Stress am Arbeitsplatz und zu hohe Erwartungen: Vor allem Frauen stehen unter Druck.
Stress am Arbeitsplatz und zu hohe Erwartungen: Vor allem Frauen stehen in Startups laut Umfrage unter Druck.

Der Glamour der Berliner Startup-Welt besteht aus einem dünnen Lack. Kratzt man ein wenig daran, blättert er ab und offenbart ihr düsteres Inneres, Abgründe von Verzweiflung, Überforderung und Depression. Diesen Eindruck gewinnt, wer die Umfrage des Healthcare-Startups Humanoo zur seelischen Gesundheit in der Berliner Gründerszene liest.

Zwar ist die Befragung mit rund 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmern nicht repräsentativ. Doch das Thema fand in der Szene eine hohe Resonanz: Das Meetup, bei dem Humanoo, die Online-Therapieplattform Selfapy und das Burnout-Präventions-Startup Dear Employee die Umfrage diskutierten, war mehrfach überbucht. Mental Health beschäftigt die Menschen in der Berliner Startup-Szene. 

„Startups sind immer ausgelastet, überfordert und unterbudgetiert“, sagt Wouter Verhoog, COO bei Humanoo. „Jeden Tag brennt woanders die Hecke. Das weiß man, wenn man sich bewirbt. Startups wollen in drei Jahren das gleiche leisten wie ein Großunternehmen in 20 Jahren.“ Umso erstaunlicher ist es, wie Gründer und ihre Angestellte ihre Arbeit bewerten. 

Wouter Verhoog

Die meisten Befragten sind relativ neu in der Arbeitswelt: Mehr als 70 Prozent sind weniger als sechs Jahre im Job, ein Drittel ist 25 bis 29 Jahre alt, ein weiteres Drittel 30 bis 34. Kinder haben die wenigsten (86 Prozent sind kinderlos), 62 Prozent leben in einer Beziehung, 67 Prozent treiben Sport, knapp die Hälfte meditiert oder pflegt ähnliche Formen von Achtsamkeit. Man könnte meinen, es geht ihnen gut.

Überstunden sind die Regel

Doch die Hälfte arbeitet mehr als 40 Stunden, 13 Prozent bis zu 60 Stunden, drei Prozent sogar bis zu 80 Stunden pro Woche. Warum machen sie das? 53 Prozent geben an, sie hätten zu viele Aufgaben auf dem Tisch. Jeder Fünfte klagt über zu enge Deadlines und fürchtet, als „Underperformer“ abgestempelt zu werden. 35 Prozent meinen, die Chefs erwarteten die Mehrarbeit von ihren Teams. Vor allem Frauen stehen hier laut Umfrage unter Druck. Vielleicht melden sie sich deshalb seltener als Männer krank.

Die Auswertung zeigt, dass diese Selbstwahrnehmung ein Film ist, der vor allem im eigenen Kopf spielt und weniger eine objektive Forderung an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Denn Arbeit am Wochenende ist für die meisten tabu. Knapp 20 Prozent müssen hingegen oft oder sehr oft in der Freizeit an den Computer. Knapp 60 Prozent nie oder nur selten. Und mehr als die Hälfte der Umfrageteilnehmer werden nie oder nur selten in der Freizeit oder im Urlaub von ihrem Startup kontaktiert (obwohl 85 Prozent Kommunikations-Apps wie Slack auf ihren Smartphones installiert haben).

„Oft sind es die Erwartungen an einen selbst, der innere Kritiker oder ,monkey mind‘ wie ihn die Yogis nennen, der uns den Alltag erschwert“, sagt Wouter Verhoog. „So sind wir übermäßig perfektionistisch uns selbst gegenüber oder nicht respektvoll mit dem eigenen Entwicklungsstand.“ 

 

Die Hälfte der Startup-Szene laut Umfrage psychisch instabil

Die Konsequenz: 57 Prozent hatten in den zwei Wochen vor der Umfrage mehr oder weniger Kündigungsgedanken, bei 38 Prozent beeinträchtigt die Arbeit die privaten Beziehungen oft oder sehr oft. 43 Prozent bezeichnen sich als traurig oder gar depressiv. Fast die Hälfte fühlt sich manchmal psychisch instabil. Nur zehn Prozent finden ihre Arbeitsweise fokussiert. Am Ende der Umfrage bezeichnete fast die Hälfte (45 Prozent) ihre seelische Gesundheit als etwas oder sehr besorgniserregend (siehe Grafik).

37 Prozent haben in den vergangenen zwei Jahren einen Therapeuten oder Coach konsultiert. „Selbstoptimierung und Selbstreflektion spielen eine immer zentralere Rolle in den Generationen Y und Z“, interpretiert Verhoog diese Zahl.

Farina Schurzfeld
Farina Schurzfeld

Die Umfrageergebnisse sind für Wouter Verhoog eine Appell, in Startups ein Klima zu schaffen, in dem die Mitarbeiter sich trauen zu sagen, was sie bedrückt. „Vieles sind unausgesprochene Erwartungen, die wir uns aus der Angst zu Versagen selbst antun.“ Dazu gehöre, dass Angestellte auch am Wochenende in die Mails und in Slack schauen.

Selfapy-Mitgründerin Farina Schurzfeld rät Führungskräften zu Reflexion und Gelassenheit. „In dieser schnelllebigen Zeit, in der wir ständig Feuer löschen, haben wir oft das Gefühl, wir könnten uns niemals Zeit nehmen, um einen Schritt zurückzutreten und die Beobachterperspektive einzunehmen. Dies ist jedoch entscheidend, da sich unsere eigenen Gedanken und Gefühle in unserer Realität widerspiegeln. Auch unser Team spürt das und handelt entsprechend.“ Ihr Apell an die Chefs: im Startup nicht immer nur reflexhaft Fire Fighting zu machen, weil das nichts bringt, sondern sich auf die wichtigen Probleme zu fokussieren.

Bilder: Selfapy, Humanoo, Getty