Ein Beitrag von Brigitte Ott-Göbel, Autorin des Buches „Vom Drachen zum Panda – Führen, Lehren und Lernen im modernen China“.

Der jüngste Fünf-Jahres-Plan der chinesischen Regierung hat unter anderem zum Inhalt, das Unternehmertum und speziell den Mittelstand zu stärken. Außerdem steht Innovationskraft hoch oben auf der Agenda der Regierung.

Aber was heißt das konkret? Gibt es einen Anstieg der Unternehmensgründungen, wer sind die jungen Unternehmer und hoffnungsvollen Startups und mit welchen Hindernissen und Schwierigkeiten haben sie zu kämpfen?

Im Vergleich zu ihren amerikanischen Altersgenossen gelten junge Chinesen bisher als risikoscheu. Doch das ändert sich gerade. Exakte Zahlen gibt es nicht, aber „die Zahl der Startups in China wächst“, sagt Jianbing Gao, Startup-Experte bei der Beratung PricewaterhouseCoopers (PwC) in Shanghai. Mit einem eigenen Unternehmen erfolgreich zu sein, statt als Angestellter zu arbeiten, wird immer attraktiver.

Internet und E-Commerce als Treiber

Die meisten Startups im Reich der Mitte tummeln sich im Internet und E-Commerce. Denn dort sind die technischen und finanziellen Schwellen für die Entwicklung eines guten Produktes am niedrigsten. Mehr als die Hälfte der 2012 gegründeten Unternehmen kamen aus dem Mobil- und E-Commerce-Bereich, berichtet das Handelsblatt. Und rund 70 Prozent der Wagnisfinanzierer investieren in Gründungen aus der Internet-Branche.

In China gibt es mit 700 Millionen die weltweit meisten Smartphone-Nutzer. Um deren Kaufverhalten und Konsummuster drehen sich die meisten Startup-Aktivitäten.

Ein Beispiel: Am 11.11 wird in China der „Singles Day“ gefeiert. Vier Einsen, die zwei Paar Essstäbchen ähneln, die für zwei alleinstehende Menschen stehen. Dieser Tag hat sich in den letzten Jahren zum absoluten Shopping-Highlight des Jahres entwickelt: Ab Mitternacht hängen Millionen junger Chinesen am Smartphone, Tablet oder PC und bestellen online.

Kein Wunder also, dass der Online-Gigant Alibaba Rekordumsätze meldet. Auf den Online-Plattformen Taobao und T-Mall wurden innerhalb von zwölf Stunden, also bis zur Mittagszeit des 11.11.2015 8,34 Milliarden Euro Umsatz gemacht. Nach 12 Minuten waren es bereits 1,46 Milliarden Euro. Von den Käufen wurden 71 Prozent von Mobilgeräten aus getätigt. Am Ende des Tages waren es allein für Alibaba 13,3 Milliarden Euro Umsatz. Die meistgekauften Artikel: Milch, Honig, Nüsse, Mobiltelefone, Autos und Kondome.

Alibaba – eine Erfolgsstory

Alibaba und sein Gründer Jack Ma sind Namen, die die Augen vieler junger Chinesen aufleuchten lassen. Der ehemalige Englischlehrer aus Hangzhou schrieb eine Erfolgsgeschichte wie im Bilderbuch: 1999 gründete er – 35 Jahre alt und inspiriert durch einen USA-Aufenthalt, wo er den Aufstieg des Online-Business erlebte – Alibaba.com, eine B2B-Plattform. 2003 folgte Taobao.com, später T-Mall. In den kommenden zehn Jahren sollte es die größte Online-Handelsplattform der Welt werden. Mit Alipay schuf er den mittlerweile weltgrößten Online-Bezahldienst.

Jack Ma war beim letzten Wirtschaftsgipfel in Davos der am meisten gefragte Gesprächspartner der westlichen Wirtschaftsbosse, seit Oktober 2015 berät er den britischen Premier David Cameron. Ma steht für den Aufstieg von innovativem Unternehmertum in China. Mit Alibaba hat er China zur größten Nation im Online-Handel gemacht.

Und: Alibaba ist an Dutzenden Online-Startups beteiligt, von Filmportalen über Finanzdienstleister bis hin zu Taxi-App-Anbietern auf Smartphones. Jüngst hat er die traditionsreiche Hongkonger Zeitung „South China Morning Post“ gekauft, die unter Journalisten als „Fenster zu China“ gilt.

Die Konkurrenten von Alibaba heißen Tencent, dem der größte chinesische Messaging-Dienst We-Chat gehört, sowie die Suchmaschinenfirma Baidu. Für Jianbing Gao von PwC stellt die drückende Dominanz von Baidu, Alibaba und Tencent ein Hindernis für die Szene dar: „China fehlt es nicht am Unternehmertum, in den nächsten Jahren werden viele interessante Startups entstehen. Die Frage ist nur: Schafft es eines von ihnen, groß zu werden?“

Coffee Shops als Inkubatoren

Chinesische Gründer haben mit vielfachen Schwierigkeiten zu kämpfen: finanzielle Ressourcen, Marktzugang, Internet-Zensur, unternehmerisches Know-how und Fähigkeiten. Wo finden sie Unterstützung?

Zum Beispiel im Café. Nicht im typischen Coffee-Shop oder in einem der zahlreich aus dem Boden schießenden Starbucks-Filialen. Mit Cheku und ähnlichen Anbietern entstanden in Beijing und Shanghai Coffee-Shops, die jungen Gründern als Arbeitsplatz dienen.

