Herr der Roller: Bird-Chef Travis VanderZanden ist für seine aggressive Expansionsstrategie bekannt. Das Foto zeigt ihn im Juli 2019 in Paris.

Thomas hat sich in der Welt der E-Scooter ganz nach oben gearbeitet. Der junge Mann war im Sommer 2019 einer der ersten, der in Deutschland als sogenannter Juicer anheuerte. Nacht für Nacht sammelte er Elektroroller ein, lud sie an der Steckdose auf und verteilte sie morgens wieder an den Straßenecken. Ein Knochenjob, für den er als Freelancer knapp vier Euro pro Ladung bekam. Später machte Thomas sich als Logistikdienstleister für verschiedene Mobilitäts-Startups selbstständig, ist heute Chef von mehreren Mitarbeitern. Im Geschäft mit E-Scootern hat er schon fast alles erlebt: Sabotage durch die Konkurrenz, Zeitdruck, betrunkene und randalierende Kunden. Die Erfahrung, die er mit dem US-amerikanischen Anbieter Bird gemacht habe, stelle jedoch alles in den Schatten.

Bird ist – neben seinem Konkurrenten Lime – einer der größten, globalen Verleiher von E-Scootern. Das Startup wurde 2017 von Travis VanderZanden, einem ehemaligen Manager von Uber und Lyft, gegründet und erreichte bereits nach einem Jahr eine Milliardenbewertung – so schnell wie kein anderes Startup je zuvor. Bis heute hat es rund 620 Millionen Euro an Risikokapital eingesammelt, aber nie schwarze Zahlen vorgelegt und zuletzt stark unter der Corona-Krise gelitten.

In Deutschland verlief bereits der Marktstart holprig. Bird brachte seine E-Scooter Ende August 2019 auf die Straße, zwei Monate später als die Konkurrenz. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits mehr als 25.000 Roller auf deutschen Straßen unterwegs, glaubt man den Daten der Mobilitätsberatung Civity. Nach knapp drei Monaten, Ende November 2019, zog Bird seine Roller als einziges Unternehmen wieder ab. Aus Sicherheitsgründen aufgrund des Winterwetters, hieß es. Dann kam Corona und der geplante Saisonstart im März verzögerte sich bis zum Sommer.

Bird stellt mitten in der Corona-Krise auf neues Geschäftsmodell um

Auf der Straße landete im März und April dagegen etwa ein Drittel der 15 Festangestellten, darunter die Pressestelle, das Lobbyteam, einige Mitarbeiter aus dem Betrieb und auch Deutschlandchef Christian Geßner. Viele hätten die Kündigungen um sieben Uhr morgen per Einschreiben bekommen, ohne Vorwarnung. Ein Ex-Mitarbeiter beschreibt das Vorgehen als „sehr amerikanisch“. Immerhin, eine Entlassung via Massen-Audiocall, die kurz zuvor rund 400 internationale Bird-Kollegen getroffen hatte, blieb den deutschen Mitarbeitern erspart. Übrig blieben in Deutschland zehn Vollzeitmitarbeiter, wie Bird auf Nachfrage bestätigte.

Etwa zur selben Zeit hat Bird sein Geschäftsmodell umgestellt. Statt die Flotten selbst zu betreiben, hat es seine E-Scooter inzwischen landesweit an Subunternehmer verkauft oder geleast und ist heute nach eigenen Angaben in 20 Städten aktiv. Das Unternehmen wirbt Selbstständige und Kleinunternehmer an, die sich in Berlin, Frankfurt, München oder Hamburg um den Transport, die Aufladung und Wartung der E-Roller kümmern sollen – sogenannte Flottenmanager. Business Insider liegt der Vertrag und sämtliche Finanzunterlagen vor, die zeigen, wie das neue Geschäftsmodell die Verantwortung und die finanziellen Risiken an dutzende Einzelunternehmer auslagert.

Zahlreiche E-Scooter der Firma Bird stehen (oder liegen) während der Corona-Krise ungenutzt in den Straßen herum.

Rechtsanwältin Andreja Schneider-Dörr beschäftigt sich mit Arbeitsrecht im Rahmen der Crowd Work und Gig Economy. Sie hat den Vertrag gelesen und sagt, dass diese Vereinbarung so ziemlich das Übelste sei, was sie jemals gesehen habe. „Das Verschuldungsrisiko ist extrem hoch“, glaubt Schneider-Dörr.

