Genug gejammert, Zeit zum Aufbruch! Beim Münchner Digitalgipfel DLD haben die Macher das Motto „Reconquer“ ausgerufen – und wollen dazu ermuntern, die Zukunft zurückzuerobern, die Europa davon geeilt zu sein scheint. Wohl deshalb hat Außenminister Sigmar Gabriel zum Auftakt am Samstag in seiner Eröffnungsrede noch einmal die bösen Geister beschworen, warnte vor übermächtigen Tech-Riesen aus Amerika, aber auch vor einem digitalen Feldzug Chinas.

„Ein neues Ringen um Macht hat begonnen, und Technologie nimmt eine Schlüsselstellung ein“, sagt Gabriel. Wenn Europa nicht von anderen dominiert werden wolle, müsse der in vielem zerstrittene Kontinent endlich schneller handeln und die Lücke zu den anderen schließen. „Wir besitzen nicht gerade einen Vorsprung“, räumt Gabriel ein. Höchste Zeit für Europa, „Wandel nicht nur zu akzeptieren, sondern begeistert zu umarmen“.

Der Appell, mehr Mut zu zeigen, mehr Einheit, und sich nicht zu verstecken, zieht sich durch zahlreiche Diskussionen bei der DLD. „Wir haben ein tolles Team zusammengestellt“, erklärt etwa Transferwise-Mitgründer Taavet Hinrikus mit Blick auf erfolgreiche Digitalfirmen wie Spotify, Zalando und seinen eigenes Fintech-Startup aus London. „Jetzt ist die Frage, was wir tun müssen, um den World Cup zu gewinnen.“

Immer wieder weisen Redner darauf hin, dass Europas vermeintliche Schwächen auch Stärken sein könnten: das Multikulturelle, die Vielsprachigkeit, ja selbst die vielen Vorschriften. „Regulierung könnte zum Wettbewerbsvorteil werden“, sagt Tom Wehmeier, Partner bei der Investorengruppe Atomico – schließlich verlangten autonome Fahrzeuge, das Internet der Dinge oder neue Gesundheits-Anwendungen mehr Sorgfalt als der Aufbau eines sozialen Netzwerks.

Auch die Autoren eines Thesenpapiers zu den Auswirkungen Künstlicher Intelligenz (KI) auf Veränderungen im internationalen Machtgefüge sehen bisher unerkannte Chancen für Europa im Wettbewerb um Top-Entwickler. Zugleich aber warnen die Sozialforscher vom Berliner Think-Tank Stiftung Neue Verantwortung, weiterhin Zeit zu verlieren – andernfalls könnten Deutschland und seine Nachbarn bei einer der entscheidenden Zukunftstechnologien von China und den USA abhängig werden. WIRED hat mit Stefan Heumann gesprochen, Mitgeschäftsführer des Think-Tanks und einer der Autoren des Berichts.

Wenn man Ihre Studie liest, kann man den Eindruck bekommen, Künstliche Intelligenz sei eine enorme Bedrohung für die Welt. Warum?

Es gibt große Chancen, über die auch viel gesprochen wird, aber wir sehen auch internationale Konflikte, die auf uns zukommen. Wir sehen eine Bedrohung für unsere öffentlichen Diskurse im Bereich Desinformation und Informationskrieg. Wir sehen die Gefahr autonomer Waffensysteme, die bestehende militärische Konventionen in Frage stellen. Und wir sehen eine Bedrohung für unseren Wohlstand, weil KI eine zentrale Zukunftstechnologie ist – wenn wir die nicht beherrschen, geraten wir im internationalen Wettbewerb ins Hintertreffen.

Wo ist der Handlungsdruck am größten?

Das ist schwer abzuwägen. Alle drei Bereiche brauchen mehr Aufmerksamkeit. In Wirtschaft und Gesellschaft sehen wir ein Wettrennen um die Beherrschung dieser neuen Schlüsseltechnologie – vor allem zwischen den Vereinigten Staaten und China. In den USA wird das Thema sehr stark von den großen Technologiefirmen vorangetrieben. Die „großen Fünf“, also Facebook, Google, Microsoft, Apple und Amazon investieren massiv in Künstliche Intelligenz. Und China hat gerade einen Masterplan für Künstliche Intelligenz vorgestellt. Bis 2030 will der Staat die globale Führerschaft erreichen.

Wo bleibt Europa?

Firmen wie Bosch bauen eigene Forschungszentren auf, Regierungen betreiben Förderungsprogramme. Natürlich will auch Europa diese Schlüsseltechnologie beherrschen, weil die Befürchtung besteht, von den USA oder China abhängig zu werden. Diese Gefahr ist beträchtlich.

