So volle Bahnsteige will man in Corona-Zeiten nicht sehen.

Der öffentliche Nahverkehr leidet unter der momentanen Situation. Es ist verständlich, dass sich die Nutzer nur ungern in einen vollgestopften Bus oder eine überfüllte U-Bahn quetschen wollen. Denn dort steigt die Gefahr, sich mit dem neuartigen Coronavirus anzustecken. Gleichzeitig ist der ÖPNV aber das einzige Transportmittel für viele Menschen und innerhalb der Verkehrswende stellt der Nahverkehr die wichtigste Säule dar.

Das Kernproblem des Nahverkehrs sind die Stoßzeiten, zu denen er überproportional ausgelastet ist. Also in den Morgenstunden und abends, wenn Angestellte von und zur Arbeit fahren. Google liefert zumindest in einigen Städten eine kleine Hilfe. In Google Maps wird angezeigt, ob eine Bahn oder der Bus zu bestimmten Zeiten voll ist. Diese Daten basieren allerdings auf Annahmen und sind nicht live.

Fehlende Schnittstellen sind ein Problem

Der Grund sind fehlende Daten der Betreiber. Der mangelnde Fortschritt bei der Digitalisierung vieler ÖPNV-Betreiber rächt sich nun. Denn die Daten sind zwar vorhanden, können aber nicht ausgespielt werden, weil die Schnittstellen fehlen. Dabei hat der französische Konzern SNCF schon 2012 Apps vorgestellt, die die Auslastung einzelner Waggons der Vorortzüge anzeigten. Kunden konnten so sehen, wann der nächste Zug kommt, der einigermaßen leer ist.

Es ist unverständlich, dass die Nahverkehrsbetriebe derartige Lösungen bisher nicht in ihren Apps anbieten. Denn es ist nicht nur in Corona-Zeiten gut zu wissen, ob die ankommende U-Bahn voll ist und man lieber auf den nächsten Zug warten sollte.

Doch die fehlende Digitalisierung schlägt sich auch in anderen Bereichen nieder. Um die Auslastung der einzelnen Züge besser zu verteilen, würde es helfen, wenn die Bahnen in einem dichteren Takt fahren könnten. Um bei einer extrem dichten Zugfolge die Sicherheit gewährleisten zu können, müssen auch die Leitsysteme und die Bahnen mit den neuesten Technologien ausgestattet werden. Genau daran hapert es aber bei fast allen ÖPNV-Anbietern, die oft technisch 20 Jahre hinterher sind.

Anbindung an die Vororte fehlt

Nun rächt sich der jahrzehntelange Sparkurs, den viele Kommunen gefahren sind. Statt in den Ausbau und die Modernisierung zu investieren, hat man oft nur den Status Quo verwaltet. Das führte am Ende dazu, dass die Ablehnung gegenüber des ÖPNV gestiegen ist und die Straßen mit mehr Autos verstopft wurden. Ebenso fehlt die Anbindung in die Vororte und aufs Land.

Das Elend mit dem bundesweiten, einheitlichen digitalen Ticketsystem ist ein weiteres Beispiel für die verpassten Chancen. Bis heute können sich die ungefähr 300 Anbieter der verschiedenen Kommunen nicht auf eine gemeinsame Preisgestaltung oder eine technische Plattform einigen. Die momentane Krise legt diese Versäumnisse schmerzhaft offen. Aber es bietet auch die Möglichkeit, die Fehler der letzten Jahrzehnte zu korrigieren.

Natürlich sind die Investitionssummen hoch. Aber auch dafür gibt es eine Lösung. Statt alles im eigenen Haus zu entwickeln, sollten sich die Betreiber bundesweit zusammenschließen und die Zusammenarbeit mit Startups suchen. Die haben Erfahrungen darin, wie man Prozesse günstig und erfolgreich digitalisieren kann. Dazu hat es immer wieder verschiedene Anläufe gegeben, die aber oft an der Unbeweglichkeit der Betreiber des ÖPNV gescheitert sind.

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Doch die Zeit der Verweigerung ist abgelaufen. Die Krise hat die Mängel aufgezeigt und gleichzeitig auch bewiesen, dass Autos eben nicht mehr das einzige Mittel der Mobilität in der Stadt sind. Der ÖPNV ist vor allem im Winter unverzichtbar. Diese Rolle sollte er so schnell wie möglich ins 21. Jahrhundert transportieren.

Don Dahlmann ist seit über 25 Jahren Journalist und seit über zehn Jahren in der Automobilbranche unterwegs. Jeden Montag lest Ihr hier seine Kolumne „Drehmoment“, die einen kritischen Blick auf die Mobility-Branche wirft.

Bild: Getty Images / Sean Gallup / Staff