Ralf Tank (r.), Mitarbeiter des Darmstädter Straßen- und Tiefbauamts, will dabei helfen, den Verkehr in der Stadt zu digitalisieren.

Wenn Ralf Tank von der Zukunft des Straßenverkehrs in Darmstadt spricht, gerät er ins Schwärmen. „Umweltfreundlicher und gleichmäßiger, das wäre mein Wunsch“, sagt er. Autonome Fahrzeuge, bessere Luft und mitdenkende Ampeln sind nur drei von vielen Dingen, die in seiner Vision vorkommen. Ob sie wahr wird, hat Tank auch selbst in der Hand.

Der Diplom-Ingenieur („mit Leib und Seele“) sitzt in einem Büro im Dachgeschoss des städtischen Straßenverkehrs- und Tiefbauamtes in der Bessunger Straße. Nichts deutet darauf hin, dass von hier sämtliche Lichtsignalanlagen der viertgrößten Stadt Hessens programmiert und gesteuert werden können: Es gibt nicht sonderlich viele Bildschirme, keine überdimensionalen Rechner, keine penetrant blinkenden Knöpfe. Nur viele Landkarten, ein in die Jahre gekommenes Programmier-Testgerät – ansonsten konventionelle Büroausstattung. Die Server-Landschaft ist in zwei unscheinbare Betonkästen im Stadtgebiet ausgelagert.

Ein wichtiger Schauplatz für die Digitalisierung Darmstadts ist das Zimmer trotzdem. Denn Tank ist nicht nur langjähriger Mitarbeiter der Verkehrsbehörde. Seit Anfang 2018 ist er auch ein Projektleiter für Mobilität der „Digitalstadt Darmstadt“. Den Titel holte sich die Stadt 2017, als sie einen vom Digitalverband Bitkom und dem Deutschen Städte und Gemeindebund ausgelobten Wettbewerb gewann. Um die 20 Sponsoren, darunter die Deutsche Telekom, SAP und Hewlett-Packard versprachen Sachmittel und Dienstleistungen im Wert von bis zu 20 Millionen Euro. Das Land Hessen kündigte an, fünf Millionen Euro zuzuschießen. EU-Fördergelder sollen folgen. Das Ziel: Darmstadt zu einer „digitalen Modellstadt“ machen.

32 Projekte in 13 Bereichen

Dazu ist ein Rundumschlag vorgesehen, digitalisiert werden sollen etwa Energie, Gesundheit, Bildung – und Straßenverkehr. Offiziell startete der Projektzeitraum Anfang 2018. Seitdem bastelt die Stadt an ihrer Zukunft. Regie führt die eigens gegründete Digitalstadt Darmstadt GmbH. Sie sitzt im Fraunhofer Institut für Sichere Informationstechnologie an der Rheinstraße. Die Wahl des Standorts versinnbildlicht gleich doppelt, worum es geht: Draußen donnert der Verkehr auf mehreren Spuren vorbei, im Gebäude senden die Büronachbarn das aus Sicht der Digitalstadt passende Signal: „Datensicherheit ist uns wichtig.“

Diesen Artikel lest ihr auch in unserem neuen Magazin, das am 25. September 2018 erschienen ist. Das Heft steht euch hier zum Download bereit.

Simone Schlosser leitet die GmbH als eine von insgesamt drei Geschäftsführern. Fachliche Ansprechpartner sitzen in der städtischen Verwaltung oder Unternehmen der Stadtwirtschaft, etwa bei der Darmstädter Verkehrstochter HEAG Mobilo oder dem Klinikum Darmstadt. Bei Schlosser laufen diese Fäden zusammen. Gemeinsam mit ihrem kleinen Team hat die kaufmännische Geschäftsführerin viel vor: 32 Projekte in 13 Themenbereichen will die Gruppe in den kommenden eineinhalb Jahren noch „mindestens“ umsetzen oder anstoßen.