Vor einigen Wochen hatte das US-Portal Onezero darauf hingewiesen, dass Verträge in den USA die Betreiber der Bird-Scooter in die Schuldenfalle locken. Nun wird aus dem Vertrag, der Bird Rides Germany GmbH klar, dass das Unternehmen sich auch hier mit einem gefährlichen Konstrukt übers Wasser halten will.

„Kurzfristig ist Bird damit profitabel, da sie die Betriebskosten und das Risiko auslagern. Das klingt toll, nur gibt es damit ein Problem: Das McDonald’s-Prinzip funktioniert nur, wenn auch die Franchisenehmer Geld verdienen“, sagt ein Brancheninsider zu Business Insider, der anonym bleiben will.

Birds Umsatzversprechen prallt auf die Realität

Bei Thomas begann alles mit einem Anruf im April 2020. Ob er sich nicht vorstellen könne, eine Flotte von Bird zu kaufen und auf eigenes Risiko zu betreiben, natürlich gegen eine Umsatzbeteiligung. „Es kam mir vor, als würden sie eine Lebensversicherung verkaufen. Sie wollten unbedingt, dass ich das mache“, erinnert sich Thomas im Gespräch mit Business Insider. Seinen richtigen Namen will er hier aus Angst vor Konsequenzen nicht lesen.

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Birds Angebot klang verlockend: Laut einer Beispielrechnung könne er immerhin mit jedem Roller, den er einsammelt und auflädt, rund 5,80 Euro verdienen – das ist mehr als bei den meisten Anbietern. Bei einer Flotte von 400 Stück wären so hochgerechnet rund 16.200 Euro pro Woche drin. Bei der Durchsicht des Vertrags sei ihm dann schnell klar geworden, dass mit der Rechnung etwas nicht stimme. „Der tatsächliche Anteil am Profit ist nie im Leben kostendeckend. Es ist aus meiner Sicht unmöglich, damit Geld zu verdienen. Sie locken die Leute bewusst in die Schuldenfalle“, so der Unternehmer zu Business Insider. Er selbst hat den Deal nie unterschrieben. Andere hingegen schon. Nach Informationen unserer Redaktion gibt es allein in Berlin mehr als ein Dutzend Unternehmer, die ein solches Arrangement mit Bird haben.

Bird selbst nennt das Modell eine für die Branche typische B2B-Konstruktion – eine Vereinbarung zwischen zwei unabhängigen Geschäftspartnern. Zwei Juristen, die für Business Insider den Vertrag ausgewertet haben, erkennen darin ein auffällig einseitiges Franchisemodell, bei dem Bird die Risiken im vollen Umfang auslagert.

Intransparente Gebühren, falsche Versprechen und hohe Risiken

Dabei geht es unter anderem um die Gebühren, die die Vertragspartner zahlen müssen. Bei jeder Roller-Fahrt behält Bird eine Software-, eine Fahrt- und eine Hardwaregebühr ein – eine Mischung aus Fixkosten und umsatzabhängigen Kosten für die Benutzung der Roller und der App. In der Beispielrechnung des Unternehmens, die Business Insider vorliegt, bleibt dem Flottenmanager dann 28 Prozent seiner Nettoeinnahmen. Zahlt der Kunde nach einer Fahrt 3,75 Euro mit der App an Bird, kommt beim Flottenmanager 0,83 Euro an. Davon er noch den Strom, den Transport der Roller, die Lagerhallen, Wartung und ihre Mitarbeiter bezahlen muss. Martin Niklas, Rechtsanwalt und Mitglied des Deutschen Franchiseverbandes hat den Vertrag ebenfalls ausgewertet. Er hält die Gebührenstruktur in dem Vertrag für unklar und schwer verständlich.

Eine Besipielrechnung von Bird zeigt, wie viel bei einem Fahrtpreis von 3,75 Euro am Schluss für den externen Flottenmanager übrig bleibt.

Obwohl der Flottenmanager nur gut ein Drittel des Nettoumsatzes bekommt, trägt er das volle Risiko, wenn E-Scooter verschwinden oder kaputtgehen. Denn die Hardwaregebühr ist auch „bei Verlust, Diebstahl, Vandalismus, Schaden oder jeglicher vorübergehenden oder dauerhaften Entfernung“ weiter fällig, so der Vertragstext. E-Scooter-Unternehmer Thomas hält das für sehr riskant. „Viele E-Scooter sind schon nach einem Jahr verschwunden oder defekt“, sagt er.

