Die Befürchtung: Firmen, die eigentlich längst geschlossen sein sollten, werden künstlich am Leben gehalten.

Die große Pleitewelle ist bislang ausgeblieben. Sogar das Gegenteil passiert gerade in Deutschland: Im April ist die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im Vergleich zum Vorjahresmonat um stattliche 13,4 Prozent zurückgegangen, meldet das Statistische Bundesamt. Dabei ist das Niveau ohnehin schon niedrig.

Noch dazu bringt die Corona-Krise Hunderttausende Unternehmen stark in Bedrängnis. Branchenverbände jedenfalls betonen im Zuge ihrer Forderungen nach Staatshilfen gebetsmühlenartig die großen Existenzängste vieler Betriebe, allen voran im Handel, der Gastronomie und im Tourismus, aber auch in der Messewirtschaft oder in Bereichen des verarbeitenden Gewerbes.

Doch was nach einem Widerspruch aussieht, kommt für die Datensammler aus Wiesbaden nicht überraschend. Zum einen aus technischen Gründen: „Zwischen dem Antrag und der Eröffnung eines Regelinsolvenzverfahrens vergeht Bearbeitungszeit. Diese Bearbeitungszeit hat sich aber durch den teilweise eingeschränkten Betrieb der zuständigen Gerichte verlängert“, meldet das Bundesamt. „Zum anderen werden die Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung für Unternehmen während der Corona-Pandemie voraussichtlich eine schnelle Zunahme der Insolvenzanträge verhindern.“

Gemeint sind damit sicherlich auch Liquiditätshilfen und KfW-Kredite, vor allem aber die vorübergehende Aussetzung der Insolvenzantragspflicht durch das sogenannte „Gesetz zur Abmilderung der Folgen der Corona-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht“ von Ende März.

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Normalerweise muss ein Unternehmen unverzüglich Insolvenz anmelden, wenn es zahlungsunfähig ist, ansonsten macht sich das Management strafbar. Allein bei absehbaren Geldeingängen gewährt der Gesetzgeber noch einen kleinen Aufschub. Nun aber sind diese strengen Regeln außer Kraft gesetzt – wenn die Insolvenzreife auf den Auswirkungen der Corona-Pandemie beruht und dazu die Aussicht besteht, die Zahlungsunfähigkeit zu beseitigen.

Experten sind entsetzt über diese Regelung. „Die Bundesregierung züchtet Zombieunternehmen“, kritisiert zum Beispiel Volker Römermann, Fachanwalt für Insolvenzrecht, im WELT-Gespräch.

Bei Geschäftspartnern entsteht Unsicherheit

Mit Zombies meint der Jurist Unternehmen, die eigentlich insolvent sind, aber trotzdem noch am Markt agieren und damit andere Unternehmen gefährden. „Sie geben Bestellungen auf, von denen niemand weiß, ob am Ende die Bezahlung kommt“, beschreibt Römermann, der seit mehr als zwei Jahrzehnten Vorstandsvorsitzender des Instituts für Insolvenzrecht ist.

„Man muss sich darauf verlassen können, dass ein Geschäftspartner liquide ist. Wenn Kunden aber nicht mehr anzeigen, dass sie eigentlich insolvent sind, ziehen sie gesunde Lieferanten mit in den Abgrund. Denn die bleiben dann auf den Kosten und auf offenen Rechnungen sitzen.“ Die Folge sei eine große Unsicherheit, mit wem man eigentlich noch Geschäfte machen kann und mit wem nicht, folgert Römermann. „Je unsicherer und asymmetrischer aber die Informationen sind, desto eher tendiert ein Markt zum Stillstand.“ Das sei sogar wissenschaftlich bewiesen, George Akerlof habe dafür 1970 den Nobelpreis bekommen.

Aber nicht nur Römermann sieht durch die Aussetzung der Meldepflicht den Sinn und Zweck des deutschen Insolvenzrechts konterkariert – nämlich andere Unternehmen und damit den Markt insgesamt zu schützen. Auch bei der Wirtschaftsauskunftei Creditreform herrscht großes Unverständnis.

„Dieses Gesetz ist vielleicht gut gemeint, aber weder gut gedacht noch gut gemacht“, sagt Patrik-Ludwig Hantzsch, der Leiter Wirtschaftsforschung, gegenüber WELT. „Es kann dadurch zu ganz erheblichen nachhaltigen Schäden für die Volkswirtschaft kommen.“ Hantzsch spricht von sogenannten Zweitrundeneffekten, also Anschlussinsolvenzen eigentlich gesunder Unternehmen. „Hinzu kommt, dass sich die Pleitewelle nur auf den Herbst verschiebt.“ Sobald die Gnadenfrist ausläuft, komme das böse Erwachen.