Schlosser ist optimistisch, dass die Digitalstadt auch in der Mobilität in dieser Zeit viel bewegen kann: „Wir können den Verkehr logischerweise nicht weg digitalisieren, aber einen Beitrag zu einem modernen Mobilitätskonzept leisten.“

Rund 160.000 Menschen leben in Darmstadt, das sind circa 20.000 mehr als noch vor zehn Jahren. Außerhalb der Ferienzeiten fahren täglich 95.000 Pendler in die Stadt, zusätzlich gibt es bis zu 30.000 Durchpendler. „Die Verkehrsdichte ist sehr hoch“, sagt Tank. Jetzt will er zusammen mit der Digitalstadt den großen Infarkt verhindern, mithilfe von Daten.

Überwachung durch Behörden und Konzerne?

Um sie zu managen, verfügt Darmstadt über ein eigenes Lichtwellennetz. Daran hängen alle 165 Ampeln der Stadt, rund 350 Kameras sind hier installiert. Sie erfassen die Verkehrsbelastung kontinuierlich. Je nach Bedarf werden Schaltungen ausgelöst, die beispielsweise grünes Licht für eine Fahrtrichtung geben. „Eine verkehrsabhängige Steuerung“, fasst Tank zusammen. Optimiert wird der Verkehrsfluss in Echtzeit, als gemeinsame Basis dient die Braunschweiger Atomuhr. Tank bekommt die Kameraaufnahmen auf seinem iPad in der Bessunger Straße nur knapp eine Sekunde später als Livestream ausgespielt.

Die Daten sollen auch Bürgern einen Mehrwert bieten: Das Straßenverkehrs- und Tiefbauamt hat in Zusammenarbeit mit dem privatwirtschaftlichen Urban Institute eine Open-Data-Plattform auf den Weg gebracht, die heute alle im Stadtgebiet erfassten Verkehrsinformationen bündelt. Jeder kann darüber online sehen, an welchen Stellen es sich im Stadtgebiet gerade staut. Bundesweit sei diese Plattform einzigartig, sagt Tank stolz.

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Über die Pläne der Digitalisierer freuen sich nicht alle so uneingeschränkt. In der Vergangenheit monierte etwa der örtliche Chaos Computer Club, dass bei der Vernetzung von Infrastruktur, Haushalten und Verwaltung „massenhaft personenbezogene Daten produziert“ würden. Der Verein fürchtet eine Überwachung durch Behörden und Konzerne.

„Personenbezogene Daten erfassen wir nicht. Uns ist vollkommen egal, wie alt ein Fußgänger ist. Interessant ist für uns nur der Zählwert“, erklärt Tank. Künftig will der Ingenieur den Straßenverkehr sogar noch genauer erfassen, etwa an wichtigen Ein- und Ausfahrtstraßen, und so insbesondere Ampeln intelligenter machen. Getestet wird die App Ecomat, eine Grünwellen-Vorhersage. Sie zeigt rund 150 Meter via GPS vor einer Ampel an, ob die Anlage auf Rot oder Grün schalten wird. Die App funktioniert bisher nur auf einer Teststrecke. Bis Ende 2018 soll sie stadtweit ausgerollt werden.

Dreck-Ecken identifizieren

Auch Emissionen will man so reduzieren. Geplant ist, in Darmstadt ein großes Netz an Umweltsensoren einzurichten, die Parameter wie Kohlenstoffdioxid, Ozon und Feinstaub messen. Eingespeist in eine Datenbank könnten diese Informationen dabei helfen, besonders dreckige Ecken zu identifizieren, an denen bei zu dicker Luft temporäre Fahrverbote in Kraft treten würden. Eine App würde Pendlern dann alternative Optionen vorschlagen, zum Beispiel eine Kombination aus Leihrädern, Bus und Bahn. So stellen es sich die Macher der Digitalstadt vor. Die GmbH will außerdem Sensoren in Parkplätzen installieren, die erkennen, wo noch freie Stellflächen sind. Der Entsorgungsbetrieb EAD testet derzeit Messsysteme in Mülltonnen, die kommunizieren, ob eine Tonne gerade überquillt oder gar nicht erst angefahren werden muss.

