Warten auf die U-Bahn: ICOs könnten dabei helfen, das die Züge schneller den Bahnhof erreichen
Warten auf die U-Bahn: ICOs könnten dabei helfen, dass die Züge schneller den Bahnhof erreichen

Eine „Beleidigung des gesunden Menschenverstands“, ärgerte sich die Londoner „Times“ über diese „Abwasserkanäle“, die Bürger künftig zum Reisen nutzen sollten. Wer würde schon durch die spürbare Dunkelheit und den fauligen Untergrund fahren wollen, so die bissige Kritik. Das Projekt habe keine Zukunft. Die verrückte Idee eines Unternehmers, mehr nicht. Bekanntlich kam es anders: 155 Jahre später ist London ohne U-Bahn nicht mehr vorstellbar. Drei Millionen Menschen pendeln jeden Tag durch die „Abwasserkanäle“. Doch 1863 handelten sich die Investoren noch jede Menge Spott ein.

Erstmals in der Menschheitsgeschichte gruben sich Ingenieure unter eine Millionenstadt. Denn über der Erde war kein Platz mehr, und die reichen Grundstücksbesitzer im Norden Londons hatten im britischen Parlament 1846 durchgesetzt, dass keine oberirdischen Schienen in die Innenstadt führen dürften.

Und tatsächlich kämpfte das Mobilitätsexperiment von Anfang an mit Schwierigkeiten: Häuserfundamente sackten zusammen, Lok-Kessel explodierten, Arbeiter starben, der dreckige Kohlerauch zerfraß die Lungen der Passagiere. Trotzdem war das Projekt letztlich ein Erfolg – auch für die Investoren.

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Was folgte, war ein regelrechter Bauboom. Rund ein halbes Dutzend private Bahngesellschaften wühlten sich in Londons Untergrund. Jede, wie sie wollte und wo sie durfte. Weil die Strecken nicht koordiniert und aneinander angebunden waren, mussten anfänglich noch Kutschen Fahrgäste zwischen den Bahnhöfen hin und her transportieren. Doch nach und nach entstand ein Netz aus Tunneln, das Londons Personenströme abbildete.

So chaotisch die Anfänge der U-Bahn auch waren: Durch die Risikobereitschaft privater Investoren entstand innerhalb kurzer Zeit ein Transportnetz, das mit Ticketpreisen von zwei Penny auch für die Arbeiterklasse erschwinglich war. Erst ab 1933 übernahm mit dem London Passenger Transport Board erstmals eine öffentlich-rechtliche Verkehrsbehörde die Koordination und Bauleitung des Londoner U-Bahnnetzes.

Der Staat plant, baut, zahlt

Seither tritt der Staat in Westeuropa fast immer als Bauleiter großer Infrastrukturprojekte auf. Seien es Bahnhöfe, Flughäfen, Autobahnen oder Straßentunnel. Der Staat plant, der Staat baut, der Staat zahlt. Nur in Ausnahmefällen bringen private Investoren das Kapital und die Geduld auf, langfristig aufgelegte Infrastrukturen selbst zu errichten. Dabei ist der Staat in den Wirtschaftswissenschaften als ineffizienter Bauherr verschrien: bürokratisch und unflexibel. Man denke nur an die Elbphilharmonie, den Flughafen BER und den Bahnhof Stuttgart 21. Gründe für privatwirtschaftlich geführte, öffentliche Infrastrukturen gibt es also reichlich.

Mit der neuen Finanzierungsform des Initial Coin Offering, kurz ICO, hat sich nun auch ein probates Finanzierungsmodell entwickelt, das es ermöglichen könnte, Bürger zu Herrn von Straßen, Bahntrassen und Flughäfen zu machen. Bei ICOs werden digitale Währungen wie Bitcoin oder Ether erschaffen, deren Münzen für Euros oder Dollar an Kleininvestoren verkauft werden. Allein im ersten Halbjahr 2018 kamen rund zehn Milliarden Euro zusammen, drei Mal so viel wie im ganzen Jahr 2017. Startups wie der Nachrichtendienst Telegram und die Blockchain-Firma Block.one sammelten via ICO mehrere Milliarden Euro ein, um ihr Geschäft weiterzuentwickeln. Kapital ist also vorhanden – und da digitale Coins sogenannte „Smart Contracts“ erlauben, sind damit auch einige interessante Finanzierungskonzepte möglich.

