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Kunden legen ihre Belege in die Box, das Startup scannt: Mithilfe von Zeitgold sollten Selbstständige ihre Buchführung zeitsparend vereinfachen können.
Kunden legen ihre Belege in eine Box, das Startup holt sie ab und scannt sie ein: Zeitgold wollte Selbstständigen die Buchführung erleichtern. Doch die Idee wurde kein Erfolg.

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Es war Ende Juli die Nachricht in der Berliner Startupszene: Das mit mehr als 50 Millionen Euro finanzierte Fintech Zeitgold stellt seinen Buchhaltungsservice überraschend ein – und entlässt 75 von 120 Angestellten. Dabei hatte das Unternehmen erst im Mai 27 Millionen Euro von Investoren erhalten.

Das Ziel des fünf Jahre alten Fintechs war ambitioniert. Mithilfe einer KI-gestützten Software wollte Zeitgold die Zettelwirtschaft in Kleinunternehmen beenden. Laden- und Gastronomiebetreiber deponierten ihre Rechnungen, Mahnungen und Dokumente in einer Box, die ein Kurier regelmäßig abholte. Die Unterlagen hat Zeitgold digitalisiert, per Algorithmus in eine logische Ablage gebracht und an den Steuerberater weitergereicht. Die App des Startups erstellte zeitgleich eine To-do-Liste und erinnerte die Kunden an Zahlungsfristen.

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Den „unvermeidlichen“ Stopp ihres Services erklärten die Zeitgold-Gründer mit hohen Betriebskosten, aber auch mit den Folgen der Corona-Pandemie. „Obwohl die Krise das Bedürfnis nach digitaler Zusammenarbeit seitens Unternehmern und Steuerberatern weiter verstärkt hat, erschwert das derzeitige Wirtschaftsklima es gleichzeitig, unser Geschäftsmodell weiter zu betreiben“, teilte das Fintech in seinem Blog mit. Offenbar hatten viele Kunden ihre Verträge mit Zeitgold gekündigt, um während des wochenlangen Lockdowns Kosten zu sparen.

Steuerberater-Chaos, gestrichene Features, hohe Mehrkosten

Wie Gründerszene-Recherchen nun zeigen, gab es bei dem Berliner Fintech offenbar auch massive Probleme im Vertrieb. Ehemalige Kunden, mit denen Gründerszene gesprochen hat, klagen über chaotische Zustände bei einer Steuerberatungskanzlei, die ihnen Zeitgold vermittelte. Zudem seien einst vom Fintech beworbene Produktfeatures unerwartet gestrichen worden. Durch diese Missstände sollen Kunden Mehrkosten von bis zu mehreren Tausend Euro entstanden sein.

Eine der Betroffenen ist Manuela Rehn. Die Inhaberin eines Lebensmittelgeschäfts in Berlin-Mitte wurde vor anderthalb Jahren durch eine Werbeanzeige bei Facebook auf Zeitgold aufmerksam, wie sie Gründerszene erzählt. Das Startup versprach, Kunden mithilfe seiner Software zehn Arbeitsstunden zu ersparen. Das ist die Zeit, die Kleinunternehmerinnen wie Rehn normalerweise pro Woche für die Buchhaltung aufwenden. Für die Berlinerin klang das gut: „Damals habe ich meinem Steuerberater jede Woche etwa 50 bis 60 Belege per Post geschickt, die ich hinterher nie wieder abrufen konnte“, sagt sie. Der Abholservice von Zeitgold kombiniert mit der Smartphone-App schien ihr die perfekte Lösung.

Doch Zeit habe sie mit dem Service nicht gespart, erzählt Rehn – im Gegenteil: Ihr zufolge erschien der Kurier oft nicht am verabredeten Tag, Belege wurden von der Software regelmäßig falsch oder doppelt erfasst und vereinzelt sogar Überweisungen auf fremde Bankkonten veranlasst. „Es ist das absolute Chaos entstanden“, resümiert die Ladenbesitzerin.

