Blick in das Headquarter von Twitter in San Francisco

Für das soziale Netzwerk Twitter verläuft der Start ins Jahr 2016 katastrophal: CEO Jack Dorsey verlor am Sonntagabend fünf Schlüsselfiguren seines Management-Teams, darunter Produktchef Kevin Weil, Inhaltechefin Katie Jacobs Stanton und Chefprogrammierer Alex Roetter.

Jason Toff, Chef der Videotochter Vine, verkündete am Sonntag, dass er von Google für deren Virtual-Reality-Projekt abgeworben wurde. Personalchef Brian Schipper hielt angesichts dieses Exodus an Toptalenten ebenfalls nichts mehr auf seinem Sessel.

Dorsey selbst bestätigte die Kündigungswelle am Sonntagabend per Tweet, zuvor hatte das US-Fachportal ReCode als Erster über die Managerabgänge berichtet. Dorsey betonte in seinem Tweet, dass die Manager auf eigenen Wunsch die Firma verlassen – einige US-Medien hatten geschrieben, Dorsey hätte sie angesichts von Twitters bescheidener Performance der letzten Monate allesamt gefeuert.

Auch die Ex-Manager bemühen sich, in ihren Abschieds-Tweets eine heile Welt zu kommunizieren: Weil betonte, er wolle mehr Zeit für seine Familie haben, und Jacobs Stanton veröffentlichte einen eigenen Blogpost auf medium.com unter dem Titel „Es ist an der Zeit …“ mit derselben Begründung. Doch ganz glücklich scheint sie mit ihrem Ausstieg nach über fünf Jahren bei Twitter nicht: Spät am Sonntagabend fragte sie auf Twitter nur halb scherzhaft nach einem Tipp für wasserfestes Mascara – „für eine Freundin“.

Der tiefe Fall der Twitter-Aktie

Egal, ob die fünf Topleute freiwillig gingen oder gefeuert wurden: Jack Dorsey steht in jedem Fall schlecht da. Alle Manager waren mit Schlüsselprojekten betraut, die Twitter mehr Nutzer verschaffen sollen: Jacobs Stanton sollte Partnerschaften mit klassischen Medien voranbringen, um Twitter bekannter und attraktiver zu machen.

Weil war zuletzt mit dem „Moments“-Projekt beschäftigt, das bei Großveranstaltungen, aber auch bei aktuellen Nachrichtenlagen Medieninhalte im Netzwerk zusammenfassen und aufbereiten soll. Zu dieser einheitlichen Medienstrategie gehörte auch die Videotochter Vine, deren Chef zu Google wechselt. Wenn alle dafür verantwortlichen Manager gleichzeitig abrupt gehen oder gehen müssen, kann es um das Zukunftsprojekt nicht allzu gut bestellt sein.

Die Twitter-Aktie stürzte wegen der schlechten Performance des Unternehmens auf neue Tiefen, sie fiel in den vergangenen Monaten von 50 auf 15 Dollar. Der Kurs war so niedrig, dass Twitter Anfang Januar bereits als potenzielles Übernahmeziel von Facebook oder Google gehandelt wurde.

Bereits im Oktober hatte Dorsey rund 330 Mitarbeiter gefeuert – das entspricht rund acht Prozent der Belegschaft –, darunter auch Softwareingenieure und Entwickler aus den Teams von Weil und Roetter. Dorsey schrieb damals in einer Mail, er wolle die Firma schlanker und schneller machen. Insbesondere das Entwicklungsteam soll künftig flinker auf Marktanforderungen reagieren.

„Ich glaube, dass die Produktentwicklung in einem kleinen und dynamischeren Team deutlich schneller sein wird“, kommentierte Dorsey seine Pläne. Diese Idee scheint mit dem restlichen Management nicht abgestimmt gewesen zu sein. Nun müssen Operations-Vorstand Adam Bain und Technikvorstand Adam Messin die zusätzliche Arbeitslast schultern, bis Dorsey neue Managertalente gefunden hat.