Gesetzt den Fall, Berlin würde eine neue S-Bahnlinie – wie derzeit mit der S21 im Bezirk Wedding – benötigen. Statt wie bisher Steuergelder zu investieren, könnte der Staat oder auch ein privates Bauunternehmen einen ICO durchführen und Anteile an der Bahntrasse verkaufen – ganz so wie es mit den Aktiengesellschaften der frühen Londoner U-Bahn-Unternehmen üblich war. Bei Kosten von geplanten 900 Millionen Euro würde ein Bürger also beispielsweise für 1.000 Euro rund 0,000001 Prozent der Anteile erhalten. Ausgezahlt wird dabei in Kryptotoken – in diesem Fall zum Beispiel dem BerlinBahnCoin, kurz BBCoin.

Smart Contract für Ticket-Verrechnung

Interessant ist dies nicht nur, weil es sich hierbei quasi um eine freiwillige Steuer handelt. Denn bisher müssen sich Bürger über ihre Steuerabgaben zwingend an Investitionen des Staates beteiligen. Nun jedoch kann jeder Bürger entscheiden, ob er sein Geld bereitstellen und an künftigen Gewinnen und Verlusten beteiligt werden will oder nicht. Spannend wird dies, weil sich über „Smart Contracts“ besondere Rechte an die Token binden lassen. So könnten S-Bahn-Investoren beispielsweise vergünstigte Tickets bekommen oder in BBCoin gezahlte Fahrkarten günstiger sein. Die Verrechnung könnte dank „Smart Contracts“ automatisch über eine Blockchain erfolgen. Technisch möglich ist das schon heute.

Ein echtes Gesellschaftsexperiment wird es jedoch, wenn Kleininvestoren nicht nur an Gewinnen beteiligt werden oder finanzielle Sonderprivilegien erhalten, sondern selbst mitbestimmen können. So könnten die Kleinanleger via Blockchain entscheiden, wie viel sie und andere Bahnkunden künftig zahlen sollten. Sie müssen also abwägen zwischen dem Wunsch nach Unternehmensgewinn und nach einem – auch für sie – bezahlbaren Nahverkehr. Rendite gegen sozialverträgliches Preismodell. Verstärken ließe sich dieser Effekt noch dadurch, dass zwar Kleinanleger von überall in das Projekt investieren dürften, aber nur ortsansässige – in diesem Fall Berliner – Bürger Stimmrechte erhielten. Dieses Prinzip wird derzeit schon bei diversen Krypto-Projekten erprobt. Dezentrale Entscheidungsfindung kommt beispielsweise bei der bekannten Digitalwährung Dash zum Einsatz. Auch hier bestimmen Tausende Anteilseigner entsprechend ihrer Anteile an der Währung über die Blockchain regelmäßig, welche Jobs das Unternehmen dahinter vergibt und woran als Nächstes gearbeitet werden soll. Eine zentrale Führung hat das Projekt nicht.

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Der erste „Dorf-ICO“

Tatsächlich ist die Idee, Bauprojekte via ICO zu finanzieren, nicht ganz neu. Bereits vor vier Jahren verkaufte der russische Landwirt und Unternehmer Mikhail Shlyapnikov eine Kryptowährung, weil ihm Banken in der russischen Wirtschaftskrise keine Kredite mehr geben wollten. Behörden verboten die Währung jedoch wenig später, woraufhin Shlyapnikov im Frühjahr 2017 den ersten „Dorf-ICO“ durchführte, 750.000 Dollar einnahm und in die landwirtschaftliche Infrastruktur seines Heimatortes Kolionovo, drei Autostunden südöstlich von Moskau, investierte. Heute erproben weltweit auch andere Orte die Infrastruktur-Förderung durch öffentliche ICOs. So plant beispielsweise das Dorf Nishiawakura im Süden von Japans größter Insel Honshu, eine digitale Währung zu verkaufen, um die Erneuerung von Straßen und öffentlichen Einrichtungen zu finanzieren. Bis in Deutschland Ähnliches möglich ist, dürfte jedoch noch etwas Zeit vergehen.

Wie auch im viktorianischen London sind heute in Deutschland die Gesetzesvorschriften streng. Während ab 1845 Grundbesitzer gegen die U-Bahn im Parlament lobbyierten, sind es heute in Deutschland strikte Börsenvorschriften, die ICOs für Bauprojekte teuer und langwierig machen. Anfang des 19. Jahrhunderts hieß die Lösung Charles Pearson – ein Londoner Politiker, Abgeordneter und U-Bahn-Freund. Er setzte sich unermüdlich für den Bau der Untergrundbahn ein, umgarnte Investoren, schlichtete zwischen Unternehmern und versuchte, das Parlament von einer fortschrittsfreundlichen Politik zu überzeugen. Im heutigen Deutschland fehlt ein enthusiastischer Krypto-Politiker bisher.

Bild: Getty Images / Westend61