Vor allem die Zusammenarbeit mit der Berliner Steuerberatungsgesellschaft Pioneer, die viele Zeitgold-Kunden betreute und sich auch um die Lohnbuchhaltung kümmerte, habe sie deswegen Zeit und zusätzliches Geld gekostet. Statt 5.800 Euro in 2018 habe sie vergangenes Jahr Kosten von mehr als 10.500 Euro für die Buchführung aufwenden müssen. „Also fast das Doppelte, weil alle Buchungen aus einem Halbjahr nachträglich korrigiert werden mussten“, so Rehn, die nach fünf Monaten entnervt bei Zeitgold kündigte und den Steuerberater wechselte.

Schlechte Bewertungen bei Google 

Andere Kunden berichten gegenüber Gründerszene von ähnlichen Problemen. Michel Malcin, der in Ibbenbühren bei Osnabrück ein kleines Café betreibt, wollte seine Buchhaltung zu Januar 2020 über Zeitgold abwickeln. Der Vertrag mit dem Fintech kam auch zustande – nur die Arbeit der Steuerberater von Pioneer ließ auf sich warten. Laut Malcin war die Kanzlei telefonisch kaum erreichbar, obwohl er monatlich rund 200 Euro für den Service von Zeitgold zahlte

Nach drei Monaten ohne Leistungen habe Pioneer dem Cafébesitzer das Mandat von sich aus gekündigt. „Wir mussten daraufhin mitten in der Corona-Krise noch einmal den Steuerberater wechseln, was zusätzliche Honorarkosten von 600 Euro verursacht hat“, sagt Malcin.

Auch Simon Block, Betreiber eines Gemüselieferdienstes und bis vor kurzem noch Kunde von Zeitgold, bestätigt die schlechten Erfahrungen: Obwohl er bereits vier Monate für den Service gezahlt habe, habe ihm das Fintech keinen Steuerberater vermitteln können. Erst als er mit Kündigung gedroht habe, wurde dem Kleinunternehmer ein Steuerfachmann zugewiesen. Von „eklatanten Defiziten im Vertrieb“ spricht Block gegenüber Gründerszene.

Die Vorwürfe sind offenbar keine Einzelfälle. In Bewertungen bei Google machen weitere Nutzer ihren Ärger über Zeitgold öffentlich. „Eine grundsätzlich gute Idee der digitalisierten Buchhaltung wird durch Systemfehler, Fehlbuchungen, schlechte Erreichbarkeit und ein unfähiges Steuerbüro zunichtegemacht“, kommentiert einer. Ein anderer moniert die Antwortzeiten und Mehrkosten ebenfalls: „Von wegen Zeitgold, eher Zeitraub!“, so sein Fazit. Gleichwohl gibt es auch positive Stimmen: „Ich arbeite seit 3 Monaten mit Zeitgold, bin total begeistert und habe mehr Zeit für meine eigentliche Arbeit“, schreibt etwa die Inhaberin eines Friseursalons.

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Auf Nachfrage von Gründerszene bestätigt die Steuerberatungsgesellschaft Pioneer, dass es in den vergangenen Monaten zu Problemen gekommen sei. „Durch die Corona-Pandemie wurde unsere Kanzlei wie ein Großteil der Branche vor große Herausforderungen gestellt“, heißt es in einer Stellungnahme.

Insbesondere bei den monatlichen Lohn- und Gehaltsabrechnungen hätten die ständigen gesetzlichen Änderungen zu „erheblichen Mehrbelastungen und Korrekturen“ geführt. Die telefonischen Sprechzeiten seien deshalb auf vormittags beschränkt worden. 

Zu den Vorwürfen der Kunden, Belege seien regelmäßig nicht, falsch oder doppelt gebucht worden, könne man jedoch keine pauschale Aussage treffen. „Dies müsste im Einzelfall geprüft werden“, so die Kanzlei. Kündigungen einzelner Zeitgold-Kunden seitens Pioneer habe es hingegen gegeben. Die Schuld sieht die Kanzlei hier jedoch bei den Kunden: „Wenn es uns ein Mandant durch fehlende Zuarbeit unmöglich macht, den Auftrag zu erfüllen, sehen wir uns dazu veranlasst, solche Mandate niederzulegen.“

Zeitgold erklärt auf Nachfrage, man verfüge seit vergangenem Jahr über eine „sorgfältig ausgewählte“ zweistellige Zahl an Netzwerkkanzleien. Die Steuerberatungsgesellschaft Pioneer sei jedoch der erste Kooperationspartner gewesen, sodass viele frühe Kunden noch heute von der Kanzlei betreut würden. „Zu den organisatorischen Abläufen dieser Kanzlei können wir keine Stellung beziehen“, sagte ein Sprecher von Zeitgold gegenüber Gründerszene.

