaufen wollte. James wollte, dass sich der Sprint auf dieses Szenario konzentrierte, weil es so schwierig war. Wenn es dem Unternehmen gelang, Glaubwürdigkeit zu erzielen und einem Neukunden, der noch nie zuvor von Blue Bottle gehört, geschweige dessen Cafés besucht und seinen Kaffee probiert hat, ein großartiges Kauferlebnis zu vermitteln, dann wäre jede andere Situation im Vergleich ein Spaziergang.

NEW YORK, NY - OCTOBER 24: The Blue Bottle coffee stand employees work on the High Line October 24, 2014 in New York City. Dr. Craig Spencer, who returned to New York from Guinea 10 days ago, tested positive for Ebola on October 23 and is now being cared for at Bellevue Hospital. Spencer, a member of Doctors Without Borders, visited the coffee stand after returning home. (Photo by Kena Betancur/Getty Images)

Wir standen vor einer großen Frage: Wie sollten wir die Kaffeesorten strukturieren? Der potenzielle Käufer in diesem Szenario würde ungefähr zwischen einem Dutzend Kaffeebohnen auswählen können, die jeweils in beinahe identischen Tüten angeboten wurden. Aber anders als im Blue-Bottle-Café gab es keinen Barista, der ihn beriet. Auf den ersten Blick schien die Lösung auf der Hand zu liegen. Von kleinen, exklusiven Kaffeeröstereien bis zu Massenunternehmen wie Starbucks neigen Einzelhändler dazu, Kaffee nach Anbauregion zu sortieren: Afrika, Lateinamerika, Pazifikregion. Kaffee aus Honduras versus Kaffee aus Äthiopien. Es wäre nur logisch, wenn Blue Bottle seine Bohnen genauso strukturieren würde.

„Ich muss etwas zugeben“, verkündete Braden. Alle sahen ihn an. „Ich stehe auf Kaffee, okay? Ich habe eine Waage und die ganzen diversen Accessoires zu Hause.“ Elektronische Waagen sind das Kennzeichen eines echten Kaffeefreaks. Mit der Waage konnte Braden das Wasser und die Kaffeebohnen abmessen, sodass er mit verschiedenen Mengenverhältnissen experimentieren konnte. Es geht hier um eine ganze Wissenschaft. Kaffeewaagen sind bis auf den Bruchteil eines Gramms präzise.

Braden grinste und hob hilflos die Hände. „Ich habe keine Ahnung, was die Regionen bedeuten.“ Daraufhin herrschte Stille. Wir vermieden es, James anzusehen. Immerhin wäre es möglich, dass Bradens tapferes Eingeständnis als Ketzertum gewertet würde.

»Das ist in Ordnung«, antwortete James. Die Schleusentore öffneten sich. John und Jake kannten die Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen auch nicht, noch kannte sie Daniel Burka. Wir tranken ständig zusammen Kaffee, aber niemand von uns hatte jemals seinen Mangel an Expertentum zugegeben.

Dann schnipste Serah Giarusso, Blue Bottles Kundenserviceleiterin, mit den Fingern. „Was machen wir in den Cafés?“ fragte sie. Die Baristas müssen ständig mit Kunden konfrontiert sein, denen es so ähnlich geht wie Braden: Ein Kunde möchte Kaffeebohnen kaufen, weiß aber nicht genau, welche.

James ist ein langsamer und bedächtiger Redner. Er legte eine kurze Pause ein, bevor er antwortete. „Die Brühmethode ist sehr wichtig“, sagte er. „Wir schulen die Baristas, damit sie den Kunden eine einfache Frage stellen: Wie bereiten Sie Ihren Kaffee zu Hause zu?“

James erklärte, je nachdem, ob der Kunde Filterkaffee von Hand überbrüht, einen Kaffeebereiter mit Presse benutzt, eine normale Kaffeemaschine oder irgendeine andere Methode verwendet, würde der Barista eine passende Kaffeebohne empfehlen.

„Wie bereiten Sie Ihren Kaffee zu Hause zu …?“, wiederholte Braden. Alle machten sich Notizen. James hatte den Sprint begonnen, indem er seine Vision darlegte: Der Onlineshop sollte genauso einladend und gastfreundlich sein wie die Cafés. Wir hatten das Gefühl, auf der richtigen Fährte zu sein.

BILD: GETTY IMAGES/KENA BETANCUR / Hannah Loeffler