In einem Fernsehbericht wurde vor Kurzem im Staatsfernsehen China Central Television (CCTV) darüber berichtet: Die Cafés bieten Arbeitsplätze, Ressourcen wie schnelle Internetleitungen und Drucker zu niedrigen Kosten, Möglichkeiten zum Networking sowie eine unternehmerische Kultur und Atmosphäre. Das Garage Café bietet sogar kostenlose Seminare und Events an, die wiederum Investoren anlocken sollen. Junge Unternehmer schätzen die kreative Atmosphäre, den Austausch mit anderen Gründern und hoffen auf den Durchbruch mit dem nächsten Alibaba. Oder eine Nummer kleiner.

In welcher Lebensphase gründen Chinesen?

Jack Ma war Anfang 30, als er vom Lehrerberuf in die Selbständigkeit ging. Das ist eher spät, verglichen mit Gründern von heute. Typischerweise arbeiten die jungen Chinesen nach dem Studium an einer chinesischen oder westlichen Universität ein paar Jahre als Angestellter und sammeln so Berufserfahrung. Der Sprung in die Selbständigkeit erfolgt dann mit Mitte bis Ende zwanzig.

Nicht untypisch ist es, mit den Kommilitonen aus dem Studium zusammen ein Unternehmen zu gründen. Wenn Chinesen im Ausland studiert haben, ist mit der Frage der Berufstätigkeit nach dem Studium immer auch die Frage nach der Rückkehr nach China verbunden.

Aus den Erzählungen meiner Studenten weiß ich, wie stark der Druck ist, den die Eltern ausüben: „Komm zurück, suche Dir hier einen guten Job, suche Dir einen Ehepartner“. In China ist der Respekt und die Verpflichtung den Eltern gegenüber riesengroß und hat einen bedeutenden Einfluss auf die Lebens- und damit auch die Berufsplanung.

Zwei Gründergeschichten

Einige Nummern kleiner als Jack Ma hat Bella Song gegründet: die 30-jährige, die ihren Master in International Business an der University of Manchester machte und tadelloses Englisch spricht, war zunächst in einer Eventagentur angestellt. Ein gut bezahlter Job, der ihr Spaß machte und sie ausfüllte.

Dennoch wollte sie mehr: mehr Freiheit, mehr Möglichkeiten, die eigenen Ideen zu verwirklichen. So gründete sie 2013 ihr eigenes Schmuckunternehmen, das ihren Namen trägt: Bella. Sie beginnt mit dem Online-Verkauf ihrer Schmuckstücke auf We-Chat und Taobao und sammelt zwei Jahre lang Erfahrungen.

Als sie genügend Kunden hat und merkt, dass sie von ihrem Business leben kann, wagt sie den Sprung in die Selbständigkeit und kündigt ihren Job bei der Agentur. Was sagten ihre Eltern dazu? „Die waren darüber nicht glücklich. Einen sicheren Job zu verlassen nach fast 10 Jahren Berufserfahrung fanden sie nicht gut.“

Trotzdem unterstützte die Familie Song finanziell und auch das ist typisch für chinesische Gründer: statt Geld von der Bank leiht man sich Geld von der Familie. Songs Geschäft entwickelte sich gut und so bewies sie noch ein zweites Mal Mut: mitten in der von vielen beschworenen „Konsumkrise“ Chinas erwarb sie einen Laden im angesagten Shanghaier Viertel French Concession und verkauft nun dort mit Hilfe ihres Ehemanns ihre Halsketten, Armreife und Ringe.

„Wenn du in wirtschaftlich schwierigen Zeiten überlebst, dann bist du der Gewinner, wenn die Wirtschaft anzieht“, findet Song. Sie plant, einen weiteren Shop zu eröffnen, vielleicht im Jingan Viertel, einem belebten Einkaufsviertel.

Songs Story ist nicht untypisch für chinesische Gründer. Christoph Daniel Jia, der seit 2006 mit seiner chinesischen Frau in Shanghai lebt und das Beratungsunternehmen Linya International gegründet hat, kann mehrere Geschichten von erfolgreichen Gründungen junger chinesischer Kollegen erzählen. Zum Beispiel vom Freund seiner Frau, der nach zwei Jahren 600 Angestellte hat. Er vertreibt Früchte im Online-Handel und liefert nach Hause. Mit seinen Studienfreunden hat er das Geschäft aufgebaut.

Oder die Geschichte von Haijie, seinem ehemaligen Angestellten. Dieser hatte in Hangzhou an der Academy of Fine Arts Innenarchitektur studiert und war nach Deutschland gekommen. Gemeinsam mit Studienkollegen gründete er zunächst in Deutschland eine Interior-Design-Firma. Dann ging er zurück nach China, arbeitete einige Jahre in einer Agentur für räumliche Kommunikation und gründete dann mit den „alten Kumpels“ sein Architektur- und Kreativbüro. Wenn man ihn heute trifft – in seinem hippen Büro-Loft in einem ehemaligen Fabrikgebäude im Norden Shanghais – dann könnte man sich ihn und sein Team auch in Berlin oder Amsterdam vorstellen.

Song und Haijie sind kein Einzelfall: Immerhin denken 91 Prozent der Chinesen positiv über freies Unternehmertum – im Vergleich zu 76 Prozent weltweit. Und dieser Spirit ist in China durchaus zu spüren. Doch leider gibt es auch für Gründer in China viele Hindernisse. Die größten sind – ähnlich wie im Westen – der Zugang zu Kapital, aber auch Ausbildung und mangelnde Möglichkeiten, über Unternehmertum zu lernen.

Bild: Gettyimages / dowell; weitere Quellen: China Daily, 12.11.2015; „Reich werden im Kommunismus“, Handelsblatt 26.10.2014; Handelsblatt, 26.10.2014; CCTV vom 17. November 2015.