Neben der fragwürdigen Gebührenstruktur wird zudem deutlich, dass Bird seinen Partnern unrealistische Einnahmen verspricht. In einer zweiten Beispielrechnung, die Business Insider vorliegt, ist etwa von sieben Fahrten pro aufgeladenem Roller die Rede. Selbst Branchenexperten gehen davon aus, dass die Roller an guten Tagen im Schnitt maximal fünfmal ausgeliehen werden. Abrechnungen von Flottenmanagern, die wir einsehen konnten, zeigen sogar noch niedrigere Werte. Demnach kommen die Bird-Roller im Sommer 2020 im Wochendurchschnitt auf ein bis zwei Fahrten pro Tag. Im Herbst rutscht die Auslastung dann allerdings im Schnitt unter eine Ausleihe pro Tag.

Unzulässig sei auch, dass Bird die Fahrtpreise diktiere, sagt Rechtsanwalt Niklas. Im Vertrag heißt es dazu, das Unternehmen könne die Mietgebühr für die Roller „nach eigenem Ermessen“ festlegen. Die Umsätze der Flottenmanager seien damit abhängig von Birds Preispolitik. Zwar habe meistens ein Franchisenehmer wenig Einfluss aufs Geschäftsmodell, so der Rechtsanwalt, aber dass das Unternehmen den Vertragspartnern die Fahrtpreise diktiere, könne den ganzen Vertrag nichtig machen.

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Riskante Ausstiegsklausel

Dem Rechtsanwalt Martin Niklas, der als Fachanwalt für Franchiserecht täglich mit solchen Verträgen arbeitet, bereitet noch ein anderer Punkt Sorgen. Denn auch wenn Thomas den Vertrag für ein Jahr unterschrieben hätte, gibt es Vertragsklausel, die sowohl ihm, als auch dem Unternehmen die Möglichkeit bieten willkürlich aus der Vereinbarung auszusteigen. „Wenn der Flottenmanager die E-Scooter bezahlt hat, eventuell auch Personal eingestellt und eine Infrastruktur für Wartung aufgebaut hat, und dann Bird den Vertrag auf einmal beendet, hat er umsonst investiert“, sagt Niklas.

Zu einer Zeit, in der die Diskussion über E-Scooter in den einzelnen Städten von der Abwägung der Nutzen und Schaden vor Ort abhängt, sichert sich das Unternehmen im Vertrag auch gegen potenzielle Streichung der Zulassung. „Selbst wenn die Geschäftsgrundlage wegfällt, wenn z.B. die E-Scooter-Vermietung verboten wird, trägt Bird keine Verantwortung“, sagt Rechtsanwältin Schneider-Dörr.

Ein Franchise, das keines sein will

Der Vertrag schließt also jegliche Verantwortung fürs Geschäftsmodell, für die Roller oder für den Flottenmanager aus. Bird betont, dass es hierbei lediglich um unabhängige Vertragspartner geht und nicht um ein Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis oder einen Franchise. Für beide Juristen, die den Vertrag für Business Insider ausgewertet haben, sieht dieses Vertragskonstrukt sehr nach einem Franchisemodell aus. „Bird denkt, indem es absolut ausschließt, dass hier ein Arbeitsvertrag entstehen könnte, dass sie fein raus sind“, sagt die Anwältin. So funktioniert es aber nicht im deutschen Arbeitsrecht.

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Business Insider hat Bird mit den Vorwürfen konfrontiert. In einem schriftlichen Statement teilte ein Sprecher mit, dass das Unternehmen bislang „sehr zufrieden“ mit der Resonanz und den „wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Unternehmen“ sei. „Der Erfolg von Bird und der Erfolg der Fleet Manager Unternehmen gehen Hand in Hand, weshalb wir großen Wert darauf legen, dass unsere Partnerunternehmen zufrieden und profitabel wirtschaften.“ Zu den Details des Outsourcings wollte sich Bird nicht öffentlich äußern.

Wäre Thomas auf den Deal eingegangen, hätte er über 60 Prozent der Einnahmen für die Roller, die App und die IT-Unterstützung bezahlt, um überhaupt die E-Roller anbieten zu können. Die App wertet Daten über Häufigkeit, Dauer und Rentabilität der Scooter aus, also die sogenannten Key Performance Indikatoren (KPIs). Thomas hätte regelmäßig Einsicht in die Kennzahlen gehabt und hätte sich verpflichtet, die Zielvorgaben von Bird zu erreichen, um weitere Geldabzüge zu vermeiden. „Die Flottenmanager werden wie Unternehmer behandelt, aber sie haben keine Möglichkeit unternehmerisch frei zu handeln, weil alles von Bird bestimmt wird“, sagt Schneider-Dörr.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Business Insider Deutschland.
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