Obwohl die Technologiewelt ständig über die Bedeutung von KI redet?

Experten sehen natürlich schon, dass Künstliche Intelligenz im internationalen Wettbewerb ein enorm wichtiges strategisches Thema ist. Aber vor allem in der Politik ist die Bedeutung noch nicht ausreichend verstanden worden. Die etablierten Institutionen tun sich nach wie vor schwer, schnell auf solche Veränderungen zu reagieren – genau wie bei der Digitalisierung selbst. Wichtig wären andere Organisationsformen, netzwerkartige Strukturen, die weniger hierarchisch sind und schnelleres Reagieren ermöglichen.

Welche Verschiebungen im internationalen Machtgefüge wird KI bringen?

Wir haben die Situation, dass die USA geschwächt sind und China nicht mehr so entschieden begegnen wie in der Vergangenheit. Europa hat bisher versucht, China mit einzubinden, und ich glaube, auch China ist an diesem Austausch, an guten Beziehungen zum Westen, gelegen. Aber es ist natürlich denkbar, dass eine neue Führung in Beijing mehr auf Konfrontation setzt – und das, verknüpft mit höheren technologischen Fähigkeiten, setzt uns schon unter Druck.

Warum macht China Ihnen so viele Sorgen?

Ein großes Problem ist, dass diese Technologien für Dinge wie das social scoring eingesetzt werden, also Überwachung und Zensur – und damit in Bereichen, die nicht unseren Werten entsprechen. Dazu kommt, dass chinesische Firmen, die diese Kompetenz haben, jetzt auch auf den europäischen Markt drängen. Zum Beispiel bietet WeChat seinen Bezahldienst neuerdings in Deutschland an. Wenn wir sagen, wir lehnen es ab, wie KI von chinesischen Firmen eingesetzt wird, dann müssen wir eigene Kompetenzen aufbauen und eigene Lösungen entwickeln.

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Könnte die Welt durch smarte Algorithmen nicht auch sicherer werden? Etwa, weil KI uns hilft, bessere außenpolitische Entscheidungen zu treffen?

In der Früherkennung von Krisen kann Künstliche Intelligenz fraglos eine Rolle spielen. Mit Big-Data-Analysen lässt sich zum Beispiel sagen, ob die Lage in einem Land stabil ist. Ähnlich, wie Google an Suchanfragen merkt, ob gerade eine Grippewelle ausbricht, kann man soziale Medien oder Presseberichte auswerten, um zu sehen: Was passiert da gerade? Auf diese Weise bekommt man ein ganz anderes Bild, als es sich einzelne Analysten in der Botschaft machen können. Andererseits entstehen dadurch auch ganz neue Möglichkeiten der Manipulation.

Inwiefern?

Wenn andere Akteure so ein Frühwarnsystem gut genug kennen, können sie gezielt Fehlinformationen streuen und versuchen, die Algorithmen mit falschen Indikatoren zu füttern, sodass wir falsche Schlüsse ziehen.

Künstliche Intelligenz als Wunderwaffe im Informationskrieg?

Ja, auf jeden Fall. Darin steckt eine große Bedrohung für uns, und das Thema müsste dringend angesprochen werden. Es wäre gut, wenn ein Außenminister wie Sigmar Gabriel dazu mal eine Rede halten und sagen würde: „So etwas können wir nicht akzeptieren!“ Diese Diskussion anzustoßen wäre eine wichtige Aufgabe für die Außenpolitik, denn die Manipulation der öffentlichen Meinung über Bots und Künstliche Intelligenz wird bisher nicht ausreichend als internationales Thema erkannt.

Kommt dabei mehr als bloßes Gerede heraus? Braucht man nicht zum Beispiel „White Hat“-Hacker, die versuchen, gegen die Manipulationsversuche zu kämpfen?

Das eine schließt das andere ja nicht aus. Die Bedeutung von Gesprächen wird aber oft unterschätzt. Wichtige Institutionen wie die UN, aber auch Abrüstungsverträge oder internationale Menschenrechtskoventionen verdanken wir dem miteinander Reden. Natürlich können wir kein Land davon abhalten, bestimmte Technologien weiterzuentwickeln. Aber wir signalisieren damit ganz klar, dass das Kosten mit sich bringt und dass wir darauf reagieren werden. Zum Beispiel kann man die Hypothese aufstellen, dass die Diskussion um die mögliche Einflussnahme Russlands auf den US-Wahlkampf dazu geführt hat, dass die Russen sich bei den Bundestagswahlen in Deutschland zurückgehalten haben.

