Startups werden oft glorifiziert: Sie gelten als agil, jung, frisch, kreativ und sind vollgestellt mit Kickern, kostenlosem Bier und DJ-Pulten. Selten galt ein Berliner Internetgründer wohl als so hip wie in den vergangenen zwei Jahren. Die Tätigkeit in einem Startup bedeutet aber oft auch lange Arbeitstage, geringes Gehalt und befristete Arbeitsverhältnisse. Gleichen Startups eigentlich viel eher Sklavengaleeren im Dienste weniger Profiteure?

Startup Arbeitsbedingungen

Ein paar Dinge vorweg

Es ist wohl sinnvoll, vorweg in aller Kürze darauf hinzuweisen, dass die Startup-Zustände, die ich im folgenden skizziere, komplett meiner Wahrnehmung folgen. Ich kann sie nicht mit Zahlen belegen, habe keine Beweise, geheime Informanten oder Videoaufnahmen. Allerdings sind mir viele der Vorkommnisse, die ich hier zusammenstelle, entweder in meinem journalistischen Alltag begegnet oder ich wurde mit den entsprechenden Darstellungen konfrontiert. Ich schreibe über Extreme, die Wahrheit liegt wie immer sicher irgendwo dazwischen. Erst kürzlich machte mich ein Leser auf dieses Thema aufmerksam und ich habe einige seiner Überlegungen aufgegriffen, weil ich dieses Thema diskussionswürdig finde.

Wer kritisch über die Arbeitsbedingungen in Startups schreibt, muss sich darüber hinaus sicher auch die Frage gefallen lassen, wie es denn in seinem eigenen Startup aussieht. Ich bin der Meinung, dass Gründerszene und der dazugehörige Verlag Vertical Media versuchen, einen guten Mittelweg zu gehen. Wir setzen uns für unsere Mitarbeiter ein, helfen ihnen bei ihren Sorgen und achten darauf, dass es ihnen bei uns gut geht und dass das Arbeitsklima stets angenehm ist. Vergleicht man uns mit großen etablierten Medienkonzernen, ist unsere Gehaltsstrukur wohl nicht konkurrenzfähig, doch wir versuchen dies so gut es geht durch Anreize auf anderen Ebenen auszugleichen und das Wohlbefinden unserer Mitarbeiter steht für uns an erster Stelle.

Als noch junges Unternehmen müssen wir sicher auch an vielen Ecken sparen, doch freilich ist die Beschäftigung mit den Zuständen in Startups auch eine kritische Beschäftigung mit uns selbst. Die Startup-Zustände, über die ich schreibe, sind bei uns deshalb nicht in dieser krassen Form anzutreffen, denke ich.  Wie dies bei unserem Investor Team Europe (www.teameurope.net, an Gründerszene beteiligt) aussieht – denn diese Kommentare werden bestimmt auch wieder kommen –, vermag ich nicht abschließend zu beurteilen, aber auch dort scheint man mir auf eine faire Zusammenarbeit mit seinen Teams bedacht. Vermutlich sieht es auch in zahlreichen anderen Startups, die nicht direkt mit uns verbunden sind, anders aus, mir geht es aber um die Thematisierung einer stereotypen Haltung.

Startup-Realtität: Ackern bis der Arzt kommt

Schon in der vergangenen Woche habe ich einige kritische Töne zu der von mir eigentlich sehr geliebten Startupszene verlauten lassen: Unter dem Titel „Deutschlands Internetszene ist overhyped“ habe ich die Selbstbeweiräucherung einiger Gründungen thematisiert und mich für die Schaffung von mehr Fakten ausgesprochen. Ein anderes Thema, das mich in unserer Szene immer mal wieder bewegt sind die Arbeitsbedingungen. In Startups soll es ja oft Zustände geben, wie man sie sonst nur aus dem Agenturgeschäft kennt: Wer um 19 Uhr geht, wird gefragt, ob er denn Mittagspause mache. Immer wieder erlebe ich, dass Startups sich damit brüsten, dass bis über die Grenzen des Gesunden hinaus gearbeitet wird. 60-Stunden-Wochen sind in vielen Startups wohl weniger die Ausnahme als vielmehr die Regel.

Gerade bei meinen Recherchen rund um Groupon wurde mir wiederholt zugetragen, dass insbesondere in den strengen Samwer-Unternehmungen einige Mitarbeiter mit der Diagnose Burnout ausgestiegen seien. Sicher sind fordernde Arbeitsbedingungen nicht nur ein Samwer-Phänomen (womöglich nehmen sich alle Inkubatoren nicht wirklich viel) und letztlich ist die neue Volkskrankheit Burnout in der Startupszene womöglich keine Seltenheit. Erst kürzlich war ich Moderator eines Panels, in dessen Vorfeld auch der DailyDeal-Gründer Ferry Heilemann einen kurzen Vortrag hielt. Eines seiner Argumente darin besagte, dass wenn die intellektuelle Leistung zweier Unternehmen mehr oder minder dieselbe ist, nur die Arbeitsleistung über Erfolg oder Nichterfolg entscheiden könne. Mit einem gewissen Stolz erzählte er daraufhin, dass die ersten 50 Mitarbeiter von DailyDeal auch an Samstagen und Sonntagen mit dem Gründerteam arbeiteten. Ähnlich krude Arbeitszeiten hat auch Klarna-Gründer Sebastian Semiatkowski auf unserer Heureka-Konferenz präsentiert.

