06 Amorelie by Chris Marxen
06 Amorelie by Chris Marxen Die beiden Amorelie-Gründer Lea-Sophie Cramer und Sebastian Pollok

Ein roter Paarvibrator. Auf einem Plakat mitten in der Stadt. Diese Kombination schockte einen Berliner Kolumnisten vor Kurzem so sehr, dass er darüber einen Text verfasste. Zuerst habe er das Gerät für einen Kopfhörer gehalten oder für Salatbesteck, empörte er sich darin. Als er herausfand, um was es sich eigentlich handelte, fühlte er sich massiv gestört. Sehr heftig, sehr massiv sei ihm Sex aufgedrängt worden, beklagte er sich.

Lea-Sophie Cramer, 29, und Sebastian Pollok, 31, können die Aufregung nicht verstehen. Sie sind die Urheber des Plakats. Es war Werbung für ihr Unternehmen Amorelie, einen Onlineshop für Erotik-Spielzeug. Die anschließende Diskussion darüber war willkommen, schließlich machte sie das Startup bekannter – und doch wundert sich die Gründerin darüber ein bisschen: „Wir dachten, dass die Gesellschaft schon so weit sei, dass sie das Wort Orgasmus auf einem Plakat lesen könne“, sagt Cramer.

Geht es nach ihr und ihrem Mitgründer, sollen die Menschen offener über Sex sprechen – er soll kein Tabu mehr sein. Doch wie viel Persönliches geben sie eigentlich über sich selbst preis? Und wie gut kennen sie ihren Geschäftspartner? Das wollen wir wissen und fragen die beiden, ob sie Lust hätten, bei einer Art Hochzeitsspiel mitzumachen – obwohl sie kein Liebespaar sind.

Dafür treffe ich sie in ihrem Firmensitz im Berliner Stadtteil Wedding, in einer alten Fabrikhalle mit unverputzten Wänden, Industrielampen und minimalistischer Einrichtung. Hier liegen Sex-Spielzeuge statt Büchern in den Regalen. Am Eingang stehen Glasvitrinen mit Vibratoren, Klitoris-Stimulatoren und Masturbatoren. Und von der Decke im Flur baumeln zwei Schaukeln – durch sie sollen die Mitarbeiter auf andere Gedanken kommen.

Die beiden Gründer wirken ein bisschen verunsichert, als sie sich in einem Nebenzimmer Rücken an Rücken auf zwei Stühle setzen sollen und in jede Hand ein Sexspielzeug bekommen. Das rosafarbene stehe für Lea, das blaue für Sebastian, erkläre ich ihnen. Ganz einfach. Und ich würde Fragen stellen, die sie mit Handzeichen beantworten sollten.

„Kann man seine Antworten auch im Nachhinein ändern?“, fragt Sebastian. Ich verneine. Schließlich geht es ja gerade darum, spontan zu reagieren. Also los.

Wem ist schneller etwas peinlich?

Lea reckt sofort ihre rosa Liebeskugeln in die Luft. Sebastian zögert noch, dann hebt er den rosa Vibrator. Zwei Stimmen für Lea. „Klar, über Sex kann ich mittlerweile sprechen, ohne rot zu werden“, sagt sie und ergänzt: In den ersten Monaten nach der Gründung sei das noch anders gewesen. „Da konnte ich noch nicht mal das Wort Penisring aussprechen, ohne zu erröten”, so die Unternehmerin.

Wer ist chaotischer?

Dasselbe Ergebnis wie eben, nur dass bei Sebastian der rosa Vibrator noch zögerlicher nach oben geht als vorhin.

Wer macht mehr Überstunden?

Beide stimmen für Lea.

Wer von euch ist der Visionär?

Jeder der Gründer hält sich selbst dafür. Keine Übereinstimmung. Lea erklärt möglichst diplomatisch: „Ich glaube, ich bin eher emotionaler, was das anbelangt, und Sebastian ist rationaler, ruhiger.“

Wer ist der Experte für Zahlen?

Sie stimmen für Sebastian.

Wer ist dominanter?

Jetzt sind beide für Lea.

Wer kann besser mit Geschäftspartnern verhandeln?

Sie zögern. „Kommt darauf an in welchem Bereich“, sagt Sebastian. Und Lea ergänzt: „Wir machen das davon abhängig, mit wem wir gerade zu tun haben.“

Wer redet offener über das eigene Liebesleben?

Leas Hand schnellt mit dem rosa Spielzeug nach oben, Sebastians auch. Er murmelt noch etwas von wegen: Das sei unfair, er sei lange Single gewesen. Weiter geht er nicht darauf ein.

Wer gibt mehr Geld für Erotik-Spielzeug aus?

