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TUI-Chef Friedrich Joussen

Die Digitalisierung erfasst die Reisebranche. Bei Flugtickets und Hotels sind Online-Plattformen bereits führend. Doch TUI-Chef Joussen sieht das gelassen. Er erwartet eine andere Machtverschiebung.

Herr Joussen, die Internetgiganten aus dem Silicon Valley mischen längst auch den Tourismus auf. Der Urlaub wird nicht mehr im Reisebüro gebucht, sondern mit einer App. Plattformen wie Trivago, Expedia oder Booking.com dominieren scheinbar das Reisegeschäft. Bereitet die Digitalisierung des Tourismus dem Marktführer TUI Sorgen?

Nicht besonders. Wir sind bei TUI für die Digitalisierung gut gerüstet, da sehen Sie mich ganz gelassen. Außerdem basiert die weitverbreitete Angst vor den Internetgiganten aus dem Silicon Valley meines Erachtens auf einem grundlegenden Missverständnis.

Worin besteht das? Dieses Missverständnis?

Wenn man ins Silicon Valley fährt, um dort etwas über die Software und die Technik der Zukunft zu lernen, dann glaube ich, da läuft etwas verkehrt. Denn über Technik und Software-Entwicklung kann man im Silicon Valley eher wenig lernen.

Wie bitte? Von dort stammen doch die großen, disruptiven Ideen, die viele Branchen vollständig umkrempeln.

Die Ideen ja, aber das liegt nicht daran, dass die Software-Entwicklung dort so bahnbrechend ist. Schauen Sie alleine mal auf die Budgets. Diese sind für Software-Entwicklung bei vielen dieser Silicon-Valley-Startups eher bescheiden. Das Gros der Unternehmen startet seine kommerziellen Dienste mit 30 Mannjahren Softwareentwicklung im Gegenwert von etwa 40 bis 50 Millionen Euro.

Als ich bei Vodafone Deutschland war, hatten wir ein IT-Budget von 300 Millionen Euro und damit ein Vielfaches von dem, das einigen der weltweit bekannten Online-Plattformen in der Innovationsphase zur Verfügung steht. Die Software-Entwicklungsbudgets von Daimler oder Bosch sind ebenfalls sehr viel größer als die von jedem Startup, das Sie im Silicon Valley finden.

Trotzdem machen die US-Startups damit eine Riesenwelle.

Der Unterschied ist: Die von Ihnen genannten Plattformen wie Expedia oder Trivago sind gigantische Reichweiten-Maschinen, die mit einer relativ einfachen Dienstleistung maximal viele Besucher auf die eigene Webseite ziehen. Denn die Internetnutzer sammeln sich ja immer beim größten, bekanntesten Anbieter. „The winner takes it all“, während alle kleineren Wettbewerber von der Bildfläche verschwinden. Maximale Reichweite in kürzester Zeit zu erzielen ist daher das Entscheidende. Die Software-Entwicklung spielt daneben nur eine untergeordnete Rolle.

Das gilt auch für ein weltweit tätiges Reise-Startup, das in der frühen Phase von 100 Millionen Euro Umsatz 80 Millionen Euro Werbegeld im Wesentlichen an Google zahlte, nur um Internet-Traffic auf die eigene Webseite zu lenken. Das ist es, was Sie im Silicon Valley lernen können.

Reichweite zu erzielen?

Im Silicon Valley können Sie alles über Reichweiten lernen, über Ambitionen, die Welt zu verändern, über totale Fokussierung auf das Produkt, über mörderische Schnelligkeit, Wettbewerb rund um die Uhr.

Also keine Angst vor Google & Co.?

Respekt ja, aber keine Angst. Silicon-Valley-Unternehmen sind keine Technikspezialisten, sondern ihrem Wesen nach eher Medienunternehmen. Wer zahlt denn bei Google? Immer nur der Anzeigenkunde, nicht der Nutzer. Booking finanziert sich aus den Provisionen der Hotels, nicht durch den Kunden selbst. TUI hingegen ist ein Kunden-Unternehmen. Ich sage nicht, das eine ist besser oder schlechter – es muss einem nur klar sein, dass die Internetunternehmen von ihren Nutzern nie Geld bekommen.

Trotzdem machen diese Unternehmen im Internet einigen Gewinn mit Dienstleistungen, die theoretisch auch TUI hätte anbieten können. Sie müssen sich vorwerfen lassen, Airbnb nicht selbst erfunden zu haben.

Das Startup-Geschäft hat eben seine Besonderheiten. Von 100 Googles, Airbnbs oder Bookings, die an den Start gehen, überlebt nur eines. Dieses eine früh zu entdecken ist das Geschäft von Risikokapitalgebern. Konzerne wie TUI, aber auch Daimler oder Bosch haben andere Investoren, und die erwarten eine verlässliche Dividende und einen stetigen Cashflow. Die würden uns nicht erlauben, dieselben Risiken einzugehen wie ein Venture-Capital-Geber.

Bekommen Ihre Investoren aber nicht kalte Füße, wenn sie sehen, dass Internet-Startups sich immer größere Stücke vom Kuchen schnappen?