Ich mag Ferry gerne und sein Unternehmen ist hier nur ein Beispiel von vielen, aber angesichts solcher Aussagen neige ich manchmal dazu, vom Glauben abzufallen. Ich frage mich dann immer: Warum machen Menschen so etwas? Viele Gründer berichten mir, dass ihre Selbstständigkeit sie so sehr motiviert, dass sie es nicht als Arbeit empfinden. Gesund ist dies sicher nicht, aber nachvollziehbar. Doch was ist mit den zahlreichen „gewöhnlichen“ Mitarbeitern? Oft sind die Verträge begrenzt, Anteile nicht vorhanden und auch sonst ist das Startup-Geschäft alles andere als sicher. Was motiviert sie dann zu solchen Kraftakten? Ich habe oft den Eindruck, dass natürlich die Selbstverwirklichungsmöglichkeiten in einem Startup sehr attraktiv sind. Aber herrscht vielleicht bei vielen Mitarbeitern eine gewisse Verzweiflung vor? Hält sie die Angst vor der Arbeitslosigkeit in schlechten Jobs fest und lässt sie nichts neues finden? Ich erinnere nochmal an die von uns recherchierten Befunde zu Groupon. Jenseits dessen scheint es mittlerweile ja nahezu cool geworden zu sein, mal einen Burnout gehabt zu haben, immerhin ist er Beleg für die geleistete Arbeit.

Startup-Gehälter sind zumeist sehr niedrig

Die Arbeitsbedingungen in Startups sind zumeist also sehr fordernd, gleichzeitig werden nicht selten unverschämt niedrige Gehälter bezahlt. Startup-Gehälter sind oft niedriger als jene in Berufen die kein Studium erfordern oder wo nur ein Bruchteil der Arbeitszeit geleistet wird. Mitarbeiter in Vollzeit für 1.600 Euro brutto im Monat anzustellen oder Hochschulabsolventen als Dauer-Praktikanten für 400 Euro oder als Trainees für 1.000 Euro arbeiten zu lassen, ist in Startups sicher keine Seltenheit.

Mal eine Orientierung aus der aktuellen Rentendiskussion: Um nicht in Altersarmut zu geraten, wurde mir gesagt sollte ein Mitarbeiter über einen Zeitraum von 33 Jahren schätzungsweise mindestens 2.500 Euro brutto im Monat verdienen. Wie viele Mitarbeiter sind in Startups – ich sage nur Hire-and-Fire – über einen so langen Zeitraum mit entsprechendem Gehalt beschäftigt? Die Angestellten in einem Startup sind vielmehr oft in kurzfristigen Arbeitsverhältnissen beschäftigt oder arbeiten als Trainee oder Praktikant, was niedrige Löhne auf eine fixe Dauer für das Unternehmen sicherstellt.

Eines der Argumente für solche Gehaltszahlungen ist neben der ständigen Geldknappheit eines Startups (und dem damit assoziierten Klischee von Geiz und Improviation) gerne auch mal der Standort Berlin, welches als eine der billigsten Städte Europas gilt, wenn es um die Unterhaltskosten geht. Mal jenseits der Tatsache, dass es an und für sich ein unlogisches Argument ist, dass bei niedrigen Unterhaltskosten die eingesparten Gelder nicht ins Gehalt investiert werden, ist aber auch Berlin teurer geworden. Stadtteile wie Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain oder Kreuzberg sind mittlerweile stark im Preis gestiegen. Es scheint jedoch, dass sich bezüglich der Gehälter eine ähnliche Entwicklung nicht eingestellt hat. Dafür ist es in Berlin mit all seinen Universitäten, Fachhochschulen und Zuwanderern wohl schlichtweg zu leicht, günstige Mitarbeiter zu finden.

Monetäre Ungleichgewichte sind in Startups nicht selten

Und wie verhält es sich mit den höheren Positionen? Was ich so mitbekomme, werden Geschäftsführer und Schlüsselpersonen in Startups gerne mal deutlich besser als die „gewöhnlichen“ Mitarbeiter bezahlt. So soll Rocket Internet (www.rocket-internet.de) laut Informationen aus Universitätskreisen seinen Business-Neulingen angeblich bis zu 60.000 Euro Einstiegsgehalt, plus eine marginale Anteilsbeteiligung im Promillbereich anbieten – und das für Bachelorabsolventen. Viele etablierte Management-Mitarbeiter rufen in Startups sicher aber auch sechsstellige Gehälter auf. Sicher würden Rocket und andere Startup-Arbeitgeber ohne solche Gehälter viele potenzielle Mitarbeiter an McKinsey & Co. verlieren, einem schlechter bezahlten Mitarbeiter sind diese Diskrepanzen dennoch schwierig transparent zu machen.