Noch weit weg von Facebook

Das jedoch – darauf deutet auch der Abschied von Personalchef Schipper – könnte schwierig werden: Twitter steht aktuell unter Beschuss von Analysten und Investoren, da Twitter-Gründer Dorsey seit seinem Wiederantritt als Chef im vergangenen Jahr bislang keine klare Strategie für weiteres Wachstum vorlegen konnte: Die Zahl der Nutzer stagniert bei 300 Millionen, während Konkurrenten wie die Facebook-Tochter Instagram davonziehen.

Twitters größtes Problem ist vielleicht die Diskrepanz der Interessen der alten und neuen Nutzer: Viele neu registrierte Gelegenheitsanwender scheitern daran, für sie relevante Inhalte zu finden. Sie suchen Orientierung oder Inhaltefilter à la Facebook, für sie wäre eine Zusammenfassung von relevanten Tweets und Medieninhalten in „Twitter Moments“ extrem hilfreich.

Gleichzeitig warnt die auf Twitter aktive weltweite Nutzerelite von Medien-, Wissenschafts- und IT-Profis davor, das Netzwerk zu boulevardisieren oder das strikte Prinzip der chronologischen Darstellung von Inhalten zugunsten eines Inhaltefilters aufzugeben.

Anfang Dezember fragte Twitter per neu eingeführter Umfragefunktion seine Nutzer, wofür sie den Dienst eigentlich nutzen. Die Antwortmöglichkeiten waren „Prominenten folgen“, „sich selbst promoten“, „nach Werbeangeboten und Deals suchen“ und „mehr über Twitter lernen“.

Die Umfrage wie auch die belustigten Reaktionen der Nutzer darauf zeigen, dass Twitter selbst nicht wahrhaben will, dass seine aktivsten Nutzer Twitter vor allem als ein professionelles Informations- und Nachrichtennetzwerk nutzen. Vom Massen-Social-Networking à la Facebook ist Twitter weit entfernt.

Genau das jedoch will Dorsey seinen Investoren weismachen: Twitter soll unbedingt Mainstream werden und die Nerd-Ecke verlassen, wünscht sich Dorsey – und bürstet damit die Firma gegen den Strich. Kleine Indizien deuten darauf hin, dass Twitter selbst nicht weiß, warum es attraktiv für neue Nutzer sein könnte.

Nutzer fordern seit Jahren Änderungen

Neue Nutzer bekommen neuerdings eine Auswahlliste potenzieller Interessen – sie können anklicken, ob sie Prominente mögen, Musikstars folgen oder witzige Tweets sehen wollen. Die Optionen Wissenschaft oder Technik fehlen.

Dorsey muss nun schnellstmöglich neue Manager finden, die die Frage nach dem Nutzerwillen zuverlässig beantworten können. Einem ReCode-Bericht zufolge hat Dorsey bereits eine Kandidatin für das Amt der Medien- und Marketingchefin: Leslie Berland, bislang Marketingchefin bei American Express, könnte künftig Twitters Medienkooperationen managen.

Wichtiger jedoch dürften die Posten der Produkt- und Programmierchefs sein. Ein neuer Produktchef müsste endlich entscheiden, welche Neuerungen Twitter bei den neuen Nutzern attraktiver machen und welche die wichtigen Twitter-Profis vergraulen würden. Die Nutzer selbst fordern seit Jahren wichtige Änderungen ein, die nicht umgesetzt werden: Medien-Links und Bilder etwa lassen sich nur einbinden, wenn dafür auf Text aus den so knappen 140 Zeichen verzichtet wird.

Dorsey selbst deutete die vielleicht wichtigste Neuerung vor einigen Wochen in einem Tweet bereits an: Künftig könnte die 140-Zeichen-Beschränkung in dem Netzwerk fallen – bis zu 10.000 Zeichen per Tweet wären möglich. Ob das Kurznachrichten-Netzwerk sich jedoch allein damit, dass es Facebook noch ähnlicher wird, aus dem aktuellen Tief befreien kann, erscheint zweifelhaft.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Welt Online

Bild: Twitter