Viel „soll“, wenig „ist“: Der Name „Digitalstadt“ verschweigt zunächst, dass es nicht darum geht, wie viel Fortschritt es in Darmstadt schon heute gibt, sondern um gute Voraussetzungen, es soweit zu bringen. Und die sind durchaus vorhanden: Es gibt eine TU und zwei weitere Hochschulen, drei Fraunhofer Institute, die Weltraumorganisation ESA ist vertreten. Darmstadt nennt sich auch „Wissenschaftsstadt“. 

Vielleicht ist auch das der Grund, warum es manchem Beobachter bisher nicht schnell genug ging. Auf Nachfrage von NGIN Mobility und Gründerszene sagt etwa die ehemalige Bundeswirtschaftsministerin und Darmstädter SPD-Vorsitzende Brigitte Zypries: „Angedachte Vorhaben nach über einem Jahr noch immer als Erfolg zu verkaufen, so wie es die Digitalstadt tut, ist in meinen Augen definitiv zu wenig.“ Auch die Auswahl der Projekte kritisiert Zypries, insbesondere die Digitalisierung des Parkleitsystems hält sie für unnötig: „Eine Not an Parkplätzen gibt es in Darmstadt nicht. Für die Digitalstadt Deutschlands hätte ich mir ambitioniertere Projekte gewünscht und nicht solche, die man erstens nicht braucht und die es zweitens vergleichbar in anderen Städten schon erfolgreich gibt.“

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Digitalstadt-Geschäftsführerin Schlosser verteidigt: „Wir haben bisher umfangreiche Basistechnologien geschaffen und Infrastruktur aufgebaut, Darmstadt ist zum Beispiel als eine der ersten Städte Deutschlands mit einem flächendeckenden Lorawan-Netz ausgestattet.” Damit gemeint ist ein Netzwerk, über das sich auch Sensordaten unter geringem Energieaufwand senden lassen.

Eine Innovationsbremse stellen Schlossers Aussagen zufolge bürokratische Anforderungen dar. Was meint sie damit?

Ralf Tank (r.), Mitarbeiter des Darmstädter Straßen- und Tiefbauamts, will dabei helfen, den Verkehr in der Stadt zu digitalisieren.

Mit vielen Projekten muss das Team in Vergabeverfahren gehen, Magistrat, Stadtverordnete und Bürger haben Mitspracherecht. „Bis etwas sichtbar umgesetzt werden kann, dauert es einfach“, sagt die Geschäftsführerin. Dieses Argument will Zypries nicht gelten lassen: „Wenn Projekte erst nach einem Jahr in die Vergabeverfahren gegeben werden, fragt man sich, wie sie nach einem weiteren Jahr final umgesetzt sein sollen.“ 

Von den 32 Vorhaben des Digitalplans befänden sich aktuell zwei in Ausschreibungen, drei weitere würden für Ausschreibungen vorbereitet, erklärt Schlosser. Den Vorwurf, mit über 30 Projekten werde außerdem an zu vielen Baustellen gleichzeitig gearbeitet, kann sie nicht nachvollziehen: „Die Projektstruktur bringt eine Ordnung in die Sache. Wir sind gut aufgestellt.“ 

Darmstadt als Gründerstadt

In der Stadt gibt es einige junge Mobilitätsmacher, die Schlosser und ihren Kollegen dabei helfen könnten, die moderne Stadt zu verwirklichen. Einer davon ist Ansgar Kadura. Zusammen mit Tom Plümmer, Jonathan Hesselbarth und dem Unternehmensberater Dr. Klaus Dibbern leitet Kadura ein Drohnen-Startup. Der autonome sowie senkrecht startende und landende „Wingcopter“ des Teams bringt es auf Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 240 Stundenkilometern, Lasten von bis zu sechs Kilogramm kann er transportieren.

