Streikende Amazon-Mitarbeiter in Leipzig

Ralf Kleber ist immer und überall, wo man ihn trifft, ganz Amazon-Mann. In seinem Büro in München thront mitten auf dem Tisch eine voluminöse Version von Alexa, jenem Sprachsteuerungsgerät, mit dem das digitale Alles-Kaufhaus auch noch die letzte Schwelle zwischen Konsum und Konsument, die Eingabe per Computer oder Smartphone, niederreißen will. Damit der Online-Einkauf noch viel bequemer wird.

Herr Kleber, macht Amazon den Einzelhandel kaputt?

Natürlich nicht. Dagegen sprechen schon die Fakten. In Deutschland liegt der Anteil des Onlinehandels am gesamten Einzelhandelsumsatzes bei etwa zehn Prozent. Gemessen am Welthandelsvolumen, liegt Amazons Marktanteil deutlich unter einem Prozent. Aber natürlich stimmt es, dass Amazon ein erfolgreiches Unternehmen ist.

Es lässt sich nicht wegrechnen, dass der stationäre Einzelhandel in Deutschland seit Jahren stagniert, während der E-Commerce zweistellig wächst. Mehr als die Hälfte davon entfällt auf Amazon und den Amazon-Marktplatz.

Jeder Einzelhändler, der sich auf den Kunden fokussiert, kann erfolgreich sein. Viele haben erkannt, dass der Amazon Marketplace die Tür zu neuen Kundengruppen öffnen kann. Deutsche Händler, die hier aktiv sind, haben darüber letztes Jahr über 2,5 Milliarden Euro zusätzliche Exportumsätze erzielt. Ein Beispiel dafür ist Deutschlands ältestes Spielwarengeschäft, Loebner in Torgau. Es hat in den letzten Wochen Tag für Tag mehrere Lastwagenladungen über Amazon international abgewickelt.

Bei Lebensmitteln ist Amazon dagegen nicht stark. Sie bieten Amazon Fresh lediglich in vier Städten an. Kürzlich haben Sie den Preis für die Fresh-Mitgliedschaft gesenkt und den Dienst für Nichtmitglieder geöffnet. Ein Vorzeichen für die Ausweitung auf weitere Städte?

Wir sind sehr zufrieden mit dem positiven Feedback der Kunden zu unserem Frischeangebot, das wir momentan in Berlin, Potsdam, Hamburg und München ausliefern. Wir arbeiten stetig daran, unseren Service auf Basis unserer Erfahrungen und dem Feedback unserer Kunden zu verbessern. In den USA hat sich Amazon viele Jahre auf die Stadt Seattle begrenzt. Warum? Weil es sehr wichtig ist, die richtige Mischung bei Sortiment, Service, Verpackung und Zustellgeschwindigkeit zu finden, die dem Kunden einen Mehrwert bietet. Es ist keine Eile geboten. Unsere Kunden werden auch in 100 Jahren noch essen, da sind wir uns sicher. Übrigens – zu Lebensmitteln zählt auch das Trockensortiment mit Kaffee, Reis, Nudeln und anderem. Und das haben wir seit vielen Jahren im Angebot.

Zur Person: Amazon war 1999 gerade ein Jahr in Deutschland aktiv, als Ralf Kleber sich von dem US-Startup anheuern ließ. Nach zehn Dienstjahren beim glamourösen Modelabel Escada wechselte der gelernte Betriebswirt zum kaum bekannten Neuling, zunächst als Director Finance and Controlling. Drei Jahre später stieg er zum Country Manager auf und trug als Landeschef entscheidend dazu bei, Deutschland zu Amazons wichtigstem Auslandsmarkt zu machen.

Wollen Sie weitere Städte hinzunehmen oder nicht?

Darüber mag spekulieren, wer will. Wir kommentieren Erweiterungen grundsätzlich immer erst, wenn sie Realität werden. Alles andere nutzt den Kunden wenig.

Warum Preissenkungen, wenn Sie so viel Zeit haben?

Mit der Option, nun auch ohne zusätzliche Fresh-Mitgliedschaft zu bestellen und pro Lieferung zu bezahlen, haben Prime-Mitglieder noch mehr Flexibilität, ihren Wocheneinkauf online zu erledigen.

