Amazon macht es Händlern besonders leicht, Produkte über die Plattform zu verkaufen – mittlerweile auch Händlern, die auf den Marktplätzen anderer Länder aktiv werden wollen. Die Folge: Ein extrem umkämpftes Umfeld mit über 550 Millionen Produkten, die über Amazons „Marketplace“, also nicht von Amazon selbst, verkauft werden. Allein in diesem Jahr hätten sich laut dem Analyse-Tool Marketplace Pulse über 670.000 neue Händler auf der Plattform angemeldet, über zwei Millionen Seller sind derzeit aktiv und haben Produkte gelistet. Am stärksten wächst dabei gerade die Zahl der chinesischen Händler, über 25 Prozent kommen schon jetzt aus Fernost – und viele drängen mit allen Mitteln auf die westlichen Märkte.

Marketplace-Händler verkaufen mittlerweile mehr Produkte auf Amazon, als die Plattform selbst (Quelle: Marketplace Pulse)

Fake-Produkte, um in der Buy Box zu landen

Tools wie SellicsAmalyze oder Egrow machen es Händlern einfach, bereits erfolgreiche Produkte zu finden, um diese entweder ebenfalls anzubieten oder ähnliche Produkte zu listen. Das wird jetzt offenbar zu einem immer größeren Problem für kleinere Brands, die zum Teil ausschließlich oder größtenteils bei Amazon Produkte verkaufen. Hersteller aus China bauen die Produkte kurzerhand nach und setzen den Preis deutlich unter dem des Originals an. So landen die Produkt-Faker in der sogenannten Buy Box (hier stehen alle Anbieter und Preise des Produkts und der Nutzer kann es an dieser Stelle in seinen Warenkorb legen).

„Die Realität ist, dass es ein Katz-und-Mausspiel ist“, sagt James Thomson, ein Brand-Berater bei Buy Box Experts gegenüber dem Wall Street Journal. „Es muss ein Weg gefunden werden, mehr und mehr Betrüger von der Plattform zu entfernen. Sobald Amazon eine Lücke schließt, findet irgendjemand eine andere.“ Ein US-Beispiel, wie solch ein Betrug ablaufen kann, ist das von Cal Chan. Sein Unternehmen stellt ein Zahn-Bleichungs-Kohle-Puder her und verkauft es auf Amazon. Laut seiner Aussage haben Betrüger sein Produkt von der Verpackung bis zum Kohlepulver-Inhalt nachgebaut und es für ein Drittel des normalen Preises von über 20 US-Dollar bei Amazon angeboten. Chan flog dadurch aus der Buy Box und musste den Preiskampf mitmachen, damit Käufer nicht mit der Fälschung dastehen.

“In den USA habe ich von verschiedenen Sellern gehört, dass Praktiken wie Fake-Produkte ein Problem sind. In Deutschland habe ich noch keine Beschwerden wahrgenommen“, sagt Sellics-CEO Franz Jordan zu OMR. Offenbar konzentrieren sich die vor allem aus China stammenden Produkt-Fälscher auf den großen US-Markt. Amazon kämpft schon lange gegen die Praxis, bisher hatten sich die Betrüger aber vor allem auf die großen Marken konzentriert. Kleine Brands, die erfolgreich bei Amazon verkaufen, sind nun das einfachere Ziel, weil sich die Original-Händler zum Teil mühsam bei Amazon beschweren müssen, bevor das Günstig-Angebot eines Betrügers entfernt wird.

Auch in Deutschland bald ein Problem?

Eine Amazon-Sprecherin erklärt gegenüber dem Wall Street Journal, dass sich das Unternehmen in 95 Prozent der Fälle innerhalb von acht Stunden um das gemeldete Problem kümmere. Algorithmen und andere automatische Systeme würden eingesetzt, um Betrügereien aufzudecken. Trotzdem hat das Wall Street Journal verschiedene Händler gefunden, die weiterhin mit Fake-Produkten zu kämpfen haben. Der Erfinder des Spiels „Spontuneous“ Rob Ridgeway sagt, dass kurz nach der Registrierung seiner Marke bei Amazon ein ukrainischer Händler auftauchte, der das Spiel für fünf US-Dollar weniger angeboten hat. Nach einer Testbestellung bei diesem Händler wurde klar, dass das Angebot insgesamt ein Fake war, das Produkt wurde nicht einmal verschickt.

