Ein Lichtblick in der Bildungsmisere der Webbranche: In Karlsruhe können sich Studienabbrecher mit Berufserfahrung oder Migranten neben der Arbeit auf die Externenprüfung der Industrie- und Handelskammer vorbereiten. Bei Bestehen lockt das Zertifikat einer formalen Ausbildung und vor allem: Perspektiven für Aufstieg und Karriere. Das Projekt Finish IT sollte, so Gastautorin Susanne Vieser, Schule machen in der Online-Branche, sich regional noch weiter ausbreiten und für noch mehr IT- und Online-Berufe organisiert werden. Zudem hat sich Gründerszene bei CTOs diverser Unternehmen zum Thema „ungelernte“ Fachkräfte umgehört.

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Von wegen lockere Branche

Von der Karriere ausgeschlossen: Seit Jahren arbeitet Christian aus Karlsruhe in der IT- und Onlinebranche. Er entwickelte und wartete im Auftrag von Selbständigen und mittelständischen Unternehmen Computertechnik und Netzwerke. Zuerst tat er dies, um sein Lehramt-Studium zu finanzieren. Weil’s so gut lief und gutes Geld brachte, schmiss er bald sein Studium, machte erst als Freiberufler weiter, ließ sich dann aber anstellen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches in einer Branche, in der Studienabbrecher zum Erfolgs-Unternehmer mutieren, und die es auch sonst nicht so eng nimmt mit Abschlüssen, Scheinen und Diplomen. Eigentlich.

Das ist alles nur schöner Schein. Web- und IT-Unternehmen geben sich zwar gerne locker, wenn’s aber um Karriere geht, verlangen sie eben doch ein Zeugnis und einen Stempel. Christian jedenfalls wurde nie zu Schulungen von Microsoft, Google oder anderen Herstellern geschickt, deren Zertifikate Freifahrtscheine für den Aufstieg darstellen. Er habe ja keine Ausbildung abgeschlossen, begründeten seine Arbeitgeber das; und auch die Microsofts und Googles und IBMs dieser Welt lassen Praktiker ohne Diplom und Zeugnis oft nicht in ihre Kurse.

Eine Karrierefalle, in die übrigens auch so mancher Einwanderer tappt, weil seine Uni- und Lehr-Abschlüsse in Deutschland nicht anerkannt werden. (Ganz ehrlich: Angesichts des beklagten Fachkräftemangels wundere ich mich schon, wie engstirnig Unternehmen agieren, dass sie ungelernte, aber erfolgreiche Praktiker so hängen lassen. Aber vielleicht ist es lukrativer, Mitarbeiter klein zu halten und von Perspektiven auszuschließen, weil sie dann billig bleiben?)

Doch es gibt Hoffnung: Christian ist einer der ersten Absolventen von Finish IT, einem Programm, das die Karlsruher Web-Initiative Cyberforum jetzt gerade startete. Zusammen mit sieben weiteren IT-Spezialisten ohne Zeugnis und Abschluss wird der Spezialist für Computertechnik und -ausstattung nun berufsbegleitend auf die Externen-Prüfung der Industrie- und Handelskammer (IHK) vorbereitet.

Nach einer ersten sechswöchigen Seminarphase wird Christian in den nächsten zehn Monaten alle zwei Wochen donnerstags, freitags und samstags die Schulbank drücken und das theoretische und wirtschaftliche Wissen rund um seinen Beruf lernen, den er schon seit Jahren ausübt. Nebenbei legt er auch eine Fach-Zertifizierung ab. Sein Arbeitgeber, das Karlsruher Systemhaus Bechtle, stellt ihn an den Schultagen frei. Christians Hoffnung: Mit bestandener Prüfung endlich eine Karriere als Fachinformatiker Systemintegration durchzustarten.

Mach’s fertig

Finish IT – schön doppeldeutiger Titel – ist ein Projekt, das das Cyberforum zusammen mit regionalen Weiterbildungsanbietern aus einem Programm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung entwickelt hat. Beinahe jeder dritte Absolvent in den sogenannten MINT-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik scheitert und bricht sein Studium ab. Um diesen Studenten Perspektiven im Zeugnis-verliebten Deutschland zu geben, startete das Ministerium das Programm „Perspektive Berufsabschluss„, in dem erste Berufserfahrungen gefördert werden und in einen anerkannten Abschluss münden.

In Deutschland brauchen Unternehmen für alles und jedes einen Stempel und ein Stück Papier. Auch die der Online-Branche. Und das ist ein wichtiger Unterschied zu US-amerikanischen Verhältnissen, in denen auch Fachfremde in ihnen neuen Bereichen Chancen bekommen und daher die Web-Szene erfolgreicher und lebhafter ist.

Ich wünsche mir, dass sich Finish IT oder Ähnliches auch in anderen Internet-Hochburgen etabliert und für Chancen sorgt. Ich wünsche mir außerdem, dass die Möglichkeit, einen Ausbildungs-Abschluss nachzuholen, nicht nur für die schon bekannten IT-Berufe, sondern auch für weitere Online-Berufe entsteht.

