Hochbegabte Gründerin Nicole Gerecht: „Mein Kopf ist manchmal auch mein größter Feind“
Uniqate-Gründerin Nicole Gerecht: „Mein Kopf ist manchmal auch mein größter Feind“

Dieser Text erschien zuerst am 5. Juli 2019. Weil er besonders viele Leserinnen und Leser interessierte, veröffentlichen wir ihn an dieser Stelle erneut. 

Sie spielen am liebsten Schach, lachen über Chemiker-Witze und sind auch sonst eher verschrobene Typen – es gibt viele Vorurteile über Hochbegabte. Dabei ist es eher unwahrscheinlich, jemanden zu kennen, der so intelligent ist. Denn als hochbegabt gelten in der Bevölkerung nur etwa zwei von 100 Personen. Ihr IQ liegt bei über 130. In Deutschland trifft das auf rund 1,6 bis 1,8 Millionen Menschen zu.

Nicole Gerecht ist eine von ihnen. Während ein Großteil der Bevölkerung, circa zwei Drittel, bei IQ-Tests Werte zwischen 85 und 115 erreicht, hat die 33-Jährige einen Wert „jenseits der 130“ geschafft. Wie hoch er genau ist, will sie nicht verraten. In der Hochbegabten-Community sei das so üblich, sagt sie im Gespräch mit Gründerszene. Als Beleg zeigt die Unternehmerin ihren Mitgliedsausweis beim Hochbegabtenverein Mensa. Zulassungsvoraussetzung: ein IQ über 130.

Gerecht machte in der Gaming-Branche Karriere, verantwortete zum Beispiel beim Spieleentwickler Infernum Productions das Marketing. Heute arbeitet sie an einem „Linkedin für Hochbegabte“, einer Plattform, auf der Frauen wie sie ihresgleichen finden sollen.

Nicole, dass du hochbegabt bist, weißt du seit etwa eineinhalb Jahren. Was hat die Diagnose mit dir gemacht?

Sie hat total viel Klarheit geschaffen. Plötzlich ergab alles Sinn und war einzuordnen. Ich erinnerte mich zum Beispiel an unzählige Meetings in meiner Zeit als Angestellte, aus denen ich weinend raus bin und dachte: „Will man mich hier eigentlich veräppeln?“ Ich musste Dinge in Endlosschleife erklären. Erst im Nachhinein habe ich verstanden, dass mir Leute nicht immer folgen können. Ich musste also auch lernen, anders zu kommunizieren. Es ist auf beiden Seiten ein Annähern.

Warum? Ticken Hochbegabte im Alltag wirklich so anders?

Wir denken schneller und übergeordneter, würde ich sagen. Die klassische Hochbegabung gibt es nicht, aber Betroffene haben oft Mosaik-Lebensläufe, ein Beispiel ist die Mathelehrerin, die nebenbei Architektur studiert. Diese vermeintlich wirren Wege schrecken viele Recruiter ab. Und wenn wir jemanden zum x-ten Mal verbessern, tun wir das aus meiner Sicht nicht, weil wir Spaß daran haben oder klugscheißen wollen, sondern weil wir auf Fehler aufmerksam machen möchten. Es gibt Kollegen, die sich dadurch bedroht fühlen. Um nicht aufzufallen, drosseln viele Hochbegabte im Job deshalb ihre eigentlichen Kompetenzen.

Eine repräsentative Befragung der Uni Duisburg-Essen kam 2016 zu dem Ergebnis, dass ein Großteil der Bevölkerung Hochbegabte eher kritisch sieht. Von den 1.029 befragten Erwachsenen wurden Hochbegabte mehrheitlich als leistungsfähig, aber auch als sozial inkompetent und emotional problematisch eingeschätzt.

