Mamatha Chamarthi
ZF Digitalchefin Mamatha Chamarthi

Sie hat mehr als 20 Jahre Erfahrung in der Auto- und Energieindustrie. Bei ZF, einem der größten Zulieferer der Automobilindustrie, verantwortet sie als Chief Digital Officer die digitale Transformation. Die Informatikerin und Betriebswirtschaftlerin Mamatha Chamarthi führt den mehr als hundert Jahre alten Automobilzulieferer in die Zukunft der Mobilität. Mamatha Chamarthi wurde in Indien geboren. Sie lebte, studierte und arbeitete lange in den USA und ist nun unter anderem in Friedrichshafen am Bodensee tätig – wenn sie nicht gerade im Flugzeug sitzt. Im Interview mit Gründerszene spricht sie über die Herausforderungen für die Automobilindustrie, die Chancen von Startups und die Zukunft der Mobilität.

Wollen die Menschen Autos nicht mehr besitzen, Frau Chamarthi?

Die jüngere Generation will eher das nächste Supergadget besitzen als ein eigenes Auto. Das ist für mich schwer nachvollziehbar. Aber das Mobilitätsmodell hat sich grundlegend verändert. Die Menschen wenden sich eher Shared-Mobility oder Ridehailing [der über eine App vermittelte Verkauf von privaten Fahrten, Anmerk. d. Red.] zu. Denn wenn das Auto und der Mensch vernetzt sind, kann man die beiden verbinden.

Welche Auswirkungen hat das auf die Autoindustrie? Gibt es da einen Masterplan?

Um auf diese Trends der Automobilindustrie zu reagieren, muss sich unsere Arbeitsweise grundlegend verändern. Das fängt mit dem Design von Produkten an – bei mechanischen Produkten ebenso wie bei digitalen Angeboten. Das gilt auch für Prozesse, die wir für das industrielle Zeitalter entwickelt haben. Es stellt sich die Frage: Sind sie für das digitale Zeitalter noch relevant? Die neue Generation will mehr mitgestalten, mitentwickeln und crowdsourcen. Deshalb muss sich die Industrie fragen, ob die heutigen Innovationsprozesse da noch zeitgemäß sind. Wenn man sich die Produktion und die Lieferkette ansieht, dann verschiebt sich das von „Ich mache und verkaufe das Produkt“ zu einem kontinuierlichen Update des Produkts.

Wird die Industrie dabei mehr zu einem Dienstleister?

Wir bewegen uns vom Verkauf von Komponenten zum Verkauf von integrierten Systemen und von Software-as-a-Service. Ergänzend zum Angebot eines Produktes bieten wir Software-Features an. Das ist in der Industrie noch nicht vorherrschend. Aber es wird mehr Pay-as-you-go-Modelle geben, also nutzungsabhängiges Bezahlen einer Dienstleistung.

Wie wird die geteilte Mobilität die Industrie verändern?

Shared Mobility wird zu großen Fahrzeugflotten führen wie bei Uber, Lyft oder Mytaxi. Man braucht deshalb Lösungen für das Flottenmanagement. Ein privates Auto wird sieben Prozent der Zeit genutzt und steht 93 Prozent in der Garage. Wenn wir aber zu einer höheren Nutzung eines vernetzten Autos kommen, wird es nötig, die Komponenten im Auto zu überwachen und vorausschauend instand zu halten, wie wir das schon mit unserer Openmatics-Plattform anbieten.

Hat die Autoindustrie eigentlich Angst, irgendwann eine Disruption zu verpassen, so wie das bei Nokia oder Kodak geschehen ist?

Der Kodak-Moment ist die größte Furcht. Jede wichtige Disruption hat einige Gewinner und einige Verlierer. Von Mitte der 90er-Jahre bis jetzt sind über 40 Prozent der Fortune-500-Firmen verschwunden. Dieser Effekt lässt sich bei jeder größeren Disruption beobachten. Die Frage für die nächste technologische Disruption ist, ob Google, Amazon und all die großen Technologieunternehmen, Motor der Disruption sind oder ob sie von neuen, bahnbrechenden Startups disruptiert werden.

In einer Rede haben Sie gesagt, Ihr Unternehmen solle das „Netflix der Autoindustrie“ werden. Da greifen Sie sehr hoch.