Und weil aller guten Dinge drei sind, wünsche ich mir vor allem Web-Unternehmen und Personaler, die offener werden gegenüber Abbrechern, Umsteigern, den anderen, nach denen sie selten suchen, selbst aus- und weiterbilden und noch mehr solcher Programme wie Finish IT erdenken.

Das sagen Unternehmen

Die Gründerszene-Redaktion hat sich selbst einmal per Umfrage bei CTOs diverser Unternehmen zum Thema „ungelernte“ Fachkräfte umgehört. Anbei ein paar der Antworten, die Gründerszene bekommen hat. Eigene Erfahrungsberichte und Meinungen der Leser sind der Redaktion natürlich willkommen.

Rolf Kluge, CTO APPSfactory GmbH:

Glaubst du, dass IT-ler ohne formellen Abschluss prinzipiell von einer Karriere im Startup ausgeschlossen sind?

„Natürlich sagt ein nicht vorhandener oder abgebrochener Abschluss etwas aus – jedoch nur auf dem Papier. Es kann immer Gründe geben, warum kein Abschluss vorliegt. Ob eine Person Karriere macht oder nicht, liegt an der Person selbst. Bei Zielstrebigkeit, Motivation und Verlässlichkeit steht der Karriere nichts im Weg, ob mit oder ohne Abschluss.

Wie ist der Umgang mit „ungelernten“ Fachkräften in deinem Unternehmen?

„Ungelernte Fachkräfte bekommen von uns ein Testprojekt beziehungsweise eine Testaufgabe. Wenn sie diese erfolgreich lösen, dann bekommen die jeweiligen Personen einen Senior-Developer an die Seite, um möglichst schnell Projekte und Aufgabe auch selbstständig durchführen zu können.“

Mathias Kutzner, Director IT Team Europe:

Wie wichtig ist dir ein technischer Abschluss, wenn du vor der Entscheidung stehst, jemanden in dein Team zu holen?

„Ich persönlich lege weniger Wert auf einen technischen Abschluss, sondern mehr auf Erfahrung: Es gibt sehr, sehr gute Front-Entwickler, die keinen Uni-Abschluss haben und sich sämtliche Kenntnisse selbst angeeignet haben. Wenn man allerdings tiefer gehende technische Erfahrung braucht, wenn es Richtung Algorithmen und Performance-Themen geht, dann sind Leute mit Abschluss wahrscheinlich schon besser, weil sie mehr theoretischen Hintergrund haben. Wobei sich Quereinsteiger dies Wissen durchaus auch selbst aneignen können. Ich schätze aber, dass 80 Prozent der Unternehmer dennoch IT-ler mit Abschluss bevorzugen, gerade Beratungshäuser gucken sehr stark auf Abschlüsse.“

Michael Heid, CTO und Co-Founder Falcon Internet GmbH:

Glaubst du, dass IT-ler ohne formellen Abschluss prinzipiell von einer Karriere im Startup ausgeschlossen sind?

„Nein, grundsätzlich nicht. Wichtiger als Schulabschlüsse oder Zeugnisse ist der persönliche Track-Record – bei welchen Projekten habe ich mitgearbeitet, wie groß waren die Teams, was waren die Aufgaben und so weiter. Sehr wichtig ist auch, sich außerhalb der Schule weiter zu bilden beziehungsweise mit dem Fachbereich zu beschäftigen, indem man zum Beispiel weitere Programmiersprachen lernt oder bei einem Open-Source-Projekt mitwirkt. Der klassische Lebenslauf hat sich genau deswegen ja auch in richtig US-CV entwickelt, wo fast nur noch die Projekte und Aufgaben, nicht aber die schulischen Ergebnisse gelistet sind.“

Wie ist der Umgang mit „ungelernten“ Fachkräften in eurem Unternehmen?

„Wir machen keinen Unterschied darin, ob jemand gelernt oder ungelernt ist. Wichtig ist die Leistungsbereitschaft und das fachspezifische Know-how, das man sich durchaus auch außerhalb von Schulen aneignen kann. In der Regel sind Autodidakten sogar die besseren IT-ler.

Haben IT-ler bei euch die Chance, an Schulungen und Weiterbildungen teilzunehmen?

„Selbstverständlich, unabhängig von der Schulbildung ist so etwas fachbezogen immer sinnvoll. Daher versuche ich das immer zu ermöglichen.“

John Bettiol, Technology Consultant Trivago GmbH, vorher CTO Fisoc:

„Working in a startup does not necessarily require an IT degree as there are many real-world examples of successful startups where the founders quit university (or even high school) to focus more on their startup. The thing that is the MOST important is a person’s experience or in replacement their willingness to learn very quickly. Sometimes having a high level of education can be negative as it results in people choosing solutions based on academics and not practical knowledge (this is a very dangerous habit of fresh graduates).“

Bild: www.finish-it.info