Ziemlich genauer Zustand der Digitalisierung des ÖPNV

„Ich bin überzeugt, dass die Menschen von den Ergebnissen ihrer Leistungsfähigkeit überfordert werden.“ Wie viel Wahrheit in der Aussage des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass steckt, lässt sich jeden Tag auf der Straße beobachten. Zum Beispiel, wenn man einen Touristen vor einem Fahrkartenautomaten stehen sieht. Ratlosigkeit paart sich bald mit Verzweiflung, wenn der Blick über kryptisch beschrifteten Tasten streift. Dabei hätte man doch einfach nur gerne eine Taste auf der steht: Ein Ticket für heute.

Noch amüsanter wird es für denjenigenen, der versucht, sich online ein Ticket für den ÖPNV zu beschaffen. Denn selbst der Erwerb eines Tickets in einer App ist nicht frei von Tücken. Aus unerfindlichen Gründen ist das bezahlte Ticket nicht sofort gültig, sondern erst nach einer Wartezeit von zwei Minuten. Steigt man in eine S-Bahn ein, bevor die zwei Minuten abgelaufen sind, läuft man Gefahr, bei einer Kontrolle als Schwarzfahrer erwischt zu werden. Und nein, das ist kein Witz, so ist einem Kollegen neulich passiert.

Ich darf in Berlin ohne Ticket in eine Straßenbahn steigen, um dort einen Fahrschein zu ziehen (es gibt keine Automaten an den Haltestellen), man darf aber nicht in eine Tram einsteigen und dann sein Onlineticket kaufen.

Ein Standard für alle seit 2003 in der Mache

Der behördlich verordnete Irrsinn ist die eine Sache. Noch absurder wird es, wenn man auf den Gedanken kommt, den Online-Erwerb von ÖPNV-Tickets bundesweit zu vereinheitlichen. Es ist ja gar nicht mal so, als würden die verschiedenen ÖPNV-Anbieter nicht miteinander reden. Tatsächlich spricht man seit 2003 über die Einführung eines gemeinsamen Standards für ein E-Ticket.

Seit 15 Jahren tagen Gremien, Kommissionen, werden Anträge geschrieben, technische Plattformen evaluiert und dann wird alles wieder verworfen. In der Zeit hat Apple das Smartphone, die komplette Infrastruktur drum herum und Apple Pay erfunden. Elon Musk hat in den 15 Jahren Tesla und ein weltweites Schnellladenetz aufgebaut – und er fliegt ins Weltall. Ein bundesweites E-Ticket für Bus und Bahn steht hingegen noch in den Sternen.

Aber 2019 soll es soweit sein, heißt es aus dem Bundesministerium für Verkehr. 16 Millionen Euro wurden locker gemacht, damit es eine zentrale Abrechnungsstelle für ein bundesweites E-Ticket gibt. Komisch nur, dass es noch immer kein einheitliches Ticket gibt. Denn die immerhin 377 beteiligten Verbände wollen zwar bestehende Tarifinformationen standardisieren, aber gleichzeitig auch nicht auf die eigene Tarifhoheit verzichten. Es wird sich also nichts ändern. Die Kommission, die etwaige Anpassungen am System abnickt, tritt nur ein Mal im Jahr zusammen. 

Man darf gespannt sein, was vorher passiert: Ob der BER eröffnet oder ob das bundeseinheitliche E-Ticket kommt. Dummerweise ist der ÖPNV aber zentraler Bestandteil eines digitalen und multimodalen Nahverkehrskonzepts für Metropolen. Der ÖPNV soll auch dafür sorgen, dass die Menschen das Auto stehen lassen und andere Dienste bevorzugen. Doch dafür muss der ÖPNV sich komplett digitalisieren. Es macht wenig Sinn, wenn ich mir per App eine multimodale Route zusammenstelle, um dann am Fahrkartenautomaten oder bürokratischen Ticketregelungen zu scheitern.

Don Dahlmann ist seit über 25 Jahren Journalist und seit über zehn Jahren in der Automobil-Branche unterwegs. Jeden Montag lest Ihr hier seine Kolumne „Drehmoment“, die einen kritischen Blick auf die Mobility-Branche wirft.

Bild: Getty Images / Tsuneo Yamashita