Es gibt der Studie zufolge allerdings keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass sich Hochbegabte in sozialer Hinsicht signifikant von der übrigen Bevölkerung unterscheiden, zum Beispiel eher gestresst sind, sich besonders unangemessen verhalten oder anders schlafen. Der Marburger Psychologe und Hochbegabtenforscher Detlef H. Rost schreibt: „Hochbegabte denken nicht anders als andere Menschen, nur schneller.“

Du sprichst von „Betroffenen“. Sollten durchschnittlich intelligente Menschen so etwas wie Mitleid haben?

Es kommt darauf an. Kein Extrem ist erstrebenswert. Wenn man sich fühlt, als sei man auf einem falschen Planeten ausgesetzt, und das zu sozialer Isolation führt, ist das schon ein trauriges Gefühl.

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Auf der Arbeit offen zu sagen, dass man cleverer ist als der Rest, löst sicher auch Neid aus.

Der Fakt ist da, da können die Kritiker meckern und strampeln so viel sie wollen. Das Konstrukt besagt ja, dass wir per se intelligenter sind. Ich kenne aus meinem näheren Umfeld aber auch keine Hochbegabten, die mit dieser Eigenschaft prahlen würden. Das widerstrebt uns, wir sind in meinen Augen extrem gerechtigkeitsliebend. Viel trauriger macht mich, wenn aus der Community das Feedback kommt: Darüber spricht man nicht, wir sollten uns weiter verstecken.

Eine Studie der Ruhr Uni Bochum bescheinigte Hochbegabten im Job eine niedrigere Führungs-, aber eine hohe Gestaltungsmotivation. Die Autoren der Studie schreiben in ihrem Forschungsbericht: „Normalbegabte sind oft irritiert, wenn sie merken, dass Hochbegabte mitnichten die Führung wollen, sondern nur Prozesse verbessern möchten. Oft wollen letztere nur in Ruhe ihre Arbeit tun.“

Du bist vor fünf Jahren Mutter geworden. Was hat sich dadurch für dich verändert?

Ich kam in eine Art Identitätskrise. Dada-Dudu war zu wenig für mich. Ich hatte davor immer von morgens bis abends gearbeitet, diese Aufgabe ist dann weggebrochen. Ich bin in der Folge in ein tiefes Loch gefallen, hatte einen psychischen Zusammenbruch, eine starke Depression. Ich war krank, auch körperlich, konnte kaum laufen. Als hochbegabte Vollzeit-Mami bist du noch gedrosselter. Und Drosselung ist für uns der absolute Tod.

Und dann hast du dich testen lassen?

Genau. Mit dem Testergebnis kam bei mir der Gedanke: Wer weiß, wie viele Menschen da draußen noch hochbegabt sind ohne es zu wissen. Als ich einer Person aus meinem Freundeskreis davon erzählte, war die erste Reaktion: „Jetzt hältst du dich wohl für etwas Besseres.“ Das hat mich wirklich tief getroffen und mir gezeigt, dass viel Aufklärungsarbeit notwendig ist. Uniqate ist auch vor diesem Hintergrund entstanden.

Uniqate versteht sich als Business-Netzwerk und soll dazu beitragen, Hochbegabte im Berufsalltag besser zu fördern und Jobs zu vermitteln. Partnerunternehmen zahlen unter anderem dafür, über Uniqate Mitarbeiter zu rekrutieren. Wer sich registrieren will, muss den Nachweis eines Begabungsdiagnostikers oder eine Mitgliedschaft beim Hochbegabtenverein Mensa e.V. vorlegen. Uniqate bietet auch einen kostenpflichtigen Online-IQ-Test. Wer mit 130 und darüber abschneidet, darf sich registrieren.

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Uniqate-Gründerin Nicole Gerecht: „Mein Kopf ist manchmal auch mein größter Feind“

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Auf drei getestete Männer kommt eine getestete Frau, obwohl Hochbegabung in der Gesellschaft relativ gleich verteilt ist. Der Grund dafür ist, dass sie bei Frauen seltener vermutet wird. Eltern halten meist ihre Söhne für hochbegabt. Intelligenz und Frau – das ist der Gesellschaft irgendwie aberzogen worden.