Werden Lieferungen generell schneller? In den USA hat Amazon angekündigt, Lieferungen per Drohne innerhalb von einer halben Stunde durchzuführen. Bald auch in Deutschland?

Wir bieten in Berlin und München mit Prime Now Lieferungen in einem frei wählbaren Zwei-Stunden-Fenster. Warum sollte das nicht auch schneller gehen? Das heißt nicht, dass jeder Kunde seine Lieferung binnen 30 Minuten will. Wir bauen vielmehr ein Logistiksystem, das in der Lage ist, alle möglichen Wünsche zu berücksichtigen. Ein Kunde will seine Lieferung schnellstmöglich, ein anderer Kunde am Freitag, ein dritter in zwei Wochen. Wir müssen versuchen, all diese Wünsche zu erfüllen, nicht nur wenn es um die Geschwindigkeit geht, sondern auch beim Lieferort – in den Locker, zur Oma, ins Büro. Das Paket soll sich dem Lebensrhythmus des Kunden anpassen, nicht umgekehrt.

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Und dabei hilft die Drohne?

Automatisierte Zustellung kann helfen, diese Vielfalt zu realisieren. Das kann der Zustellroboter sein oder die Drohne. Muss etwa der neue Fahrradschlauch schnell in eine dünn besiedelte Region, ist das mit dem Expressdienst wirtschaftlich nicht darstellbar. Mit einer Drohne womöglich schon.

Und wann ist das so weit?

Die Technik funktioniert bereits, nun geht es um die Luftraumsicherheit. Irgendeine Form der automatisierten Zustellung wird es sicher irgendwann geben.

Auch in den stationären Handel ist Amazon mit Formaten wie dem kassenlosen Supermarkt Amazon Go, mit den Whole-Foods-Biomärkten und weiteren Läden groß eingestiegen – in den USA und Großbritannien, nicht aber in Deutschland. Worauf warten Sie?

Ob und wann wir den Onlinehandel wie und wo ergänzen, sagen wir, wenn es so weit ist. Fakt ist: Wir wissen, dass Kunden offline einkaufen und dass sie Vielfalt mögen.

Wer Ihre Werbung fürs Weihnachtsgeschäft angeschaut hat, bekam den Eindruck, dass die Entwicklung der Sprachsteuerung über Alexa Vorrang hat. Welche Strategie steckt dahinter?

Die Strategie, Menschen eine Freude zu Weihnachten zu machen…

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…und selbst Umsatz zu generieren.

Kleber: Ja klar. Die meisten Händler kombinieren das (lacht). Der smarte Alexa-Lautsprecher Echo Dot wird teils für unter 50 Euro verkauft, das kann man ohne Schmerz verschenken, und die Beschenkten können die Erfahrung machen, wie viel Spaß es bringt, Dinge mit der Stimme zu steuern.

Solche Tiefpreise müssen subventioniert sein. Sie wollen das System in den Markt drücken. Was steckt dahinter?

Amazon hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass man nicht sofort die komplette Gewinnmarge mit allen Elektronikgeräten realisieren muss. Alexa soll den Kunden den Umgang mit allen möglichen Geräten und Services erleichtern. Ich sage zum Beispiel: „Mach mir einen Cappuccino“, und die Kaffeemaschine macht mir einen Cappuccino. Ich steuere den Fernseher mit meiner Stimme oder bestelle mir ein Taxi. Alexa findet Zugang zu mehr und mehr Geräten vieler Hersteller, weil sie zunehmend Anwendungen auf Basis von Alexa entwickeln.

Steuert Alexa die Nutzer in Richtung der von Amazon produzierten Medienangebote wie Filme und Serien?

Natürlich geht das, aber sie können ebenso auf alle anderen Unterhaltungsangebote zugreifen, ob Netflix, die ZDF Mediathek oder DAZN, etwa über den Fire TV Stick. Wir wollen den Nutzer eben nicht in eine bestimmte Richtung zwängen, sondern ihm ermöglichen, inhaltliche Vielfalt und technische Einfachheit zu genießen, genau wie bei unserem Warensortiment.