Wann dieser Zeitpunkt ist, steht noch nicht fest. Derzeit ist die Insolvenzantragspflicht bis Ende September ausgesetzt. Das Bundesjustizministerium kann diese Frist aber eigenmächtig bis März 2021 verlängern. Die gefährliche Unsicherheit bliebe damit weitere sechs Monate im Markt.

„Versperren leistungsfähigen Startups den Weg“

Und auch die Zombifizierung, die schon durch die lockere Geld- und Zinspolitik der vergangenen Jahre befördert wurde, erreicht dann nach Einschätzung von Creditreform ein noch mal größeres Ausmaß. Mit entsprechenden Folgen. „Die Untoten der Wirtschaft sind in mehrfacher Hinsicht problematisch“, sagt Experte Hantzsch.

„Je länger sie am Markt agieren können, desto höher sind die möglichen Verluste, die sie bei anderen Marktteilnehmern verursachen. Denn sie sind weniger produktiv und innovativ und bieten Produkte und Dienstleistungen oft zu Kampfpreisen an, um an Liquidität zu kommen. Durch ihre Präsenz versperren sie dann aber leistungsfähigen Startups und kleineren Unternehmen den Weg. Weiterentwicklungen werden so verhindert, und Fachpersonal bleibt in maroden Strukturen gebunden.“

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Andere Unternehmen wiederum, die noch weit entfernt sind vom Zombiestatus und tatsächlich kurzfristig und allein pandemiebedingt Probleme bekommen haben, machen sich viel kaputt, wenn sie versuchen, sich durchzuwurschteln, statt zum Insolvenzgericht zu gehen, warnen Experten. „Wer sich früh genug Hilfe holt, hat deutlich bessere Sanierungschancen“, sagt Jurist Römermann. „Dann sind nämlich noch Aufträge und Kunden vorhanden, gute Mitarbeiter und vielleicht sogar Vermögenswerte.“

Noch dazu sei die Insolvenzordnung mit all ihren Instrumentarien auf eine Sanierung ausgerichtet und nicht auf eine Zerschlagung. Eine verspätete Insolvenzanmeldung dagegen mache viel kaputt. Das Signal der Politik, das von der ausgesetzten Insolvenzantragspflicht ausgeht, sei daher verheerend: „Das ist eine Umkehr des bisherigen Systems und letztlich nichts anderes als ein Abschied vom eigentlich gut funktionierenden Insolvenzrecht.“

„Es wird so oder so viele Unternehmen geben, die diese Krise nicht überstehen“

Römermann hätte sich in der Krise stattdessen eine Stärkung des Insolvenzrechts gewünscht. „Dann wäre der Mechanismus, nicht überlebensfähige Unternehmen auszusortieren, funktionsfähig geblieben.“ Doch leider habe am Ende die Psychologie gesiegt. „Großzügige Kredite, schnelles Kurzarbeitergeld und hohe Bürgschaften wirken sich positiv auf das politische Image aus“, erklärt Römermann. Insolvenzen dagegen hätten den gegenteiligen Effekt. Das sei allerdings nicht ehrlich. „Es wird so oder so viele Unternehmen geben, die diese Krise nicht überstehen. Das muss man den Menschen so deutlich sagen. Die Insolvenzwelle wird also lediglich verschoben.“ Alles andere sei Augenwischerei.

Das zeigt auch die Prognose des weltweit führenden Kreditversicherers Euler Hermes. Das Unternehmen aus Hamburg rechnet mit einer heftigen Pleitewelle: Um rund 20 Prozent sollen die Insolvenzen weltweit steigen. Neben den USA stehe dabei insbesondere Europa im Auge des Sturms.

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„2020 bricht die Weltwirtschaft nach unseren aktuellen Prognosen voraussichtlich doppelt so stark ein wie in der Finanzkrise. Die Verluste sind so hoch wie die Wirtschaftskraft von Deutschland und Japan zusammen. Das hinterlässt Spuren wie bei einem Meteoriteneinschlag, die nicht von heute auf morgen wieder verschwinden“, begründet Ludovic Subran, der Chefvolkswirt von Euler Hermes.

Für Deutschland sagt Euler Hermes zum Jahresende ein Plus von zehn Prozent bei den Unternehmensinsolvenzen voraus. Zwar hätten Liquiditäts- und Stabilisierungsmaßnahmen der Wirtschaft erst mal geholfen, sagt Ron van het Hof, der Deutschland-Chef von Euler Hermes. „Die Kehrseite dieser Medaille ist allerdings, dass die Schuldenlast für viele Unternehmen deutlich größer sein wird als vorher.“ Creditreform-Forscher Hantzsch spricht daher von einem Tod auf Raten. „Die Probleme sind zwar aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. Man kann nicht jedes Unternehmen retten, das ist auch nicht gut für die Volkswirtschaft.“

Dieser Artikel erschien zuerst bei Welt.de.

Bild: Tim Mossholder / Unsplash