Auch hier gibt es eine klare Übereinstimmung: Lea.

Und wer nutzt es selbst oft?

„Das ist jetzt zu persönlich“, sagt Sebastian. Lea stimmt zu. So weit geht die Offenheit nicht. „Wir kennen uns sehr gut, aber alles müssen wir dann doch nicht voneinander wissen“, sagt sie. Wir sind damit ohnehin am Ende des Paarspiels angekommen.

Vor Amorelie war sie für Groupon für das Asiengeschäft mit zeitweise mehr als 1000 Mitarbeitern verantwortlich. Sebastian hatte zuvor bereits zwei Startups gegründet. Sei lernten sich kennen, als sie beide als Berater bei der Boston Consulting Group arbeiteten.

Später trafen sie sich zufällig in einer Bar in Berlin wieder. Das war zu einer Zeit, in der der Sadomaso-Schmöker „Shades of Grey“ ganz oben auf den Bestsellerlisten stand und Serien wie „Sex and the City“ und „Girls“ Menschen weltweit über das Liebemachen nachdenken ließen.

„Von meiner Arbeit bei Groupon wusste ich, dass sich Design-Vibratoren gut verkaufen“, sagt Lea. Der Markt für solche Produkte sei da gewesen, nur eine entsprechende Plattform habe gefehlt. Zwar habe es eine Menge Läden für Erotik-Spielzeug gegeben, erinnert sich die Gründerin. In die meisten hätten sich aber Frauen kaum hineingetraut: „Zu 95 Prozent kauften dort Männer ein.“

16 – AMORELIE

Wachstumsrate: 425 %
Gründungsjahr: 2012
Firmensitz: Berlin
Branche: E-Commerce
Webseite: www.amorelie.de

Die beiden Gründer entwickelten ein neues Konzept für einen Webshop und gründeten 2012 dann Amorelie. „Wir wollten den Mainstream ansprechen, designfokussiert und lifestylig“, erzählt die Gründerin. Vor allem wollten sie Frauen ansprechen – die Zielgruppe von „Shades of Grey“ und „Sex and the City“.
Heute sind rund 60 Prozent der Amorelie-Kunden weiblich: „Das ist weniger als gedacht“, gibt Lea zu. Viele Männer kaufen bei dem Sexshop ein, dann allerdings eher Geschenke für ihren Partner oder die Paarbeziehung. Ein großer Teil von ihnen ist zwischen 25 und 45 Jahren: „Generell gilt: Je älter, desto höher der Betrag im Warenkorb“, so die Unternehmerin. Die älteste Kundin sei 78 Jahre gewesen: „Das zeigt doch wieder, dass es beim Sex keine Altersgrenze gibt.“

Ihr wart beide unter 30, als ihr Amorelie gegründet habt. Welche Vorteile hat es, so jung eine Firma zu leiten?

Lea: „Man hat unfassbar viel Energie, weil man noch nicht so viel erreicht hat. Ich überlegte mir am Anfang, wie ich selbst geführt werden will. Was will ich in einem Meeting erleben? Und was erwarte ich von einem Chef? Danach handle ich noch heute.

Allerdings fehlt einem als junger Gründer die Erfahrung.

Lea: „Dafür haben wir auch keine eingefahrenen Arbeitsweisen. Als ich beispielsweise Mama wurde, wäre es tragisch gewesen, wenn wir das Konzept von einem Dax-Konzern abgeschaut hätten. Dann hätte ich nämlich vermutlich kündigen oder beruflich kürzertreten müssen.“

Und wie machst du es jetzt?

Lea: „Nach der Geburt nahm ich mir eine dreimonatige Auszeit. Danach stieg ich wieder in den Beruf ein – und es klappte erstaunlich gut. Wir funktionierten einen Meetingraum zum Kinderzimmer um. Und ein Aupair passte da immer auf den Kleinen auf. Jetzt ist er in der Kita, und ich arbeite voll, also viel mehr als die normalen 40 Wochenstunden. Vielleicht insgesamt 70.“

Warum eigentlich? Kann man nicht auch erfolgreich sein, wenn man nicht so viele Überstunden schiebt?

Lea: „Das sieht jeder anders. Ich glaube nicht, dass es funktioniert, wenn man ein Unternehmen leitet, das jünger als zehn Jahre ist.“
Sebastian: „Es geht ja auch um Schnelligkeit im Geschäft, und da muss man einfach oft präsent sein.“
Lea: „Ich bringe abends das Kind ins Bett und setze mich danach noch an den Rechner. Wahrscheinlich könnte man es auch anders machen, aber ich brauche es einfach so. Ich sehe die Arbeit nicht als Belastung, sie macht mir Spaß. Und wenn was ist, kann ich mich auf Sebastian verlassen.“
Sebastian: „Dafür ist man ja zu zweit.“

Im vergangenen Jahr verkauften die beiden 75 Prozent der Unternehmensanteile an ProSiebenSat.1. Seitdem halten sie noch 25 Prozent an der Firma.Heute macht Amorelie einen Umsatz von etwa 21 Millionen Euro im Jahr, rund 100 Menschen arbeiten für das Startup. Geht es nach den Gründern, soll das Unternehmen noch in diesem Jahr profitabel werden.