Kadura sagt: „Ich denke, Darmstadt würde sich gerne als Gründerstadt positionieren, ist aber noch ganz am Anfang. Wenn von den geplanten Projekten der Digitalstadt nur die Hälfte umgesetzt wird, wäre das ein erster Schritt.“ Der Pharmakonzern Merck nahm die Wingcopter-Gründer im Frühjahr 2018 in seinen Accelerator auf. Im sogenannten Makerspace im obersten Stockwerk von Mercks Innovation Center schraubt das Gründerteam nun an seinem Fluggerät herum. Auf den Tischen liegen viele Werkzeuge, 3D-Drucker surren vor sich hin.

Der Wingcopter wird etwa für Vermessungen sowie Inspektionen von Agrarflächen und Infrastrukturen eingesetzt. Spätestens ab Ende 2018, so stellen es sich die jungen Drohnenbauer vor, könnte ihr Fluggerät außerdem lebenswichtige Medikamente in die entlegensten Gegenden der Welt ausliefern. Ein Krankenhaus in Frankfurt testete den Wingcopter zuletzt, um Blutkonserven schneller in der Stadt zu befördern. Ein Vorhaben der Digitalstadt Darmstadt im Bereich Sicherheit ist die „Lagedarstellung über Drohnen“. Hier könnten Startups wie Wingcopter Impulse geben.

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Ein weiterer lokaler Mobilitätsgründer ist Benjamin Kirschner. Seine Mitfahrplattform Flinc verkaufte der 33-Jährige im Herbst 2017 an Daimler. Zur Kritik an der Digitalstadt sagt der Darmstädter: „Ich kenne das aus der Gründerbrille, dass viele Sachen von Anfang an kritisch beurteilt werden. Das hat ja auch viel mit deutscher Mentalität zu tun. Deshalb freue ich mich erstmal, dass neue Sachen ausprobiert werden.“

Den Visionen müssen Taten folgen

Von Darmstadt aus arbeitet Flinc seit der Übernahme mit Daimlers Mobilitätsservice Moovel zusammen, erstellt etwa Simulationen, die dabei helfen sollen, die Wirtschaftlichkeit von On-Demand-Shuttle-Diensten zu skizzieren. Berührungspunkte mit dem Darmstädter Verkehrsunternehmen HEAG Mobilo habe es in der Vergangenheit gegeben; ob nun unter Daimler weitere Projekte geplant seien, sagt Kirschner nicht.

Fest steht: In Darmstadt ist der Wille da, in Sachen Mobilität viel zu bewegen. Im verbleibenden Förderzeitraum müssen den Visionen jetzt noch Taten folgen. Dann wird man den Verantwortlichen auch verzeihen, wenn sie nicht alle 32 Projekte an den Start gebracht oder verbessert haben. Der Arbeitsvertrag von Schlosser und ihren GmbH-Kollegen läuft zum 31. Dezember 2019 aus. Wie es danach weitergeht, ist offen. Sie werden sich daran messen lassen müssen, wie viele Vorhaben sie bis dahin zum Erfolg gebracht haben. Und ob Menschen wie Ralf Tank das Digitalisierungszepter in ihren Ämtern weitertragen.

So wie Tank haben indes auch andere Darmstädter eine genaue Vorstellung davon, wie es in ihrer Stadt eines Tages aussehen soll. Flinc-Gründer Kirschner träumt von mehr elektrischen Fahrzeugen – und weniger Lärm: „Ich wohne hier in der Innenstadt, an einer vierspurigen Straße. Die ist gerade gesperrt. Auf der Dachterrasse herrscht nun eine Ruhe, die man sich kaum vorstellen kann. So fühlt sie sich glaube ich an, die Zukunft der Straße.“

Bild: Bedenk Zeit Fotografie / Matthias Michael Maria Bedenk