Mammografie ist eine wichtige Krebsvorsorge: Das Berliner Deeptech-Startup Merantix will Untersuchungsergebnisse mit KI verbessern.
Mammografie ist eine wichtige Krebsvorsorge: Das Berliner Deeptech-Startup Merantix will mit Künstlicher Intelligenz Untersuchungsergebnisse  verbessern.

Je komplexer ein Problem ist, um so schwerer fällt es dem Menschen, richtig zu entscheiden. Künstliche Intelligenz kann ihm dann helfen. Im Idealfall kann sie sogar bessere Entscheidungen treffen oder zumindest vorschlagen.

Adrian Locher und Rasmus Rothe trainieren Computer, Röntgenbilder der Brust (Mammografien) selbstständig zu beurteilen, wie sie etwa für die Brustkrebsvorsorge angefertigt werden. „Die Befundung von Mammografien gilt als äußerst komplex und erfordert vom Menschen viel Erfahrung und spezifisches Training. Gleichzeitig ist die mammografische Auswertung aber eine sehr repetitive Tätigkeit mit einem hohen Volumen an Untersuchungen“, sagt Locher. „Radiologen stehen oft unter Zeitdruck und machen aufgrund von Ermüdungserscheinungen Fehler, die zu verhindern wären.“ 

Die Gründer haben sich mit ihrem Deeptech-Startup Merantix auf dieses Gebiet spezialisiert und bauen seit zwei Jahren Plattformen für die Kommerzialisierung von Künstlicher Intelligenz auf. Die erste wird in diesen Wochen ausgegründet. MX Healthcare soll das Leben Tausender Frauen retten.

Dem Jahresbericht des Deutschen Mammographie-Screening-Programms zufolge wurden im Jahr 2015 insgesamt 2,9 Millionen Frauen untersucht. Bei 123.000 wurden Auffälligkeiten im Brustgewebe registriert. Nach Biopsien wurde bei 17.000 Frauen (also 0,6 Prozent der Untersuchten) Brustkrebs diagnostiziert.

KI unterstützt den Arzt

Merantix will das Mammografie-Screening beschleunigen und sicherer machen. „Wir entwickeln ein System, das einen Vorfilter darstellt und dem Arzt sagt, wo er noch mal genauer hinschauen sollte“, sagt Locher.

Merantix-Gründer Adrian Locher.
Merantix-Gründer Adrian Locher

Er ist davon überzeugt, dass eine Maschine Gewebeveränderungen besser erkennt als der Mensch: „Würde man einen Arzt vor der Diagnose 50 Jahre trainieren, dann wäre er auch super. Aber das ist de facto nicht möglich.“

Doch Maschinen lassen sich trainieren. Merantix hat dazu bislang eine Million Mammografien analysiert. „Das sind vier Millionen Röntgenbilder, Biopsien und Befunde mit insgesamt 130 Terabyte an Daten“, sagt Rothe. Nachdem diese Daten in der Cloud gespeichert und aufbereitet sind, kann der Algorithmus an ihnen lernen, gesundes und krankes Gewebe zu unterscheiden.

Die Computer von Merantix analysieren ein Vielfaches der Bilder, die ein Arzt in seinem Berufsleben zu sehen bekommt: Ein Arzt muss laut Bundesmantelvertrag für die ärztliche Versorgung 5.000 Befunde innerhalb eines Jahres nachweisen, um eine Zulassung für solche Untersuchungen zu erhalten. Das sind 0,5 Prozent der Befunde, die der Merantix-Computer bislang zum maschinellen Lernen erhalten hat.

Maschinen lernen rund um die Uhr

„Ein solches System kann besser werden als der Mensch“, sagt der Gründer. Denn die Maschine arbeitet in wiederkehrenden Kreisläufen, gleicht Biopsien immer wieder mit Bildern und Befunden ab und lernt dabei, Tag und Nacht, an sieben Tagen pro Woche. Doch die finale Entscheidung trifft der Arzt. Er steht mit seiner Diagnose in der Verantwortung gegenüber der Patientin.

Merantix-Gründer Rasmus Rothe.
Merantix-Gründer Rasmus Rothe.

Dass der Algorithmus irgendwann selbst entscheiden wird, steht für Locher fest. „Da sind wir eher auf der progressiven Seite und können und vorstellen, dass ein Arzt bestimmte Entscheidungen eher dem Algorithmus überlässt, weil es erwiesen ist, dass der genau gut oder besser als der Mensch ist“, sagt Adrian Locher. „Bei der Bilderkennung sind wir bereits auf dem Level eines normalen Radiologen.“

In welchem Umfang sich diese Entwicklung durchsetzen wird, ist eine Frage des Marktes und der Einstellung der Menschen zur Technologie. „In einem schnell wachsenden unterversorgten Markt mit hoher Nachfrage sind Menschen zugänglicher für neue technologische Lösungen.“ Merantix arbeitet deshalb mit Teleradiologiefirmen in Spanien und Polen zusammen.

