Vor den großen Knotenpunkten wird es regelmäßig eng für die Züge. Daraus ergeben sich Verspätungen.

Es gibt Situationen, in denen reagiert die Deutsche Bahn (DB) überraschend flexibel auf Störungen – mit spontanen Änderungen im Betriebsablauf. So wie neulich, als ein Zugchef und ein Fahrdienstleister entschieden, einfach am Frankfurter Hauptbahnhof vorbeizufahren. „Fahrgäste, die dort aussteigen wollen, verlassen den Zug bitte in Frankfurt-Süd und fahren von dort mit U- und S-Bahn weiter“, lautete die Durchsage.

Für jene, die unbedingt zum Hauptbahnhof und dort umsteigen wollten, war das ärgerlich. Aber die meisten im Zug reagierten positiv. Sie wollten weiter nach Süden, ihre Anschlüsse in Mannheim und anderen Städten bekommen. Und der Knoten Frankfurt – und damit der Weg zum Hauptbahnhof – war mal wieder zu, dicht, nichts ging mehr. Wie so oft. Es hätte ewig gedauert, bis der Zug mit Halt am Hauptbahnhof weiter nach Süden durchgekommen wäre.

Dass die großen Bahnknoten im Land, durch die sich das Gros der Züge jeden Tag quält, verstopft sind, ist fast schon ein Normalzustand. Zu viele Züge müssen durch zu enge Nadelöhre. Sie stauen sich davor und nach den Engstellen. Weil die Zu- und Abfahrtswege so viele Züge in so kurzer Zeit nicht aufnehmen können. Das deutsche Schienennetz ist chronisch überlastet. Die Misere ist einer der Hauptgründe für Verspätungen, verpasste Anschlüsse, Zugausfälle. Dieses Problem soll nun behoben werden: mit der intelligenten Schiene.

Alte Technik aus der Kaiserzeit

Das 33.000 Kilometer lange Schienennetz in Deutschland soll mit digitaler Technik ausgestattet werden. Das Milliardenprojekt wurde vom Bundesverkehrsministerium und der Deutschen Bahn auf der Schienentechnikmesse Innotrans in Berlin bekannt gegeben. Eine Studie von McKinsey im Auftrag des Ministeriums hatte dem Vorhaben Wirtschaftlichkeit und im Ergebnis eine deutliche Verbesserung des Schienenverkehrs in Deutschland bescheinigt.

Geplant ist nun, die Trassen mit dem Zugsicherungssystem ETCS (European Train Control System) der zweiten Generation auszurüsten. Es soll die bisherige Schienentechnik, die zum Teil noch aus der Kaiserzeit stammt, ersetzen. Alle Elemente der Bahninfrastruktur, die Gleise, Weichen, Stellwerke und Signale, werden dabei untereinander und mit den darauf rollenden Fahrzeugen vernetzt. Die gewonnenen Daten werden zwischen Zug, Streckenzentrale und den Verknüpfungspunkten im Gleis übermittelt. Es entsteht ein digitales Bahnnetz – und der Kern ist die intelligente Schiene.

„Das wird den Zugverkehr in Deutschland zuverlässiger und damit besser machen“, kündigte Guido Beermann, Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium an. „Wir werden den Kunden ein besseres Angebot machen können, denn es wird weniger Signalstörungen geben und mehr Kapazität auf den Schienen.“ 

Züge fahren in Deutschland nach dem System des Blockabstands. Ist ein Block, also ein bestimmter Abschnitt auf den Schienen, mit einem Zug belegt, darf kein anderer Zug dort einfahren. Das Ergebnis sind lange Abstände. Mit dem neuen System könnten die Züge so dicht auffahren, wie es der nötige Bremsweg vorschreibt. Es würden also mehr Bahnen auf die Trassen passen. Und die Züge könnten mit digitaler Technik schneller durch die großen Knoten geleitet werden. „Damit bekommen wir bis zu 20 Prozent mehr Kapazitäten im deutschen Schienennetz“, sagte DB-Infrastrukturvorstand Ronald Pofalla.

Wachstum um ein Fünftel

Das wäre also so, als würde das deutsche Schienennetz um ein Fünftel wachsen. Einen solchen Effekt durch Bauarbeiten, also neue Gleise, zu erzielen, ist so gut wie unmöglich. Jahrelange Planungs- und Planfeststellungsverfahren, vor allem aber Proteste von betroffenen Anwohnern würden ein umfassendes Netzausbauprogramm endlos in die Länge ziehen und zu hohen Kosten führen. Kein Politiker in Deutschland hat daher große Lust, die großen Schienenknoten auszubauen.

Dabei wäre das im Grunde dringend nötig, schon weil das Schienennetz über Jahrzehnte vernachlässigt wurde. Die Störungen bei der DB nehmen zu, die Pünktlichkeit im Fernverkehr lag im August bei nur noch 69,8 Prozent. Ein neuer Tiefpunkt. Ziel des Vorstands sind eigentlich 82 Prozent, langfristig 85 Prozent. Doch die Werte werden immer schlechter.