Das ist keine zu hohe Erwartung. Es ist unser und mein primärer Fokus, ein Netflix der Autoindustrie zu werden. Mehrmals haben wir grundlegende Entscheidungen getroffen. Wir haben als Zulieferer für Zeppeline begonnen. Nur ein paar Jahre später haben wir uns dann auf den Auto- und Industriesektor fokussiert. Wir haben uns kontinuierlich an neue, zukünftige Markttrends angepasst. Eine Firma braucht diese grundlegende Philosophie der Agilität und Anpassungsfähigkeit.

Auf was kommt es da besonders an?

In der heutigen Umgebung, egal ob es sich um eine Person oder eine Firma handelt, ist ein IQ [Intelligenzquotient] und ein EQ [Emotionsquotient] nicht so wichtig wie ein AQ. Das ist der Anpassungsfähigkeits-Quotient [adaptability quotient], der wichtig dafür ist, uns selbst zu transformieren.

Wie soll das gehen? Wird ein Zulieferer wie ZF dann stärker zu einem Tech-Unternehmen?

Wir fokussieren uns zunächst auf unsere Kernkompetenz, mechanische Komponenten herzustellen. Das bleibt auch unsere Grundlage. Aber wir bauen darauf auf und entwickeln gemeinsam mit Techfirmen wie Nvidia [stellt Hardware für AI-Computer her], Baidu [chinesischer Konzern, vergleichbar mit Google, Anmerk. der Red.] und Startups mit starken technologischen Kompetenzen. Wir haben da einige sehr erfolgreiche Projekte. Wir testen, wir lernen und entwickeln uns dabei als Unternehmen ständig weiter.

Welche Rolle spielen Startups in diesem Kontext?

Sie öffnen uns eine sehr frische Perspektive und haben oft einen komplett anderen Blickwinkel auf die Automobilindustrie. Die denken anders. Startups bringen frisches, disruptives Denken, das in einem traditionellen Rahmen nicht möglich ist. Wir fordern zwar auch unsere Mitarbeiter auf, anders zu denken. Aber wir sind uns bewusst, dass wir eine konsequente Infusion des externen Denkens brauchen.

Die Unternehmen der Autoindustrie werden häufig als schwerfällige Tanker beschrieben. Lässt sich in solche Tanker eine neue Kultur implementieren?

Einen großen Tanker sollte man sich eher wie einen vielfältigen Fischschwarm vorstellen. Unsere 146.000 Mitarbeiter haben ein enormes Innovationspotenzial. Vor einem Jahr haben wir das Programm “Who wants to be a digital entrepreneur?” gestartet. Dabei kann unser Management in Mitarbeiter-Ideen mit Innovationspotenzial investieren. Es gab einige sehr erfolgreiche Ideen.

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Gibt es dafür ein Beispiel?

Sound.AI. Zwei Mitarbeiter fragten sich, warum man in automatisierten Fahrzeugen nicht Akustiksensoren nutzt, sondern nur optische wie Radar und Lidar. Daraufhin haben sie Mikrofone in Autos eingebaut. Wenn sich ein Krankenwagen nähert, weiß man meist nicht, aus welcher Richtung er kommt. Sound.AI warnt den Fahrer und informiert ihn, wohin er ausweichen kann. Die Idee kam den beiden Mitarbeitern im März 2017. Im Juli haben sie ein internes Pitch Event gewonnen und daraufhin ein ZF-Investment erhalten. Mit den Ressourcen und dem Budget haben sie ein minimal funktionsfähiges Produkt gebaut, das jetzt weiterentwickelt wird. In weniger als einem Jahr. Das zeigt das enorme Innovationspotenzial.

Was wird die nächste große Innovation in der Autoindustrie?

Ich lasse mich da von der Geschichte der Autoindustrie inspirieren. Henry Ford sagte einmal, wenn man Kunden fragen würde, würden sie um ein schnelleres Pferd bitten. Aber Pferd und Kutsche wurden durch Autos ersetzt. In der Autoindustrie wird noch linear gedacht, dass sich das Auto von einem manuellen zu einem automatisierten Auto entwickelt. Sollte man in der Mobilitätsindustrie diesen Weg gehen? Oder wird es eine exponentielle Disruption geben, die die Autoindustrie verändert – durch zum Beispiel Ridesharing mit Flugtaxis? Wenn wir über die nächsten 20, 30 Jahre hinaus denken, werden wir dann alle Ressourcen der Mobilität auf der Erde nutzen? Oder werden wir den Weltraum für Ressourcen wie Wasser oder Energie erkunden? Ich glaube, die Zukunft ist extrem spannend.

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Bild: ZF