Die autonom fahrende Tram stoppt an einem Fußgängerüberweg.
Die autonom fahrende Tram stoppt an einem Fußgängerüberweg.

Manfred Kienitz kennt jeden Meter Schiene im Potsdamer Stadtgebiet. Er ist dort einer der routiniertesten Fahrer. Denn seit 30 Jahren fährt er Straßenbahnen durch die brandenburgische Landeshauptstadt. Eine neue Technologie könnte in einigen Jahren das Verkehrsmittel sicherer und effizienter machen – aber auch seinen Arbeitsplatz ersetzen. Die Potsdamer Verkehrsbetriebe testen seit drei Monaten gemeinsam mit Siemens die autonom fahrende Straßenbahn auf einer sechs Kilometer langen Strecke. Mehr als 50 Personen haben mehr als ein Jahr lang an dem Projekt gearbeitet.

Kienitz startet per Knopfdruck den sensorgesteuerten Betrieb der Bahn. Auf seinem Bildschirm verfolgt er die Fahrt. Eine Hand bleibt an der Notbremse. Der Fahrer sitzt nur zur Sicherheit in der Kabine der 30 bis 40 Tonnen schweren und bis zu 50 km/h schnellen Tram: „Falls die Technik in einer brenzligen Situation mal nicht so reagiert, wie sie sollte, würde ich eingreifen“, sagt er. Dazu ist es noch nicht gekommen. „Wir haben bisher keine Probleme gehabt. Wenn ein Fußgänger vor die Bahn läuft, reduziert sich die Geschwindigkeit. Es wird geläutet und normal gebremst.“

Noch keine Lizenz für Fahrgäste

Bei der Probefahrt mit einer Bahn voller Journalisten kommt es zu einer solchen Situation. Ein SUV-Fahrer will vor der Bahn auf der vierspurigen Straße links abbiegen, bleibt aber wegen Gegenverkehr auf dem Gleis stehen. Kameras und Sensoren entdecken das Auto. Die Bahn bremst ab und setzt ihre Fahrt fort, nachdem das Auto weitergefahren ist. Auch ein Kinderwagen (ohne Kind), der von einem Mitarbeiter aufs Gleis geschoben wurde, wird erkannt. Genauso wie wartende Fahrgäste, die an einer Haltestelle direkt an der Bahnsteigkante stehen. Die Türen der grün und weiß lackierten Bahn bleiben dort allerdings geschlossen. Fahrgäste dürfen im Testbetrieb nicht mitgenommen werden.

Siemens ist überrascht, wie reibungslos das Potsdamer Experiment funktioniert. Nachdem die Tests bisher so erfolgreich verlaufen seien, habe man sich entschlossen, die Weltpremiere vor einem Fachpublikum im Rahmen der Bahnmesse Innotrans2018 zu zeigen. Dennoch will sich Projektleiter Christoph Klaes auf einen Termin für die Serienreife nicht festlegen. „Es gibt noch zu viele Probleme.“ Trotz aller eingebauten Intelligenz reagiert der menschliche Fahrer in manchen Situationen noch intuitiv besser – erfahrener im Wortsinn.

Tram lernt während des Fahrens

Anders als beim Fernverkehr oder der U-Bahn bewegen sich Straßenbahnen im fließenden Verkehr. „Es kreuzen Fußgänger, Fahrradfahrer und Fahrzeuge. All die Situationen zu verarbeiten und dem Fahrzeug Intelligenz beizubringen, auf diese Situationen zu reagieren, das ist die große Herausforderung“, sagt Projektmanager Daniel J. Hoepffner.

Die technischen scheinen dabei noch die überschaubarsten Herausforderungen zu sein. Denn ein Rechtsrahmen für einen autonomen öffentlichen Nahverkehr, der alle eventuell auftretenden Haftungsfragen klärt, ist nicht in Sicht. Auch die sozialen Auswirkungen der neuen Technologie sind noch nicht absehbar: Eine Frage bleibt, was langfristig in einer Zeit des autonomen Fahrens aus den 14.000 Fahrern in Deutschland wird.

Siemens beschränkt sich auf das Bereitstellen der Technologie. Der Prototyp der autonomen Bahn ist mit mehreren Kameras, Laser- und Radarsensoren ausgestattet. Das sind die digitalen Augen des Verkehrsmittels. Sie können bis zu 100 Meter weit sehen und füttern einen Computer, der momentan noch die Größe eines Schrankes hat, sich nach Aussage eines Projektingenieurs aber verkleinern lässt. Die Algorithmen des Computers bewerten die aktuelle Situation und lösen dann eine Reaktion aus: warnen, bremsen oder anhalten. Mehr geht derzeit nicht. 

Der Testpilot ist begeistert: „Auf alle Fälle ist das für den Fahrer einfacher, wenn er nur nach vorne schaut und beobachtet, was passieren könnte. Das ist ein ganz entspanntes Fahren“, sagt Manfred Kienitz, während seine Bahn wie von Geisterhand gesteuert ihre Fahrt fortsetzt und sechs Kilometer später wieder ihr Deport erreicht.

Bild: Siemens