Bild: Chris Marxen / Gründerszene

06 Amorelie by Chris Marxen
06 Amorelie by Chris Marxen Die beiden Amorelie-Gründer Lea-Sophie Cramer und Sebastian Pollok

„Anfangs verstanden viele meiner Studienfreunde nicht, warum ich ausgerechnet in den Erotik-Bereich will“, sagt Sebastian. Er, der an den renommierten Wirtschaftsuniversitäten WHU und St. Gallen studiert hat, verdient jetzt sein Einkommen im Sex-Geschäft? Doch spätestens mit dem Exit an den Fernsehsender änderte sich die Meinung der Außenstehenden: „Seitdem fragen mich viele, wie wir das geschafft haben“, erzählt -Sebastian.

Doch auch die Schattenseite des Erfolgs spüren die Gründer. „Wir hätten nicht gedacht, dass wir so schnell kopiert werden“, sagt Lea. Eine starke Auswahl bei den Produkten? Kopiert. Einen übersichtlichen Webshop? Kopiert. Werbung für Sex-Spielzeug, die Frauen ansprechen soll? Kopiert. Die Geschenkboxen? Kopiert. Und das alles mehrfach.

Leas Fazit: „Wir müssen immer schneller sein und neue Produkte anstoßen.“ Zurzeit setzen die beiden vor allem auf drei Dinge: auf Eigenmarken, also Sexprodukte, die sie in ihrem Namen herstellen lassen und die sie nun vermehrt in den Handel bringen wollen. Auf Geschenkboxen, die sie eigens zusammenstellen. Und auf sogenannte Toy-Partys. Das ist das Pendant zur Tupperparty, sprich: Ein Vertreter von Amorelie kommt zu einem Kunden nach Hause und stellt ihm und seinen Freunden Spielzeuge vor. Vor allem Frauen und Paare würden das derzeit buchen, erzählt Lea.

Habt ihr selbst schon mal eine solche Toy-Party bei euch zu Hause geschmissen?

Lea: „Klar, schon oft. Auch von der Konkurrenz, die wollte ich natürlich testen. Das ist aber schon eine Weile her. Heute würden sie wohl stutzig werden, wenn eine Frau Cramer aus Berlin so etwas bei ihnen bestellen würde. Sie kennen mich mittlerweile.“

Und du, Sebastian?

Sebastian: „Wir hatten so etwas mal mit dem ganzen Team, da war ich natürlich auch dabei. Das war ganz witzig. Da gab es beispielsweise Gele, die prickeln. Aber privat habe ich so etwas noch nicht gemacht.“

Sind die Toy-Partys und die Eigenmarken ein Schritt in Richtung Offline-Geschäft?

Lea: „Sicher, so sind wir offline vertreten, aber wir glauben -weiterhin stark an die Vorteile, die das Internet bietet: Anonymität, Schnelligkeit und Zugänglichkeit zu jedem Kunden, auch wenn er auf dem Land lebt.“

Wie groß ist die Gefahr, dass die Konkurrenz noch mehr über den Preis geht?

Lea: „Wir haben das Glück, dass unsere Kunden nicht so sehr auf den Preis achten, sondern auch auf die Leistung. Keiner will ja Waren haben, die schlecht riechen oder eine niedrige Qualität haben.“
Sebastian: „Es geht ja hier um sehr intime Produkte, die den Kunden etwas wert sind.“
Lea: „Aber klar, auch wir achten darauf, dass wir auch preislich mithalten können.“

Für die Zukunft haben sie große Pläne. Zum einen wollen sie weiter wachsen und neue Länder in der EU erschließen. Zurzeit verschickt Amorelie Ware nach Deutschland, Österreich, Frankreich und die Schweiz. Darüber hinaus sei beispielsweise Osteuropa interessant, so die Gründer.
Zum anderen wollen sie sich inhaltlich weiterentwickeln – und jetzt wird es geheimnisvoll. Das Feld der Paarbeziehungen sei weit, erklärt Lea. Sie wolle nicht zu viel verraten, sagt sie, nur das: „Unsere Stärke ist es, über Tabus zu sprechen.“ Und davon gebe es noch eine Menge.

Bild: Chris Marxen / Gründerszene