Die Lage ist verworren. Es gibt mal wieder keine einfachen Lösungen. Für schlichte Köpfe ist das ein Problem, denn sie sind auf einfache Lösungen angewiesen – und eine Welt, die trennscharf aus Schwarz und Weiß, Gut und Böse besteht. Grautöne sind unübersichtlich. Ideologische Trennschärfe soll in Kreuzberg unbedingt erhalten werden. Man nennt das hier „Miteinander“, „gewachsene Nachbarschaft“ und „Freiheit und Selbstbestimmtheit“. Und das alles auch noch zu bezahlbaren Preisen. Aber wehe, jemand stört diesen beschaulichen Frieden in den schönsten Lagen der deutschen Hauptstadt.

Da war zum Beispiel Zalando. Ein Modeversender, der mal mit ziemlich nerviger Werbung angefangen hat, in der Frauen schreien, wenn Schuhe geliefert werden. Nicht gerade nach den allerneusten Erkenntnissen der Genderforschung produziert – aber seitdem sehr erfolgreich. Inzwischen versenden 6000 Zalando-Mitarbeiter Modeartikel in alle Welt und sind mit ihrem Startup zu einem der größten Player in diesem Segment geworden. Einige dieser Mitarbeiter sollten an der Cuvrystraße in Kreuzberg ein neues Bürogebäude direkt an der Spree beziehen. Hier sollte ein Teil des neuen Campus der Firma entstehen. Diese Pläne hat man jetzt verworfen.

Jetzt wartet Kreuzberg auf sehr viele neue Mieter

Die Zalando-Sprecher bemühen sich zu betonen, dass die Entscheidung nichts mit dem zum Teil gewalttätigen Demonstrationen zu tun habe. Man habe lediglich ein Problem mit dem Baufortschritt, der sich verzögert haben soll. Deshalb sei der Mietvertrag gekündigt worden. Der Bauherr sieht das allerdings anders. Von Bauverzögerungen könne keine Rede sein. Er hat jetzt das Problem, dass für 90 Prozent seiner Büroflächen neue Mieter suchen muss.

Ist das jetzt ein Sieg für die Anti-Gentrifizierer von Kreuzberg? Sie haben gegen die Zalando-Pläne demonstriert, weil sie fürchteten, dass das Wohnen in Kreuzberg durch die Ansiedlung von gut bezahlten Versandhandel-Angestellten noch teurer wird. Auch weil sie Angst davor hatten, dass der Verkehr auf den engen Straßen rund um das Schlesische Tor noch chaotischer wird. Auch die Büromieten wären laut den Anti-Zalando-Kämpfern weiter gestiegen, ein Preiskrieg, in dem „kleine Betriebe oder Kitas nicht mitgehalten“ hätten, hieß es im allerfeinsten Polit-Kitsch-Idiom. Statt an den Problemen zu arbeiten, sollte Zalando raus. Das ist natürlich viel einfacher. 

Auch Besserverdienende sind übrigens Menschen

An den Fakten hat durch den Rückzug sich nichts geändert. Es wird lediglich kein plakatives Label wie Zalando über der Haustür an der Cuvrystraße hängen. Tausende von Büro-Quadratmetern werden jetzt von anderen Firmen bevölkert. Wahrscheinlich werden es mehrere Unternehmen sein, denn ein großer Player wie Zalando ist in Berlin nicht leicht zu finden. Die Mieten werden weiter steigen. Auch die Preise für Büroflächen. Der Erfolg der Demonstranten ist also übersichtlich. Aber es bleiben trotzdem einige Fragen offen. 

Wie steht es eigentlich um die Freiheit eines Wirtschaftsunternehmens in Berlin? Es sieht fast so aus, als ob es in dieser Stadt nicht möglich ist, sich frei anzusiedeln, wo man möchte. Was ist mit den Mitarbeitern von großen Betrieben und ihrem Recht, sich dort eine Wohnung zu suchen, wo es ihnen gefällt? Auch Besserverdienende sind übrigens Menschen. Gibt es in Berlin so etwas wie ein Recht des Stärkeren oder desjenigen, der schon länger irgendwo wohnt?

Warum hat man nicht von beiden Seiten die Chance ergriffen, sich gemeinsam darum zu kümmern, dass Kreuzberg mit diesen neuen Büroflächen ein lebenswerter Stadtteil bleibt, sich vielleicht sogar positiv entwickelt? Wo ist eigentlich die Politik, wenn man sie ausnahmsweise mal braucht? Gibt es vielleicht irgendwo ein Konzept, eine Vision außerhalb von dysfunktionalen Mietpreisbremsen und „Milieuschutz“, wie die Entwicklung des Stadtteils klug gesteuert werden soll? 

Möglichkeiten und Chancen wurden verpasst, stattdessen gab es Verdächtigungen, Beschimpfungen und Gewalt. Ein Bösewicht musste her für einige Kreuzberger, deren Welt aus Schwarz und Weiß besteht. Damit jeder weiß, was er ohne viel Nachdenken und sonstige Anstrengungen zu denken hat. Das ist leider zu wenig für eine Stadt wie Berlin. Viel zu wenig.

Mal schauen, ob Google bei seinen Kreuzberger Plänen bleibt. Bis zur Entscheidung hören wir einen Song vom neuen Album der fantastischen Eels.

Foto: Youtube / Screenshot / Eels