„Um Künstliche Intelligenz in der medizinischen Diagnostik möglichst schnell in die breite Versorgung zu bringen, gehen wir auch den Weg über die Bundesländer und Krankenkassen. Dort ist die Resonanz groß und ermöglicht es uns, unsere Systeme zügig massentauglich zu machen.” Denn als sicher gilt: Auf lange Sicht wird die maschinelle Diagnose nicht nur treffsicherer sein sondern auch billiger als die menschliche.

Early Adopter kooperieren mit Merantix

Krankenhäuser sind allerdings nicht die einfachste Zielgruppe. Locher ist überzeugt: „Europäische Krankenhäuser müssen sich gegenüber dem digitalen Wandel erst noch öffnen. Als Merantix arbeiten wir mit ersten Early Adopters – sehen aber tagtäglich, wie weit hinterher wir in Deutschland eigentlich sind.”

Der Gründer ist dennoch zuversichtlich: Auch die Krankenhaus-Branche wird disruptiert. „Wir sind der festen Überzeugung, dass sich die Diagnostik als Industrie stark verändern wird. Technologie wird ein wichtiger Treiber sein, dass Menschen zur richtigen Zeit die richtige Diagnose bekommen, beispielsweise durch telemedizinische Systeme.“

Computer übernehmen Diagnostik

Es werde verteilte Zentren geben, wo die Patienten hingehen. Aber die Analyse werde mit KI-Unterstützung zentral gemacht. „Die ganze Labordiagnostik, die auf bildgebenden Verfahren basiert, das sind alles Themen, die aus unserer Sicht über kurz oder lang nicht mehr von Menschen alleine gemacht werden.“

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Die Mammografie-Diagnose ist nur ein erster Baustein für Merantix. „Wir entwickeln eine Plattform, die auf andere medizinische Modalitäten angewendet werden soll. Überall wo bildgebende Diagnostik eingesetzt wird, ist Potenzial für eine solche Lösung.“

Zugang zu Wertschöpfungsketten

Hier unterscheidet sich das Deeptech-Unternehmen von Startups, die reine Software-Pakete für einzelne Anwendungen anbieten. Merantix setzt dagegen auf die Plattformökonomie. Denn: „Wer keinen Zugang zu Wertschöpfungsketten hat, kann einfach von Konkurrenten ersetzt werden“, sagt Locher. Merantix setzt dagegen auf eine Workflowlösung, in die sich der Radiologe einloggt und alle Befunde erhält. Er kann sich die Bilder anschauen und bekommt dabei algorithmische Unterstützung.

Merantix hat es sich zur Aufgabe gemacht, Unternehmen wie MX Healthcare aufzubauen. Zehn Millionen Euro aus eigenen Mitteln und einer Investitionsrunde stehen den Gründern dafür zur Verfügung. „Wir haben uns am Anfang gefragt, was Machine Learning in Industrien bewirken wird. Gemeinsam mit Unternehmen haben wir dann Business Cases entwickelt, um zu verstehen, welchen Einfluss Machine Learning auf diese Industrien haben wird“, sagt Locher zurückblickend. Nach seiner Einschätzung liegen die größten Potenziale dort, wo lernende Maschinen neue Märkte für Plattformen mit eigenen Wertschöpfungsketten ermöglichen.

Merantix will zehn Unternehmen aufbauen

„Unsere Vision ist, dass wir in zehn Jahren zehn Unternehmen aufbauen“, sagen die Gründer. Startup Nummer Zwei und Drei sind bereits in Arbeit: ein eher projektbezogenes Lab für industrielle KI-Themen und eine Testumgebung für die Software selbstfahrender Autos (Validation-as-a-Service) und ein

Letztere gibt der Automobilindustrie die Möglichkeit, die Algorithmen ihrer Selbstfahr-Software zu überprüfen. Diese beruht auf Karten und Sensordaten. „Das hilft Autoherstellern in Deutschland, schneller mit der Entwicklung voranzukommen und nicht von China und den USA abgehängt zu werden“, sagt Rothe.

Das Besondere hier: das Produkt, mit dem Merantix Geld verdienen will, ist kein Machine-Learning-Produkt, sondern eine Testlösung für Machine-Learning-Produkte. „Um diese zu bauen, brauchen wir viel Wissen über Machine Learning.“ Für die Autohersteller hat dies den Vorteil, die Zuverlässigkeit ihrer Selbstfahr-Systeme zu simulieren. Dadurch sparen sie viele Erprobungskilometer auf Straßen. Merantix könnte hier zur Zertifizierungsinstanz für die Automobilindustrie werden – sozusagen eine Zweitmeinung. „Seit Dieselgate ist die Industrie vorsichtiger geworden“, sagt Rothe.

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Bilder: Getty Images / AFP / Merantix / Urban Zintel