Ziv Aviram mit seinem neuen Produkt. Der Wirtschaftsingenieur aus Israel hat damit sein zweites Einhorn aufgebaut.

15 Milliarden Dollar. Milliarden! Diese Zahl erscheint in meinem Kopf. Und sie ist dort in den Stunden vor dem Treffen nicht herauszukriegen. Dieser Mann hat Anfang 2017 seine Firma Mobileye für 15,3 Milliarden Dollar an Intel verkauft. Wie fühlt sich das an? Was ist das für ein Mensch, der mit einer guten Idee so viel Geld verdienen konnte?

Wie hast du das gemacht, wie funktioniert das, frage ich den Gründer Ziv Aviram beim Mittagessen in einem eher günstigen Lokal am Berliner Hausvogteiplatz. „Es war Glück, Frank“, sagt er lächelnd. Ich frage nach: „Ach, komm! Das kann doch nicht alles sein. Wie hast du das gemacht?“ Er schaut mich freundlich an, schmunzelt und wiederholt: „Nein, wirklich. Reines Glück. Es war einfach Glück.“ Jetzt hat er dieses Kunststück mit seinem neuen Startup OrCam wiederholt. 

Es geht erneut um Wahrnehmung der Umwelt

Aviram gründete Mobileye vor rund 15 Jahren mit seinem Kompagnon Amnon Shashua, der dort immer noch als CTO tätig ist. Inzwischen versorgt die Firma fast jede große Automarke mit Sensorik. Von den großen Marken verzichten lediglich Daimler-Benz und Tesla auf Technik von Mobileye. Zwei Jahre dauerte es am Anfang, bis Geld verdient wurde, erzählt Aviram. Es war wohl noch nicht so deutlich vorherzusehen, dass Autos in Zukunft selbstständig steuern, bremsen oder beschleunigen müssen. Inzwischen arbeiten alle Autobauer an selbstfahrenden Autos, für die diese Technik essenziell ist. 

Avirams neues Projekt ist anders gelagert. Obwohl es auch mit der Wahrnehmung der Umgebung zu tun hat. Er möchte ein Problem lösen, dass Millionen Menschen auf dieser Welt haben: Sie können schlecht oder überhaupt nicht sehen, sie sind gesichtsblind oder leiden an der Sprachstörung Aphasie. Der Gründer demonstriert mir begeistert sein neues Produkt. Aviram klippt ein kleines Kästchen an seine Brille und erklärt mir, dass es vorne mit einer Kamera und hinten mit einem Lautsprecher ausgestattet sei. Dazwischen arbeitet eine künstliche Intelligenz.

Er zieht eine Zeitung hervor und deutet mit dem Zeigefinger auf einen Text. Ich höre ein leises Murmeln. „Das Gerät kann jeden Text vorlesen, in fast 20 Sprachen“, erklärt Aviram. Beschilderungen, Wegweiser, Speisekarten, Geldscheine. Er reicht mir die Brille. Ich setze sie auf, schnappe mir die Zeitung und deute auf den Leitartikel. Es ertönt ein schnappendes Geräusch, wie beim Auslöser einer analogen Kamera, und dann beginnt eine angenehme, weibliche Stimme den Artikel vorzulesen. Drei Absätze höre ich mir an. Die Stimme liest flüssig und macht keinen Fehler.

Den Vertrieb in Deutschland übernehmen Krankenkassen

Die Technik für dieses kleine Wunder steckt in diesem kleinen Kästchen, das am Brillenbügel befestigt wird. Ein Server oder eine Cloud ist nicht im Spiel, der Chip mit der künstlichen Intelligenz arbeitet innerhalb des Gerätes. An das Internet wird das Kästchen nur angeschlossen, wenn es ein neues Update braucht. Aber die Vorlesefunktion ist nicht alles. Das Gerät kann noch mehr.

„Die Brille kann auch Gesichter und Barcodes erkennen“, sagt Aviram. Für einen Sehbehinderten ist es ein Traum, dass er seine Gesprächspartner von sich aus erkennen kann. Für diese Funktion kann der Chip bis zu 100 Gesichter speichern und verrät dann über den kleinen Lautsprecher, wen der Nutzer gerade vor sich hat. An der Entwicklung war auch Avirams bewährtes Team von Mobileye beteiligt. 

Den Vertrieb des Gerätes übernehmen in Deutschland vor allem die Krankenkassen. Dadurch sei es leichter für Kunden, einen Zuschuss für die 4.500 Euro bekommen, die das Gerät kostet. Der Medizinmarkt mit seinen Regulierungen bietet nicht die einfachsten Voraussetzungen, um ein Produkt zu lancieren. Doch die Kassen in Deutschland und vielen anderen Ländern seien sehr aufgeschlossen gewesen und waren sofort vom Mehrwert für ihre Kunden überzeugt, erzählt Aviram. 

Das unternehmerische Feuer ist nicht erloschen

Ziv Aviram ist ein ruhiger, bedächtiger Mann. Er strahlt auf eine freundschaftliche Art Willensstärke und Überzeugungskraft aus. Er lebt für seine neue Idee und redet nur ungern über vergangene Zeiten und Erfolge. Jetzt soll es passieren, alles andere ist Schnee von gestern. Avirams unternehmerisches Feuer ist auch nach dem vielen Geld, das er mit seiner ersten Firma verdient hat, nicht erloschen. 

Aviram erzählt von seiner Heimat Israel und davon, dass er entgegen dem Tel-Aviv-Trend sein Hauptquartier in Jerusalem aufgebaut hat. Dort sitzt auch immer noch Mobileye. Die Stadt sei wegen der politischen Lage im täglichen Leben zwar viel komplizierter und anstrengender als Tel Aviv, doch es gebe auch einige Vorteile. Denn in Jerusalem seien zum Beispiel die Mitarbeiter viel loyaler. In Tel Aviv ginge alles viel schneller, die Fluktuation in den Firmen sei größer.

Aviram schätzt also eine gewisse Verlässlichkeit und wirkt in diesem Moment fast wie ein braver deutscher Mittelständler. Wenn da nicht ein geplanter Börsengang und dieses gewisse Schmunzeln wäre – und diese gigantische Zahl, die über unseren Köpfen schwebt.

Foto: Chris MArxen