Die freiwillig auf dem Smartphone installierte Corona-Warn-App zeichnet pseundonymisiert Begegnungen auf, aus denen sich Infektionsketten rekonstruieren lassen.
Die freiwillig auf dem Smartphone installierte Corona-Warn-App zeichnet pseundonymisiert Begegnungen auf, aus denen sich Infektionsketten rekonstruieren lassen.

Noch eine Woche, vielleicht auch zwei – „Mitte Juni“ soll auch in Deutschland eine Corona-Warn-App zum Download bereitstehen. Das versprechen die Entwickler des von der Bundesregierung beauftragten Programms, der Softwarekonzern SAP und die Deutsche Telekom. Die lange Geschichte dieser App, die ursprünglich bereits für Mitte April angekündigt worden war, ist ein Lehrstück in mehreren Akten. 

Infektionsketten werden transparent

Um was geht es? Die App soll helfen, Corona-Kranke schneller zu identifizieren und ihre Kontaktpersonen zu warnen. Dazu sammelt die App per Bluetooth pseudonymisierte Daten von Smartphones, die sich für einen infektionskritischen Zeitraum in der Nähe eines Nutzers befunden haben, und speichert diese IDs lokal. Wurde eine Kontaktperson eines Nutzers in den letzten 14 Tagen positiv auf Covid-19 getestet, wird dieser informiert und kann sich testen lassen. Um diesen Prozess auszulösen, ist eine amtlich verifizierte Bestätigung durch das Scannen eines QR-Codes erforderlich. Dabei bleibt die Kontaktperson anonym. Stellt sich heraus, dass auch der Nutzer infiziert ist, kann er alle Nutzer der Handys, mit denen er in Kontakt war, anonym informieren – so wie auch er eingangs informiert worden ist.

Dieser Automatismus beschleunigt die Nachverfolgung von Infektionsketten. Bislang wurde diese Arbeit in Gesundheitsämtern geleistet. Diese Arbeit am Telefon ist mühsam und zeitaufwändig. Sie funktioniert auch nur dann, wenn ein Infizierter seine Kontakte benennen kann oder will. Obendrein ist das Ergebnis unscharf, weil unbemerkte Begegnungen nicht erfasst werden. Die App dagegen, so sie denn von einem hinreichend großen Teil der Bevölkerung genutzt wird, schaltet diesen Fehler aus.

Zwei Lehren aus der App-Verspätung

  • Vertrauensbildung und Transparenz sind unabdingbar für den Erfolg eines digitalen Programms.

Im April beherrschte eine fast als Glaubenskrieg in der Öffentlichkeit geführte Grundsatzdebatte unter Experten die Schlagzeilen. Dabei ging es darum, ob die App-Architektur dezentral oder zentral aufgebaut werden solle. Dass hinter diesen Positionen Konsortien mit Namen standen, unter denen sich kein Laie etwas vorstellen konnte (Pepp-PT und DP-3T), trug nicht gerade zur Vertrauensbildung bei.

Dass die Regierung erst die zentrale und unter dem Druck der Öffentlichkeit zwei Tage später dann die dezentrale Lösung favorisierte, zerstörte einen Großteil der verbliebenen Reputation. Im Grunde ging es um zwei Dinge: erstens um das landläufige Misstrauen in den Staat und die Frage, ob es einen in Regierungsnähe installierten Server geben dürfe, der in die Funktion der App ein- und womöglich Nutzerdaten abgreifen könne. Zweitens um die Frage der Transparenz, also um offenen Quellcode. Die Fraktion der Dezentralen hatte sich von Anbeginn für die Open-Source-Variante entschieden. 

  • Minimal Viable Products“, also minimal funktionsfähige Produkte, mögen für Consumertech-Startups ein schneller und erfolgreicher Weg auf den Markt sein, nicht aber für so anspruchsvolle Hilfsmittel wie eine Software-Infrastruktur im medizinischen Bereich.

Das zeigt der Blick ins Ausland, wo man sich vielerorts Warn-Apps rühmt, die um Wochen schneller als die deutsche auf den Markt kamen. In Österreich schlugen Datenschützer Alarm, worauf die App des dortigen Roten Kreuzes massiv nachgebessert werden musste. In Frankreich klagen Nutzer über den hohen Stromverbrauch und die mangelhafte Funktionsweise der App StopCovid, weil sie im Hintergrund nicht funktioniere (was an der fehlenden Einbindung der von Apple und Google gelieferten Programmschnittstellen liegt, die aber von der deutschen App genutzt werden sollen). In Australien gibt es das gleiche Problem. Zudem sei mit der App im ganzen Land nur ein Infizierter entdeckt worden, hieß es, wodurch die Download-Zahlen in den Keller rasselten. Und in Italien wird Kritik an den Rollenklischees der App Immuni laut: Der Mann geht zur Arbeit und muss sich schützen, die Frau bleibt mit dem Baby zuhause.

SAP veröffentlichte jetzt Bilder der Benutzeroberfläche der neuen Corona-Warn-App.
SAP veröffentlichte jetzt Bilder der Benutzeroberfläche der neuen Corona-Warn-App.

Kompletter Quellcode bei Github

SAP und Telekom bemühen sich um größtmögliche Offenheit bei der Entwicklung der deutschen warn-App. Der komplette Quellcode der Warn-App steht bei Github zur Begutachtung durch Datenschützer offen. Einen Zwischenstand veröffentlichten die Entwickler der App vor wenigen Tagen. „Über 65.000 Besucher haben sich die veröffentlichten Quellcodes schon angesehen, und viele davon haben eigene Vorschläge für Verbesserungen gemacht“, schreiben SAP-Vorstand Jürgen Müller und Telekom-Vorstand Adel Al-Saleh in einem Meinungsbeitrag. Darin mahnen sie auch eine „gesellschaftliche Verantwortung des Einzelnen“ an. Wie wichtig das ist, zeigt der aktuelle massenhafte Corona-Ausbruch in Göttingen. Dort haben die Behörden alle Hände voll zu tun, Infektionsketten nach illegalen Familienfeiern mit zum Teil unkooperativen Teilnehmern aufzuklären.

Wie es scheint, ist die Warn-App auf einem guten Weg. Auch der Blick ins Ausland zeigt, dass sich das Warten lohnt.

Jürgen Stüber schreibt bei Gründerszene über die digitale Gesundheitswirtschaft. Jeden Freitag lest ihr hier die Kolumne Healthy Business, die einen Blick auf die Gesundheitsbranche wirft. Die Kolumne der vorigen Woche findet ihr hier:

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Bilder: Getty Images, SAP