Führende KI-Forscher verlangen die Ächtung von Killerdrohnen und ähnlichen autonomen Waffensystemen. Selbst wenn das gelänge: Wie lässt sich verhindern, dass solche Waffen in die Hände von Terroristen geraten?

Auf diese Frage gibt es keine einfachen Antworten. Wir können nicht einfach Drohnen verbieten. Sie werden weiterentwickelt, weil sie einen hohen kommerziellen Nutzen haben. Aber wenn Staaten sich einig sind, dass sie solche Waffensysteme von Terroristen fernhalten wollen, dann sind sie in der Regel auch gut darin, dafür Lösungen zu entwickeln. Nach dem 11. September 2001 gab es viele Spekulationen, dass Terroristen eine dirty bomb mit atomarem Material zünden würden. Oder dass sie an biologische Kampfstoffe kommen könnten. Beides ist nicht passiert.

Kann uns das wirklich beruhigen? Schließlich ist es viel leichter, eine Drohne mit Waffen zu bestücken, als eine Atombombe zu bauen.

Am Ende sind auch Killerdrohnen erst in großen Massen wirklich gefährlich. Einen ganzen Schwarm solcher Geräte zu bauen und zu steuern wäre deutlich aufwändiger, als eine einzelne mit Waffen zu bestücken. Deshalb glaube ich, dass die größten Herausforderungen im militärischen Einsatz liegen, weil Staaten ganz andere Ressourcen und Entwicklungsmöglichkeiten haben. Einzelne Terrorangriffe werden wir nicht ausschließen können, sollten aber auch nicht unnötig Horrorszenarien an die Wand malen.

Ob wirtschaftlich oder politisch gesehen: Am Ende gewinnt das Land mit den besten KI-Experten?

Es gibt einen enormen Wettbewerb um Top-Experten – und darin besteht aus meiner Sicht auch eine Chance für Europa, über die zu wenig gesprochen wird. China versucht gerade, Informatiker und Ingenieure, die zum Studium in die USA gegangen sind und dort Karriere gemacht haben, in das eigene Land zurückzuholen. Der Staat umwirbt diese Leute, bezahlt ihnen sehr viel Geld und gibt ihnen Ressourcen zur Forschung, die es attraktiv machen sollen, wieder nach China zu kommen. Es gibt auch eine ganze Reihe von prominenten Fällen, in denen das funktioniert hat.

Und Europa sollte Ähnliches tun?

Heumann: Ja, denn Europa gilt durchaus als attraktive Region für Experten aus aller Welt. Man kann in Wohlstand leben, es gibt freiheitliche Werte, Demokratie und natürlich Ressourcen, um diesen Leuten attraktive Forschungsmöglichkeiten anzubieten. Das ist eine Chance, die in Europa noch nicht ausreichend erkannt worden ist.

Bisher gilt eher Amerika als Garten Eden für aufstrebende Forscher und Unternehmer.

Die USA führen aber im Moment eine Diskussion um Einwanderung, die nicht ohne Grund das Silicon Valley sehr beunruhigt, weil viele Firmen dort von internationalen Experten abhängig sind. Wenn dieser Fluss versiegt, wird das die USA massiv schwächen.

Was muss in Europa geschehen, um diese Chance zu nutzen?

Wir sollten mit Selbstbewusstsein unsere Stärken hervorheben und attraktive Arbeitsbedingungen für KI-Forscher aus aller Welt schaffen. Was Google und Facebook für viele Topleute so interessant macht, sind ja nicht nur die Gehälter und der schicke Campus, sondern auch die enormen Datenmengen, die zum Rohstoff für viele Projekte werden. Wir digitalisieren gerade unsere Industrie. Auch dabei fallen Petabytes an Daten an, etwa wenn Autos und Fabriken beginnen, miteinander zu kommunizieren. Damit bekommen auch deutsche Unternehmen solch riesige Datensätze – und vielleicht ist es für viele Forscher attraktiver, mit solchen Maschinendaten zu arbeiten, um Logistik und Produktion zu optimieren, als sich darüber Gedanken zu machen: Wie kann ich aus Surfprotokollen und anderen persönlichen Daten die Nutzerinteressen herauslesen, um Werbung zu verkaufen?

Bisher ist von diesem Ansatz wenig zu sehen.

Auch das müsste man offensiver kommunizieren. Wir könnten zum Beispiel sagen: „Uns geht es nicht darum, Menschen zu überwachen und in die Privatsphäre einzudringen. Wir verfolgen einen anderen Ansatz, um Künstliche Intelligenz nützlich zu machen.“ Aber das fehlt bisher. Die Attraktivität, die Europa für führende KI-Forscher besitzt, wurde noch nicht ausreichend erkannt.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Wired.de.

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