Ben Frederick, ein Händler, der Medizin-Produkte auf Amazon verkauft, sagt, dass Betrüger ihn 40.000 US-Dollar Umsatz pro Monat kosten. Selbst am Prime Day habe er die Buy Box eines seiner Produkte kurzzeitig an einen Fake-Produkt-Händler verloren. Sellics-CEO Franz Jordan ist dennoch überzeugt, dass das Problem gelöst werden kann: “Ich gehe davon aus, dass Amazon es schafft, eine Gegenmaßnahme zu finden, bevor solche Praktiken auch deutsche Seller betreffen.” Viele Händler sollten sich fragen, ob sich ihr Produkt ausreichend von der Konkurrenz differenziert oder zu einfach nachzubauen ist. “Chinesische Seller nutzen Tools, um zu schauen, welche Produkte gut funktionieren. Die können sie dann faken, weil einige dieser Produkte aus der Fabrik nebenan kommen”, sagt Jordan.

Die Review-Ökonomie

Das zweite große Feld der Amazon-Tricksereien: gefälschte Klicks und Bewertungen, um das Ranking von Produkten zu verbessern. Jedes Mal, wenn ein Nutzer einen Suchbegriff bei Amazon eintippt, wählt der Amazon-Algorithmus die Reihenfolge der Suchergebnisse anhand verschiedener Attribute aus. Neben Anzahl der Verkäufe, Preis und Prime-Versand-Option sind das Klicks und Bewertungen. Kein Wunder also, dass es laut Wall Street Journal noch immer Klickfarmen in Bangladesh gibt. Dutzende junge Männer würden hier den ganzen Tag Suchbegriffe eingeben und blind auf die Produkte klicken, die einen Ranking-Boost bekommen sollen. Noch aktiver ist aber weiterhin der Markt rund um Bewertungen. Trotz stetiger Versuche von Amazon, Reviews durch Verifizierungen und andere Vorkehrungen vertrauenswürdiger zu machen, ist hier eine ganze Ökonomie entstanden.

Die Plattform Justsend bietet Händlern eine Plattform, um Rabattcodes an Kunden zu geben, die dann Amazon-Bewertungen hinterlassen sollen.

Verschiedene internationale Anbieter werben damit, für monatliche Beiträge zwischen 30 und 180 US-Dollar für jede Menge Bewertungen und Abverkäufe sorgen zu können. Zwei dieser in einer Grauzone agierenden Firmen sind Snagshout und Jumpsend. Beide bieten Sellern eine Plattform, um ihre auf Amazon gelisteten Produkte zu starken Rabatten anzubieten. Nutzer, die das Angebot nutzen wollen, müssen Rabattcodes anfragen und bei der jeweiligen Plattform registriert sein. Nach dem Kauf werden sie dann aufgefordert, eine Bewertung auf Amazon zu hinterlassen.

Black Box China

Ein noch etwas größerer wilder Westen (oder Osten) scheint direkt in China zu herrschen. Laut Wall Street Journal können sich Händler dort Accounts mieten, um ihre eigenen Produkte zu kaufen und zu bewerten. “China ist eine Blackbox. Der typische Seller hat da zwischen zehn oder sogar noch mehr Accounts und kann testen, wie weit er gehen kann”, sagt Sellics-CEO Jordan zu OMR. Manche China-Händler verschicken leere Pakete zu Bekannten in den USA, um dann verifizierte Bewertungen von diesen zu bekommen – eine Tracking-Nummer gibt es ja schließlich. Und über das Phänomen, dass Betrüger auch mal Billig-Produkte an zufällig ausgewählte Adressen in der ganzen Welt schicken, um dann gefälschte Bewertungen abzugeben, hatten wir vor ein paar Monaten schon berichtet.

Laut Amazon sind nur ein Prozent der vielen Millionen Reviews jeden Monat gefälscht. Und das Unternehmen habe über 1.000 Personen bereits wegen Missbrauch der Bewertungsfunktion verklagt. Aber windige Händler sind Amazon offenbar weiterhin einen Schritt voraus. Zuletzt machte unter Amazon-Sellern das Gerücht die Runde, dass Rivalen gefälschte 5-Sterne-Bewertungen bei ihren Wettbewerbern hinterlassen, nur damit der Amazon-Scam-Algorithmus anschlägt und den Konkurrenz-Account eventuell suspendiert. Anders als chinesische Seller mit Hunderten Accounts, kann das für kleine Händler aus Deutschland oder den USA der Todesstoß sein.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei OMR.com.

Bild: Alistair Berg / Getty Images