Am IQ-Konstrukt wird kritisiert, dass nur bestimmte Fähigkeiten gemessen werden (Logik, Analyse), nicht aber zum Beispiel sportliche oder musikalische Begabungen.

Unternehmen sollen über deine Plattform auch Personal rekrutieren. Um welche Jobs geht es?

Wir können unterschiedliche Branchen und Positionen bedienen – vom KMU bis zum Corporate. Aber nehmen wir als Beispiele Quality Assurance oder Business Intelligence. Wir sind gut darin, in Sekundenschnelle Fehler zu finden. Mich selber macht es glücklich, wenn ich daran denke, dass ich Daten auswerten darf. Abstrakte Denken bereitet vielen von uns Freude.

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Du sagst, dass Hochbegabung für die Diversitäts- und Inklusionsabteilungen von Unternehmen ein Thema ist – inwiefern?

Die Öffentlichkeit hat die krudesten Vorstellungen davon. Mit Seminaren in Firmen wollen wir mit den Vorurteilen aufräumen. Ich weiß von Gesprächspartnern, dass sie Kollegen oder Freundinnen mit ganz anderen Augen sehen, seitdem sie mehr über Hochbegabung erfahren haben. Sie denken nicht mehr: der Klugscheißer, die Besserwisserin.

Du hast unter anderem ein Germanistik- und Chinesisch-Studium angefangen, aber nichts abgeschlossen. Wieso?

Das Hochschulsystem hat mich auf eine besondere Art gestresst – ich habe ein anderes Empfinden für Zeit. Außerdem fand ich das Machen schon immer spannender als das Theoretisieren. Und ich musste immer schon arbeiten, mein Geld verdienen, weil ich aus eher prekären Verhältnissen komme. Deshalb hat es mich nicht lange an der Uni gehalten.

Wie verbringst du deine Freizeit?

Klar: Familie. Ich bin aber auch Gamerin, stehe voll auf Daddeln. Alles, was digital ist, finde ich spannend. Künstliche Intelligenz zum Beispiel. Jemand sagte mal zu mir: Durch deine Adern fließen Daten! Ich bin halt ein richtiger Nerd. Außerdem bin ich bin total gerne alleine. Wenn ich mich mit jemandem treffe, dann sehr ausgewählt. Mir ist aber wichtig zu sagen: So hochsensibel sind nicht alle Hochbegabten.

Hat die Hochbegabung für dich auch negative Seiten?

Mein Kopf ist manchmal auch mein größter Feind. Sobald ich aufwache, denke ich sofort total verästelt, was extrem anstrengend ist. Ich muss mit Hörbüchern einschlafen, damit ich mich auf etwas konzentriere. Für mich ist Unterforderung das Schlimmste, Überforderung kenne ich eigentlich nicht. Am Tag habe ich einen harten Cut, wenn ich meinen Sohn aus dem Kindergarten abhole. Sobald er im Bett ist oder mein Mann mich früher entlastet, setze ich mich wieder an die Arbeit. Andere sagen dann: Achtung, du rennst massiv ins Burnout. Aber ich brauche das genauso – viele andere Hochbegabte auch.

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Wo du gerade von deinem Mann sprichst: Ist er auch hochbegabt?

Es gab noch keinen Test, aber wir glauben nicht. Er ist aber auf jeden Fall ein intelligenter Mann. Und ein Mann ohne Ego-Probleme. Viele intelligente Frauen sind alleine. Das ist die nächste Krux. (flüstert) Deshalb brauchen wir auch irgendwann Männer auf der Plattform.

Du hast es also auch auf die Dating-Branche abgesehen – kommt das Tinder für Hochbegabte?

(lacht) Ein bisschen nachhaltiger wäre gut. Aber klar, da ist viel in der Schublade.

Bild: Nicole Gerecht