Das waren noch Zeiten, als sich Menschenmassen nachts in langen Reihen vor Computerläden drängten, um die begehrte Kopie einer Microsoft-Software zu ergattern. Es war Sommer, es war 1995, Coolio rappte „Gangsta’s Paradise“, Deutschland wurde von einer Techno-Welle überschwemmt.

Eine Zeit des Umbruchs: In den USA regiert Bill Clinton, in Deutschland Helmut Kohl. Während Erstgenannter in seinem Präsidentschaftswahlkampf den „Information Highway“ anpreist, verweist Kohl 1994 bei der Frage nach dem Ausbau der „Datenautobahn“ auf die Länder – schließlich seien Autobahnen ja auch Ländersache.

Noch unberührt von Terrorangst im Westen, wabert die Stimmung zwischen grenzenlosem Hedonismus, Konsumgeilheit und einer großen Aufgeregtheit angesichts der sich anbahnenden Internet-Revolution. In der ARD-Sendung „Boulevard Bio“ demonstrieren damals junge Menschen, wie Cybersex mit Virtual-Reality-Brillen und -Handschuhen funktioniert. So stellt man sich damals in breiten Teilen der Bevölkerung die Ära des „Cyberspace“ vor.

In diese Zeit platzt zu den Klängen des Rolling-Stones-Songs „Start me up“ Windows 95. „Where do you want to go today?“, fragt Microsoft damals in den allgegenwärtigen Fernsehspots.

Der PC, wie wir ihn kennen, fing mit Windows 95 an

Und tatsächlich läutet 1995 die Ära ein, in der Microsoft seine Stellung als unumstrittene PC-Macht zementiert und der PC endgültig zu einem Massenprodukt wird. Das Jahr 1995 ist damit in vielerlei Hinsicht das Jahr der Erfindung des PCs, wie wir ihn bis heute kennen, schätzen und manchmal auch hassen.

Damals lag Microsofts Konkurrent Apple am Boden, und die Ära der Heimcomputer von C64 bis Amiga und Atari war vorbei. Microsofts Windows war übrig geblieben – es dominierte auf dem Computer, egal ob zu Hause oder auf der Arbeit. Microsoft hielt damals einen Marktanteil von über 95 Prozent.

Rund ein halbes Jahrzehnt nach dem Ende des Kalten Krieges schien damit auch die Systemfrage der Betriebssysteme entschieden zu sein. „Ich musste das einfach kaufen“, sagte damals ein junger Mann dem lokalen Fernsehsender in Seattle. Das Kuriose daran: Er besaß noch nicht einmal einen PC. „Es ist so hip“, sagte er dem verdutzen Live-Reporter. Windows 95 – das iPhone dieser Zeit.

Sogar der Computerzeitschrift „c’t“ kam der Hype seltsam vor. „Die halbe Welt steht Kopf“, wunderte sich das Zentralorgan der deutschen Nerds damals: „Ob im Funk, Fernsehen oder in der Zeitung, niemand kann den angeblichen Vorzügen von Windows 95 entgehen.“

Bluescreen, Startmenü, Doppelklick – und Abstürze

Doch so wie Apple heute von vielen aufgrund seiner iPhone-Dominanz sowohl bewundert als auch gehasst wird, sorgte damals auch Microsoft, personifiziert durch Co-Gründer und CEO Bill Gates, nicht nur für Begeisterung. In den Büros und Wohnzimmern waren Flüche gen Redmond an der Tagesordnung. Abstürze im Gewand des Bluescreens waren auf den flimmernden Röhrenmonitoren ein gewohnter Anblick. Stürzte ein Windows-95-Programm ab – und Programme stürzten damals durchaus häufiger ab –, musste nicht selten der gesamte PC neu gestartet werden.

„Plug & Play“, das Versprechen, dass Hardware nach dem Anschließen sich die benötigten Treiber selbst installiert, blieb genau das: ein noch lange uneingelöstes Versprechen. Und letztlich war Windows – anders als beispielsweise das Großrechner-System Unix – weder für den Mehrbenutzer- noch den Netzwerkbetrieb ausgelegt. Und auch nicht mit den entsprechenden Sicherheitsfunktionen ausgestattet. Auf den Siegeszug des Internets folgte so der Siegeszug von Viren und Würmern unter Windows-Benutzern.