Auch Programmierer erhalten gerade in der Hauptstadt Berlin, wo Entwickler vom Aussterben bedroht scheinen oder sich bereits in einem Startup-Zoo befinden, durchaus hohe Gehälter – schließlich steht um die Ecke schon der nächste Wettbewerber bereit, der die eigenen Mitarbeiter abwerben könnte. Es herrscht also ein merkliches Ungleichgewicht und viele junge Menschen werden durch eine solche Ausbeutung desillusioniert und verlassen die Startupszene mit einem schlechten Gefühl. Bei manchen Geschäftsmodellen stellt sich geradezu der Eindruck ein, dass diese auf der Ausbeutung der Mitarbeiter basieren – gerade in den Bereichen Logistik, Lager oder Kundenservice.

Startups bieten aber auch viel

Aber Startups bieten bei allem Diskussionsbedarf in Sachen Arbeitsbedingungen auch Vorteile, die nicht von der Hand zu weisen sind: Die Unternehmenskultur ist in Startups durch das intensive Zusammenarbeiten häufig sehr positiv geprägt und wer sich bewährt, kann in einem jungen Unternehmen auch schnell viel Verantwortung übernehmen und in der Organisationshierarchie voranschreiten. So lassen sich nicht nur in kurzer Zeit viele wichtige Erfahrungen machen, auch die eigene Vita bessert sich schnell auf – wenn denn die entsprechenden Voraussetzungen mitgebracht werden.

Dennoch hege ich manchmal auch die Befürchtung, dass diese Versprechen gepaart mit dem Argument der kategorischen Geldknappheit mitunter auch missbraucht werden, um Mitarbeiter für kleines Geld zu knechten. Denn wirklich aufsteigen scheinen mir doch oft eher wenige und dies womöglich auch eher aufgrund von Beziehungen. Vielleicht ist es am Ende aber auch eine Philosophiefrage: Wer sich umfangreiche Freiheiten, viel Verantwortung und gute Aufstiegschancen wünscht, ist in einem Startup womöglich genau richtig – sofern er oder sie sich von den schwarzen Schafen fernhält.

Fazit: Können Startups nicht anders?

Okay, ich war mal wieder ein wenig populistisch und habe hier ja auch alleinig mein Gedächtnis mit samt seines subjektiven Empfindens zitiert. Und die zahlreichen geschaffenen Jobs der Startupszene sprechen auch für sich und trotzdem kann ich die Phrase „Wir sind ein Startup, wir müssen [hier beliebig Prädikate wie „sparen“ einsetzen]“ nicht mehr hören. Und angesichts der Zustände, die ich hier skizziere, kommt sicherlich schnell die Frage nach der Nachhaltigkeit von Startups auf. Ohnehin denken viele von der Internetszene ja anscheinend als ein großer Durchlauferhitzer für Copycat-Ideen.

Vielen Startups tue ich womöglich unrecht und nun kommt das Gemeine: Es geht in einem deutschen Startup praktisch sogar fast nicht anders. Trotz allem Early-Stage-Kapital sind viele Startups auf lange Sicht unterfinanziert und die VC-Architektur der deutschen Internetszene macht Wachstum zum zentralen Ziel eines Startups. Das sich dies nicht unbedingt mit organischem Wachstum, gesunden Kostenstrukturen und typischen Arbeitsbedingungen verträgt, liegt wohl auf der Hand. Das macht das Ganze sicherlich nicht besser, schafft aber einen Kontext.

Es wird niemand gezwungen in einem Startup zu arbeiten und es gibt ja auch Argumente für die Arbeit in einem Startup (Gestaltungsspielraum, Flexibilität, Aufstiegschancen usw.) – ganz zu schweigen von der positiven Wirkung innovativer, junger Unternehmen für das gesamte Ökosystem. Wenn man nicht gerade bei einem der schwarzen Schafe arbeitet, geht diese Rechnung sicherlich oft auf. Trotzdem gehen mir typischen Startup-Klischees auf die Ketten, weshalb ich diese Zustände einmal thematisieren wollte. Bin ich vielleicht etwas zu kritisch aus meinem Urlaub wiedergekommen oder seht ihr dies ähnlich? Können Startups nicht anders und setzen deshalb nur auf den Tausch Erfahrungen gegen Arbeitskraft?

Über die Indivijoel-Kolumne:

“Indivijoel” ist die Kolumne von Gründerszenes Chefredakteur Joel Kaczmarek. Durch seinen Beruf und die damit verbundenen Inhalte sieht Joel quasi täglich Unternehmen von innen, tauscht sich mit den relevanten Akteuren der deutschen Webwirtschaft aus und kennt viele Facetten des Unternehmertums aus der Praxis. In seiner Kolumne möchte er daher sein Wissen und seine Ansichten teilen sowie relevante Themen der Gründerszene thematisieren. Ihr könnt Joel Kaczmarek auch bei Facebook folgen!

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