Denn die Auslastung im Netz steigt, weil dort immer mehr Bahnen fahren. Aktuell sind es pro Tag 40.000 Personenzüge und 5000 Güterzüge. Die Schienenwege wachsen aber mit der steigenden Zahl an Zugbewegungen nicht mit. Nach Angaben von Netzvorstand Pofalla sind zwar aktuell nur fünf Prozent der Trassen überbelastet, dort fahren also 20 Prozent mehr Züge als eigentlich vorgesehen sind. Das klingt wenig, betrifft aber oft die hauptfrequentierten Abschnitte und zum Teil auch die großen Knoten. „Und wenn der in Köln zu ist, kann das Auswirkungen im Bahnverkehr bis in die Rhein-Main-Region, das Ruhrgebiet oder bis nach Hannover haben“, so Pofalla.

Züge wählen die optimale Geschwindigkeit

Mit dem neuen System ETCS werden die Schienen praktisch zu intelligenten Fahrwegen. Trassen und Bahnen können miteinander kommunizieren. Und statt starrer Signale werden die Leitsysteme zu einem großen Teil in die Züge selbst verlagert. Das Fahrpersonal und die Fahrdienstleiter erhalten dadurch ständig alle Informationen über einen Zug und den Zustand der Gleise, über die er gerade fährt – in Echtzeit. So können die Wagen schneller durch Engstellen geleitet werden, weil sie vorausschauend, mit optimaler Geschwindigkeit und in kürzeren Abständen einander folgen. Es kann schneller auf Störungen reagiert werden.

Und es gibt eine ganze Reihe weiterer Vorteile. Bahnen können so energiesparender gefahren werden. Es entfällt die Wartung von Signalanlagen, damit wird es insgesamt günstiger, das Schienennetz instand zu halten. Und wenn ein standardisiertes System alle anderen Technologien ersetzt, sinken auch dort die Kosten für den Einbau, Betrieb und die Wartung. All das klingt nach der perfekten Bahnwelt. Aber der geplante Umstieg auf die intelligente Schiene ist leichter angekündigt als umgesetzt. Und die Probleme, die bei der Umstellung auftreten werden, sind vorprogrammiert.

Da sind zunächst die Kosten. Das neue System wird Milliarden verschlingen. Die Europäische Kommission schreibt ETCS inzwischen auf den transeuropäischen Korridoren verpflichtend vor. Niederländer und Schweizer hatten das System der ersten Generation auch installiert, Deutschland wartete ab – auch wegen der hohen Kosten. Seit Dezember 2017 fahren zwischen Nürnberg, Erfurt und Halle/Leipzig ICE-Züge mit ETCS und ohne Signale an der Strecke. Das war’s bislang.

Experten gehen von 30 bis 35 Milliarden aus, die in das Netz und entsprechende Fahrzeuge investiert werden müssten. Auf den Bund, der für die Trassen zuständig ist, kämen allein 28 Milliarden Euro zu, 1,3 Milliarden Euro pro Jahr, bis das gesamte Netz umgerüstet ist. Dafür brauchen das Verkehrsministerium und die Bahn grünes Licht und Zahlungsbereitschaft des Bundestags. Schon bei diesem Punkt verfliegt bei Staatssekretär Beermann die Euphorie. „Wir müssen uns jetzt genau anschauen, wie eine Roadmap aussehen könnte“, sagte er. Das klingt nicht danach, als würden die Parlamentarier so ohne Weiteres das Staatssäckel aufmachen.

Allein die ersten Vorhaben kosten 1,7 Milliarden Euro

Anfangen will man deshalb mit einem überschaubaren Projekt. Zunächst sollen bis 2025 der Euro-Korridor von Skandinavien ans Mittelmeer über Hamburg und Rostock und Berlin nach Halle und München mit dem neuen System ausgerüstet werden. Dazu die Güterstrecke von Magdeburg nach Polen, die Schnellfahrstrecke Köln–Frankfurt und die stark ausgelastete Verbindung Dortmund–Hannover. Hinzu kommt der Knoten Stuttgart, weil dort durch den Bahnhofsneubau Stuttgart 21 ohnehin neue Zugsicherungssysteme installiert werden müssten. Allein diese konkret geplanten Vorhaben kosten 1,7 Milliarden Euro.

Ob die reibungslos abgearbeitet werden können, ist fraglich. Neben der Finanzierung der digitalen Schiene ist umstritten, wer die entsprechende Nachrüstung der Züge bezahlt. „Das ist eine große Belastung für die Bahnunternehmen. Wir hoffen auf eine komplette Finanzierung durch den Bund“, sagt Stephan Krenz vom Bahnverband Mofair. Branche und Bund sind dazu derzeit in Gesprächen. 

Letztlich muss entschieden werden, welche einheitlichen Standards sich mit dem neuen System durchsetzen. Doch in Deutschland entscheiden nicht nur die Bundesregierung und die Deutsche Bahn bei Schienenthemen. Es gibt viele weitere Bahnunternehmen, 16 Bundesländer und 27 sogenannte Aufgabenträger, die den Schienenverkehr in den Regionen organisieren.

Alle sind von der Umstellung betroffen, alle wollen mitreden und ihre Vorstellungen einbringen. „Nicht alle sind von dem Systemwechsel begeistert“, sagt Susanne Henckel, die Präsidentin der Bestellerorganisation BAG-SPNV. „Es wird nicht leicht, alle Interessen unter einen Hut zu bringen.“ Es kann also dauern, bis tatsächlich der vom Netzvorstand verkündete Startschuss für das intelligente Schienennetz fällt. Und Ärgernisse wie Verspätungen und Zugausfälle die seltene Ausnahme sind.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Welt Online.

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