Natürlich sind ganze Industrien durch das Aufkommen des Internets untergegangen. Es gibt heute zum Beispiel keine nennenswerte Plattenindustrie mehr, weil alles über Streaming und Downloads funktioniert. Unsere Investoren müssen sich da allerdings keine Sorgen machen.

Warum nicht?

Weil die Online-Plattformen horizontal organisiert sind: Sie sammeln wie gesagt möglichst schnell viele Nutzer. Mit der eigentlichen Leistungserbringung, also dem Flug oder der Reise, haben sie dann aber nichts zu tun. Wer als Kunde ein Problem mit seinem Hotel hat oder seinen Flug stornieren will, der findet bei den Onlineplattformen keinen Ansprechpartner. Mit dem Fulfillment, der eigentlichen Leistungserbringung, machen wir unser Geschäft.

Was geht Ihnen verloren, wenn Sie Marketing und Vertrieb großenteils an Google auslagern? Dort informieren sich die meisten Menschen ja heute zuerst über ihren Urlaub und nicht auf der TUI-Homepage.

Wären wir noch ein reines Handelsunternehmen, das nur Hotelzimmer einkauft und weiterverkauft, hätten wir mit Onlineplattformen wie Booking ein Problem. Wir sind aber inzwischen ein vertikal integriertes Unternehmen. Das heißt, wir betreiben das Marketing und den Vertrieb zwar auch noch selbst, aber wir machen inzwischen mehr als 50 Prozent des Gewinns mit der eigentlichen Leistungserbringung, also mit unseren Hotels und unseren Kreuzfahrtschiffen.

Sie sind vom Vertriebskanal Google also nicht abhängig?

Wir haben im Augenblick Google-Kosten im zweistelligen Millionenbereich – bezogen auf unseren Umsatz von 17 Milliarden Euro ist das nicht so viel. Und die Kunden, die mal Robinson Club gebucht haben, werden Robinson in Zukunft auch ohne Google finden. Onlineplattformen hingegen zahlen zwischen 30 und 80 Prozent ihres Umsatzes an Google – das ist also eine ganz andere Größenordnung.

Wir nutzen Hotelbuchungsplattformen nur da, wo wir sie brauchen. Zum Beispiel in den USA, wo wir keinen eigenen Vertrieb haben, um unsere Hotels in der Karibik zu füllen. Mit dieser vertikalen Strategie sind wir sehr erfolgreich. In Jamaika haben wir aus Europa heraus zum Beispiel 60 oder 70 Prozent Marktanteil, in Mexiko 50 Prozent.

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TUI-Chef Friedrich Joussen

Die Bundesregierung will einerseits die Digitalisierung in Deutschland beschleunigen. Andererseits sollen Online-Unternehmen wie Airbnb, Uber, Facebook oder Google stärker reguliert werden. Sogar von einem Internetministerium ist die Rede.

Ich halte überhaupt nichts von der Idee eines Internetministeriums. Gerade weil es bei Internet-Startups so sehr auf Geschwindigkeit, Leidenschaft und Wettbewerb ankommt, ist es toxisch, wenn Frau Nahles hier erst mal die 40-Stunden-Woche einführen will. Wenn Sie im Internet erfolgreich sein wollen, brauchen Sie offene Märkte, Deregulierung, Konsolidierung, Skaleneffekte und starken Wettbewerb – aber Sie brauchen keinen Internetminister. Wenn die Bundesregierung offene Märkte zulässt, braucht sie sich um die Finanzierung von IT-Startups keine Sorgen mehr zu machen, die kommen dann von ganz allein.

Ist die Überregulierung schuld, dass Deutschland kaum Reichweiten-Unternehmen wie Google hervorgebracht hat?

Im angelsächsischen Raum gibt es wegen der gemeinsamen englischen Sprache sofort enorme Skaleneffekte. Wo es auf Kontakt zu Konsumenten ankommt, werden die Amerikaner deshalb immer sehr stark sein. In Europa liegt unsere Stärke im B2B-Bereich, also in der industriellen Fertigung, der Ingenieurskompetenz und dem Internet 4.0, der Kommunikation von Maschine zu Maschine: Da werden deutsche Firmen wie Bosch, Siemens oder Daimler unschlagbar bleiben. Die Frage ist nur, ob es darauf noch in Zukunft ankommen wird.

Warum denn nicht?

Vielleicht sind wir dann Weltmeister in einer Disziplin, die in Zukunft nicht mehr so entscheidend ist? Bisher werden deutsche Autos gekauft, weil sie ruhig laufen, viel PS haben oder sich präzise lenken und schalten lassen. Diese Primäreigenschaften treten meines Erachtens zukünftig in den Hintergrund, vor allem wenn wir von der Elektromobilität sprechen. Auch in der Telekommunikation galt: Nokia war unschlagbar bei Akku-Laufzeiten.