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Sie betonen die Konzentration auf die Kunden. Weniger zufrieden sind viele Händler auf dem Marktplatz. Sie beklagten unter anderem fristlose Kündigungen von Händlerkonten, unfaire Haftungsbedingungen und die Bindung an den Gerichtsstand Luxemburg. Das Bundeskartellamt musste sich einschalten, um Änderungen zu erreichen.

Wir haben gut mit dem Bundeskartellamt zusammengearbeitet und Verbesserungsvorschläge angenommen. Ich möchte daran erinnern, dass Amazon den Marketplace erfunden hat, um Verkaufspartner erfolgreich zu machen. Die Gesamtheit der Händler hat heute einen Anteil von über 50 Prozent an den verkauften Produkten über die Amazon-Webseiten und ist damit stärker als Amazon selbst. Dank des Marketplace ist es einfach geworden, ein Produkt weltweit anzubieten. Um beispielsweise in Frankreich verkaufen zu können, bräuchte ein Händler eine französische Website, eine französische Produktbeschreibung, er müsste sich um Upgrades, Lieferung und Kundenservice kümmern. All das macht Amazon – die Zahlungsabwicklung, die Übersetzung, das Display. Die meisten Händler sagen: Ein Glück, dass uns das jemand abnimmt. Aber natürlich findet sich immer jemand, der auf Verbesserungspotenzial hinweist. Wir zwingen niemanden, mit uns zusammenzuarbeiten. Wir haben keine Exklusivität.

Die Gewerkschaft Verdi fordert seit Jahren eine Bezahlung der Mitarbeiter nach Tarif. Warum ist Amazon so sperrig, wenn es darum geht?

Amazon ist nicht sperrig. Man sieht nur keine Notwendigkeit, in diesem Punkt mit einem Dritten zusammenzuarbeiten. Man sollte sich von der Vorstellung lösen, dass man nur ein sozial gerechter Arbeitgeber sein könne, wenn man einer bestimmten Vereinigung angehört. Amazon hat gewählte Betriebsräte, wir bieten gute Ausbildungs- und Karrieremöglichkeiten, und wir zahlen ordentliche Gehälter. Darauf sind wir stolz.

In den USA zahlt Amazon mindestens 15 Dollar pro Stunde. Das entspricht, Stand jetzt, etwa 13,40 Euro. Wäre das nicht auch ein schöner Maßstab für Deutschland?

Wir müssen uns an den regionalen Gegebenheiten orientieren. Wir zahlen in Deutschland deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn und auch über dem Branchenschnitt. Der umgerechnete Einstiegslohn für einen Versandmitarbeiter liegt bei mindestens 11,10 Euro. Mit leistungsbezogenen Boni und Jahressonderzahlung kommt ein Mitarbeiter im Jahresschnitt nach 24 Monaten umgerechnet auf knapp 2500 Euro brutto monatlich.

Die Roboterisierung schreitet auch in den Logistikzentren fort. Müssen sich die Mitarbeiter Sorgen um ihre Jobs machen?

Nein, im Gegenteil. In unseren Logistikzentren arbeiten jeweils bis zu 2000 Menschen. Allerdings ist die Flächenausnutzung in den Logistikzentren mit Robotertechnologie effizienter.

Sie hatten angekündigt, die Zahl der unbefristeten Arbeitsverhältnisse in Deutschland 2019 um 2800 auf mehr als 20.000 zu steigern. Ist dies eingetroffen?

Ja.

Gemessen an 650.000 Amazon-Mitarbeitern weltweit und 400.000 allein in den USA, scheint das wenig – zumal wenn man bedenkt, dass Deutschland gemessen am Umsatz der zweitgrößte Markt für Amazon ist.

Deutschland ist geografisch nun einmal ein kleines Land, verglichen mit den USA. Dort deckt Amazon einen halben Kontinent mit sechs Zeitzonen ab. Hier in Deutschland reichen derzeit 13 Logistikzentren.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Welt.de.

Bilder: Getty Images / Sean Gallup (Titel) / Thomas Niedermueller (im Text)