Für Lieferando fahren zwei Gruppen von Fahrern: Festangestellte und solche, die von Restaurants bezahlt werden und kein Arbeitsverhältnis mit dem Konzern haben.

Ein paar Servietten, die Pappschachtel mit dem bestellten Gericht und die Rechnung – viel mehr ist in der Lieferung des Bringdienstes Lieferando normalerweise nicht enthalten. Entsprechend überrascht war die Linken-Politikerin Sonja Neuhaus, als ihr ein Kurier am vergangenen Sonntag außer ihrer Nudel-Bestellung auch ein Flugblatt überreichte. Der Fahrer bat darin, Trinkgeld weiterhin in bar zu übergeben, da es über die neu eingeführte App-Zahlung nicht ankomme. „Wir als Pizza-Lieferanten bekommen leider keines“, heißt es darin. Das Trinkgeld werde an Lieferando weitergeleitet. Die Lieferanten bekämen nichts. Wie Neuhaus im Gespräch mit Business Insider bestätigte, soll das Flugblatt von einer Pizzeria aus Essen stammen, die Lieferandos Plattform nutzt.

Der Zettel, den die Linken-Politikerin in einem Facebook-Post veröffentlichte, wurde inzwischen mehr als 400 Mal geteilt und dutzendfach kommentiert. Am Montag twitterte auch der Bundestagsabgeordnete Niema Movassat dazu. „Sollte das stimmen, reden wir hier über Kundentäuschung und möglicherweise strafrechtlich über Betrug“, schreibt der Linken-Politiker, der für seine Partei als Obmann im Rechtsausschuss sitzt.

Lieferando weist Vorwürfe zurück

Business Insider hat Lieferando mit den Anschuldigungen konfrontiert. Eine Sprecherin versicherte, dass das Unternehmen das Geld in vollem Umfang an die Kuriere und Restaurant-Partner weiterleite. „Das Trinkgeld, welches unseren eigenen FahrerInnen hinterlassen wird, wird mit der Gehaltszahlung direkt und zu 100 Prozent an die FahrerInnen ausgezahlt. Ebenso erhalten die FahrerInnen eine tägliche und monatliche Übersicht der eingegangenen Trinkgelder.“

Die Darstellung des Unternehmens deckt sich mit den Berichten von mehreren Lieferando-Fahrern, mit denen Business Insider gesprochen hat. Auf Lohnabrechnungen, die wir einsehen konnten, sind die Trinkgelder für Mai und Juni ausgewiesen. Die fehlenden Zahlungen scheinen also kein flächendeckendes Problem zu sein. Aber wie passt das mit dem Flugblatt des Essener Pizzadienstes zusammen?

Trinkgeld kann bei Restaurants hängen bleiben

Die Unternehmensstruktur von Lieferando ist komplex. Unter der Flagge des Lieferdiensts fahren nämlich zwei verschiedene Gruppen von Fahrern: Jene, die bei Lieferando direkt angestellt sind, und jene, die von den Restaurants bezahlt werden und kein direktes Arbeitsverhältnis mit dem Konzern haben. Die Lieferando-Sprecherin stellt dazu klar: „Restaurants, die ihr eigenes Lieferpersonal beschäftigen, erhalten das Trinkgeld ebenfalls zu 100 Prozent und sind selbst dafür verantwortlich, das Trinkgeld an ihr Personal weiterzuleiten.“ Das Unternehmen appelliere „nachdrücklich“ an die Partner, das Geld auch auszuzahlen. Ob das tatsächlich geschieht, kontrolliert offenbar niemand. Nach Informationen von Business Insider handelt es sich auch bei der Essener Pizzeria um ein solches Partner-Lokal mit eigenen Fahrern.

Lieferando kündigte die neue Online-Trinkgeld-Funktion am 19. Mai in einer E-Mail an die Kuriere an. Das sollte nach der Einführung der kontaktlosen Lieferungen sicher stellen, dass die Extra-Einnahmen der Fahrer trotz der Corona-Sicherheitsmaßnahmen nicht einbrechen. „Da ihr das Herz unseres Unternehmens seid, wollen wir euch auch in diesen schwierigen Zeiten die besten Voraussetzungen schaffen, um möglichst viel Trinkgeld von den Kunden für eure harte Arbeit und euren erstklassigen Service zu bekommen“, hieß es in der Mail. Seitdem werden Kunden via App-Benachrichtigung über die Möglichkeit des digitalen Trinkgelds informiert. In der App können sie wählen, ob sie fünf, zehn oder 15 Prozent des Bestellwertes als Trinkgeld geben wollen.

Kuriere berichten von technischen Problemen bei Trinkgeld-Anzeige

Die Fahrer sollen von der spendablen Geste in Echtzeit erfahren. So zumindest die Idee. Lieferando hat mit seinen Kurieren ein Verfahren vereinbart, bei dem die Trinkgeld-Anzeige in der Fahrer-App nach jeder Lieferung aktualisiert wird. So soll genau nachvollziehbar sein, wie viel Geld pro Auftrag ankommt. Das scheint allerdings nicht reibungslos zu funktionieren.

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Aus einem internen Mailverkehr, der Business Insider vorliegt, geht hervor, dass es spätestens seit dem 13. Juli technische Probleme mit der Trinkgeld-Anzeige gibt. Mehrere Fahrer haben uns berichtet, dass die Aktualisierung teilweise nicht funktioniert, obwohl die Kunden glaubhaft versichern, dass sie etwas überwiesen hätten. Mindestens einmal soll das Trinkgeld in der App plötzlich gar nicht mehr angezeigt worden sein. Lieferando ist das Problem bekannt, wie der interne Mailverkehr zeigt. Auf Anfrage von Business Insider teilte die Sprecherin jedoch mit, dass das Unternehmen davon bisher nichts wisse.

Das Vertrauensverhältnis zwischen dem Lieferunternehmen und seinen Kurierfahrern ist schon seit längerem beschädigt. Grund dafür ist der anhaltende Streit über die Arbeitsbedingungen und die Gründung eines konzernweiten Betriebsrats. Erst im April hatte es einen Polizeieinsatz bei einer Lieferando-Betriebsratswahl in Köln gegeben, bei dem eine Führungsperson und mehrere Mitarbeiter verbal aneinandergeraten waren.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Business Insider Deutschland.
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Bild: Takeaway.com