Hohe Preise und bald auch noch händischer Akku-Wechsel: Kunden dürften das neue Konzept von Tier skeptisch sehen.
Hohe Preise und bald auch noch händischer Akku-Wechsel: Kunden dürften das neue Konzept von Tier skeptisch sehen.

Sie stehen morgens an nahezu jeder Ecke und verschwinden meistens mit der Dämmerung: E-Scooter sind aus dem Straßenbild der deutschen Metropolen kaum mehr wegzudenken. Gut ein Viertel ihres Lebens verbringen sie jedoch abseits der Straße. Die meisten Anbieter sammeln die E-Scooter täglich mit Transportern ein und bringen sie zum Laden und Reparieren in eine Lagerhalle. Es ist ein aufwändiges Unterfangen, das nach den Berechnungen der Analysefirma McKinsey knapp 50 Prozent der Einnahmen verschlingt. Seit Beginn des E-Scooter-Hypes halten sich in Investorenkreisen deshalb Zweifel, ob sich mit dem Verleih überhaupt Geld verdienen lässt.

Angesichts des Kostendrucks hat das Berliner Startup Tier Mobility bereits vergangenen Herbst Wechselakkus vorgestellt, die Mitarbeiter an Ort und Stelle austauschen können. Nun geht das Unternehmen einen Schritt weiter: Es will seine Kunden künftig davon überzeugen, die Batterien selbst zu wechseln. Entsprechende Pläne für eine neue Fahrzeuggeneration und ein europaweites Ladenetzwerk hat Tier Mobility am Montag vorgestellt.

Tier will Batterie-Kioske in Innenstädten aufstellen

„Wir wollen Batterien künftig in lokalen Geschäften aufladen – das kann ein Kiosk sein, ein Lebensmittelgeschäft, eine Drogerie oder ein Café“, sagt Tier-Chef und Gründer Lawrence Leuschner. Er beschreibt sein Lade-Konzept wie eine Art Pfandsystem: Kunden können die leeren Akkus bei den Partner-Läden gegen volle Batterien austauschen und erhalten im Gegenzug eine Gutschrift für eine Freifahrt.

Ziel sei es, in den Innenstädten jede 500 Meter eine Station anzubieten. Das sei auch für den Einzelhandel ein Gewinn. „Die Geschäfte freuen sich, dass mehr Leute in die Läden kommen“, so Leuschner. Eine Gebühr werde dafür nicht fällig. Tier stellt allerdings die Ladetechnik (die sogenannten Powerboxen) und übernimmt nach eigener Aussage die Stromkosten.

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Neben dem Ladenetz hat Tier auch eine neue E-Scooter-Generation vorgestellt. Wichtigste Neuerung ist der portable Akku, den die Kunden nun selbst per App entsperren und herausnehmen können. Darüber hinaus verfügen die Fahrzeuge nun erstmals über einen Blinker und eine Helmbox, in die ein faltbarer Helm passt.

Die neuen E-Scooter und das Ladenetz sollen zunächst ab dem 1. September in der finnischen Stadt Tampere getestet werden. Dort hat Tier nach eigenen Angaben bereits 50 Partner für die Ladestationen gewinnen können. Im selben Monat soll die neue Generation dann auch in Berlin und nach und nach in zehn weiteren deutschen Städten ausgerollt werden. Spätestens zum Jahreswechsel soll auch die Ladeinfrastruktur stehen. Welche Partner Tier auf dem deutschen Markt von den Stationen überzeugt hat – etwa Drogerie- und Supermarktketten – teilte das Unternehmen bisher nicht mit.

Technologie von Ex-Tesla-Ingenieur

Tiers Batterie-Strategie hatte sich bereits im Februar angedeutet. Business Insider berichtete damals exklusiv über die Übernahme des britischen Startups Pushme. Das Gründerteam um den ehemaligen Tesla-Ingenieur George Kalligeros entwickelt die Technologie für die tragbaren Batterien und Wechselstationen, die nun bei Tier zum Einsatz kommen.

Tier-Chef Leuschner geht davon aus, dass sich die Technologie über kurz oder lang in der Branche durchsetzen wird. „Da entsteht ein Druck, der die Industrie besser machen wird“. Tatsächlich ist Tier aber nicht das einzige und auch nicht das erste Startup, das an Ladestationen für E-Scooter arbeitet. Auch die ehemalige Uber-Tochter Jump, die inzwischen an Tiers US-Konkurrenten Lime übergegangen ist, entwickelt Lade-Kioske für E-Bikes und E-Scooter.

Ursprünglich stammt das Konzept jedoch aus Taiwan: Das Startup Gogoro betreibt dort ein flächendeckendes Netz von Wechselstationen für E-Roller. Im Unterschied zu den Sharinganbietern basiert das Geschäftsmodell von Gogoro darauf, dass Fahrer die E-Roller kaufen und für den Batterie-Service eine monatliche Abo-Gebühr zahlen.

Hohe Investitionen in Infrastruktur nötig

Ob sich das Konzept auf den Sharingmarkt übertragen lässt, muss Tier noch beweisen. „Ein solches Netzwerk ist mit einem unglaublichen Hardware-Investment verbunden. Zudem muss Tier erstmal an die strategisch gut gelegenen Flächen für die Stationen kommen“, kommentiert etwa der Mobilitätsexperte Augustin Friedel, der neben seinem Branchenblog als Micromobility-Stratege für Volkswagen arbeitet. Die größte Herausforderung sieht der Analyst darin, die Nutzer vom Umweg zu den Ladestationen zu überzeugen.

Darüber hinaus stelle sich die Frage, ob Tier seine Ladeinfrastruktur auch für die Konkurrenz öffne. „{Das Vorbild} Gogoro funktioniert in Taiwan so gut, weil es den Standard setzt. Wenn in den Städten jeder sein eigenes Netzwerk aufbaut, besteht die Gefahr eines Charging-Wildwuchses, wie wir ihn in Deutschland schon bei den Zugängen für die E-Ladesäulen kennen“, sagt Friedel.

Tier Mobility bezeichnet sich selbst als europäischen Marktführer und verweist auf seine Flotte von 46.000 E-Scootern und seine Umsätze, die es allerdings nicht offen legt. Der Sharinganbieter, der inzwischen auch E-Mopeds anbietet, wurde von Lawrence Leuschner, Matthias Laug und Julian Blessin im Jahr 2018 in Berlin gegründet. Heute ist das Unternehmen nach eigenen Angaben in mehr als 70 europäischen Städten aktiv und beschäftigt rund 500 Mitarbeiter. Zu den Investoren des Unternehmens zählen unter anderem Mubadala Capital, Goodwater Capital, White Star Capital, Northzone und Formel-1-Weltmeister Nico Rosberg.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Business Insider Deutschland.
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Bild: Tier Mobility