„Windows 95? Gesehen, gelacht, gelöscht“ war ein damals in Techie-Kreisen beliebtes T-Shirt bedruckt. Doch das war Koketterie – Windows 95 wurde Microsoft aus den Händen gerissen. Nach einem Jahr hatte Microsoft 40 Millionen Kopien verkauft. Und was Windows 95 einführte, prägt die Computerwelt bis heute: Startmenü, Taskleiste, der Doppelklick. Manches war von Apple abgeschaut – aber Microsoft verstand es, mit dem Bedienkonzept den Massenmarkt zu erobern. Die Kombination aus billiger Hardware aus Fernost und Windows eroberte den PC weltweit.

Windows NT 4 ist nichts für Spieler

Der Bluescreen hatte Gründe: Technisch war Windows 95 eine hässliche Chimäre aus einem veralteten Unterbau der 16-Bit-Ära namens MS-DOS und darauf geschraubter grafischer 32-Bit-Oberfläche. Mit Windows NT 4 hatte Microsoft weniger als ein Jahr später ein viel moderneres Betriebssystem im Angebot. Es bot Technologien wie Speicherschutz, die dafür sorgten, dass abstürzende Programme nicht den gesamten PC in den Abgrund rissen.

In NT 4 war vieles eingeflossen, was Microsoft zusammen mit IBM einst als Betriebssystem OS/2 entwickelt hatte. Doch Windows 95 war für den Massenmarkt – und wer beispielsweise Computerspiele spielen wollte, konnte mit NT nichts anfangen. Erst mit Windows 2000 und XP wird der technisch überlegene NT-Kern auch Grundlage für den PC-Massenmarkt.

Auch dass Windows 95 mit einer Fehleinschätzung auf den Markt kam, änderte nichts am Erfolg: Statt an den offenen Internet-Standard World Wide Web glaubte Microsoft an geschlossene Online-Systeme, wie sie damals von Firmen wie Compuserve und AOL angeboten wurden. Windows 95 kam mit Microsofts eigener Online-Welt MSN auf den Markt, ein Webbrowser war zunächst nicht im Lieferumfang enthalten und wurde erst mit dem Service Pack 1 im Jahre 1996 nachgeliefert. Der Browserkrieg gegen Netscape war eröffnet – und der kostenlose Internet Explorer verdrängte den zunächst noch kommerziellen Browser der Konkurrenz.

Microsoft war geblendet vom eigenen Erfolg

Am Ende waren Windows 95 und seine Nachfolger so erfolgreich, dass es Microsoft in gewisser Weise den Weg in die mobile Zukunft versperrte: Zwar kündigte Bill Gates schon 2002 – acht Jahre vor Apples iPad – Tablet-PCs an. Doch die lösten sich nicht von den von Windows bekannten Programmen und der Bedienung – wohl um das Quasi-Monopol im PC-Bereich in die mobile Welt hinüberzuretten. Auch die nur mäßig erfolgreichen mobilen Geräte mit der Windows-Version CE bedienten sich eher wie Schrumpf-PCs als wie wirklich neue Geräte für das mobile Zeitalter.

Die mobile Revolution blieb so Apple und Google vorbehalten. Das 2007 vom damaligen Microsoft-Chef Steve Ballmer noch öffentlich verlachte iPhone brachte die Touchbedienung und spezielle, für mobile Geräte entwickelte Apps. Google machte die Technik mit dem kostenlosen, auf Linux basierenden mobilen Betriebssystem Android dann zum Erfolg auf dem Massenmarkt.

Dabei war in den 90ern ausgerechnet Apple mit dem Boom von Windows 95 in Existenznöte geraten. Retter in der Not damals: Bill Gates, der in den USA wegen des Quasimonopols von Windows Kartelluntersuchungen fürchten musste. Microsoft investierte 150 Millionen Dollar in 150.000 Apple-Aktien und zahlte Gerüchten zufolge weitere 100 Millionen Dollar für Urheberrechtsverletzungen der vergangenen Jahre.

Er hätte sich damals wohl nicht träumen lassen, dass Jobs viele Jahre später mit iPhone und iPad die Ära der Windows-Dominanz beenden würde.

Dieser Artikel erschien zuerst bei der Welt.

Bild: Namensnennung Bestimmte Rechte vorbehalten von Marcin Wichary