Heute kauft niemand mehr ein Handy wegen der Akku-Laufzeit, und Nokia ist vom Markt verschwunden. Das bedeutet: Allein auf der Produktionsseite weltweit führend zu sein ist nicht alles. Das kann den Erfolg im Konsumentenbereich nie vollständig ersetzen. Deutschland und Europa darf diesen Consumer-Bereich nicht völlig aufgeben, und deshalb sind freie, deregulierte IT-Märkte so wichtig. Sie sind auch wichtig, weil die Karten im Internet durch die Blockchain-Technologie bald völlig neu gemischt werden.

Mit der Blockchain-Technik lassen sich Daten und Zugriffsrechte im Internet völlig fälschungssicher verbreiten, ohne dass sie noch über eine zentrale Vermittlerstelle laufen müssen. Die virtuelle Währung Bitcoin, die auf einer Blockchain basiert, kommt so zum Beispiel ohne Zentral- und Geschäftsbanken aus. Welche Rolle könnten Blockchains in der Reisebranche spielen?

Die Blockchain-Technik verändert das Internet von Grund auf – in allen Bereichen. Bislang gab es im Netz Knotenpunkte, die über das gesamte Wissen verfügten, etwa Google oder auch die Flugbuchungsportale. Diese Unternehmen nutzen ihre privilegierte Stellung als Datensammelstelle dafür, monopolartige Gewinne zu machen. Die Blockchain löst diese asymmetrische Struktur auf. Jeder Rechner im Netz ist künftig gleichberechtigt. Jeder kann alle Daten haben. Zentrale Vermittlungsstellen werden damit überflüssig. Die heutigen Internetgiganten verlieren ihre Datenmonopole.

Bislang galt Blockchain als eine Experimentaltechnologie im Internet, die kaum jemand richtig versteht.

Fast jedes große Unternehmen befasst sich derzeit mit dieser Technologie. Blockchain ist nicht im Internet, es wird das Internet sein. Das Netz wird dadurch nicht-hierarchisch. Bislang gab es im Internet ein paar privilegierte Nutzer und viele Dumme. Jetzt reden wir über die Demokratisierung aller Informationsstrukturen. Die Knotenpunkte im Netz werden zerstört. Die Informationen einer Blockchain liegen fälschungssicher und für alle Nutzer sichtbar auf allen Rechnern verteilt.

Diese Revolution wird im Business-to-Business-Geschäft sehr schnell kommen. Irgendwann werden sich damit auch die Regeln im Business-to-Customer-Geschäft wandeln. Unternehmen, die mit der Hotelzimmervermittlung im Internet derzeit noch monopolartige Gewinne machen, müssen sich an den Gedanken gewöhnen, dass in Zukunft potenziell jeder Teilnehmer an einer Blockchain die ganze Information über das verfügbare Bettenangebot bekommt.

Welche konkreten Konsequenzen ziehen Sie daraus für die TUI?

Wir haben im vergangenen Jahr die Bettenbank „Hotelbeds“ für 1,19 Milliarden Euro an Finanzinvestoren verkauft. Denn wenn ich darauf wette, dass die Blockchain kommt, muss sich das Geschäftsmodell einer Datenbank für Hotelbetten enorm wandeln. Wir haben uns damals dazu entschieden, das gesamte Hotelbetten-Inventar der TUI-Gruppe von Grund auf neu zu organisieren und auf eine Blockchain zu bringen. Im ersten Schritt dient uns das intern und bewirkt eine enorme Effizienzsteigerung bei der Steuerung unser Hotelkapazitäten. Eine breitere öffentliche Nutzung für Dritte schließen wir später nicht aus. Wir wollen übrigens auch aus dem Betrieb eigener Rechenzentren aussteigen.

Sie wollen trotz der weltweiten Hacker-Attacke am vergangenen Wochenende alle TUI-Daten der Cloud anvertrauen?

Es gibt wenige große Betreiber von Cloud-Rechenzentren weltweit, zum Beispiel Google, IBM, Amazon und Alibaba. Das sind Unternehmen mit hoch entwickelten Systemen, enorm effizient, zuverlässig und sehr sicher. Eigene Rechenzentren sind teuer. Deren Größe richtet sich nach der theoretischen Spitzenlast – die in der Realität aber nur ganz selten einmal abgerufen wird. Allein die Kühlung der weltweiten TUI-Rechenzentren kostet knapp eine Million Euro pro Jahr.

Insgesamt geben wir jedes Jahr zwischen 450 bis 500 Millionen Euro für unsere Informationstechnik aus. Das ist fast die Hälfte unseres Ergebnisses. Wir könnten hier auch gut mit 20 Prozent weniger auskommen und trotzdem besser sein. Wir haben uns vorgenommen, dass es bis 2025 keine Abschreibungen mehr auf Informationstechnik gibt. Das heißt, ab 2019 investieren wir nichts mehr in proprietäre Systeme. Als Software-Ingenieur halte ich den Gedanken, in Zukunft noch selbst Rechenzentren zu betreiben und dadurch mit den Cloud-Giganten in direkten Wettbewerb zu treten, für einigermaßen absurd.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Welt.de.

Bild: Getty Images /JOHN MACDOUGALL