„Ein Gefühl wie bei Air Berlin“

Dabei hat das Fintech zuletzt offenbar selbst für viel Kundenfrust gesorgt. Andrea Konstanty, Inhaberin eines Dekoladens im Berliner Bezirk Reinickendorf, kritisiert vor allem die Service- und Produktpolitik des Unternehmens.

Begeistert habe sie sich im Frühjahr 2019 zunächst beim Buchhaltungsdienst von Zeitgold angemeldet. Ihre gesamten Unterlagen habe sie daraufhin in lediglich zwei Umschläge stecken müssen. „In den einen kamen die schon bezahlten Rechnungen, in den anderen die noch offenen. Ein Kurier hat diese dann einmal wöchentlich abgeholt“, erzählt Konstanty. Eine große Entlastung sei das gewesen, zumal sie ihre Belege anschließend jederzeit auf ihrem Smartphone habe wiederfinden können: „Das hatte wirklich was von einem papierlosen Büro“, schwärmt sie.

Vor einem halben Jahr habe das Fintech den Kurierservice dann aber schrittweise zurückgefahren. Erst seien ihre Unterlagen nur noch alle zwei Wochen abgeholt worden, kurz darauf gar nicht mehr. Konstanty musste die Papiere nach eigenen Angaben fortan selber scannen und ihrem Steuerberater schicken – mit zeitlichem Mehraufwand.

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„Das war ein Gefühl wie damals bei Air Berlin“, beschreibt die Ladenbesitzerin ihre Situation: „Erst waren die Flüge günstig, das Essen und die Getränke inklusive und später kostete alles extra.“ Besonders ärgert sie, dass sie für ihre Angestellten ab Januar 2020 keine Lohnabrechnungen mehr über Zeitgold erstellen konnte. Daraufhin habe sie weitere Kosten aufwenden müssen, um eine neue Lohnbuchhalterin zu engagieren.

Auch Ex-Kunde und Cafébesitzer Michel Malcin kritisiert das Vorgehen des Fintechs im Gespräch mit Gründerszene: Wie Konstanty habe er sich unter anderem wegen der Lohnabrechnung und Mitarbeiterverwaltung für die Software entschieden. Als es im Januar losgehen sollte, veröffentlichte Zeitgold jedoch eine neue Version ohne die ihm versprochenen Features.

Wunsch nach digitaler Buchhaltung bleibt

Gegenüber Gründerszene erklärt Zeitgold, die Lohnabrechnung sei „kein Kernaspekt“ des Produkts gewesen. Vielmehr habe der Fokus auf der Automatisierung der Buchhaltung gelegen. „Da das Produkt den komplexen Anforderungen der Lohnabrechnung – insbesondere in Branchen wie der Gastronomie – und unseren eigenen hohen Qualitätsansprüchen nicht komplett gerecht wurde, haben wir uns gegen eine Weiterentwicklung entschieden.“

Den Kurierservice habe man Kunden indes bis zuletzt weiter angeboten – allerdings in geringerer Frequenz und gegen Aufpreis. „Da es beim Abholen der Dokumente häufiger zu Verzögerungen bei unserem Logistikpartner gekommen ist, haben wir zudem auf das Einsenden in vorfrankierten Umschlägen umgestellt“, so ein Sprecher.

Verhindern konnten diese Maßnahmen das Scheitern der mit Millionen finanzierten Software offensichtlich nicht. Mitte September will Zeitgold seinen Buchhaltungsservice einstellen und sich künftig auf einen Onlinedienst für geschäftliche Steuererklärungen konzentrieren.

Viele Kunden werden sich vorerst wieder an eine weniger digital organisierte Buchführung gewöhnen müssen. Immerhin: Cafébetreiber Michel Malcin glaubt, dass es für Produkte wie Zeitgold weiter einen Markt gibt. „Ein Online-Service, der verhindert, dass ich hunderte Aktenordner durchwälzen muss, würde mir jederzeit helfen“, sagt er.

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Bild: Zeitgold
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