Geisteswissenschaftler sind beim Recruiting noch immer Stiefkinder, auch wenn das Angebot an talentierten Mitarbeitern immer enger wird. Die Gründe dafür sind klar – auch den Geisteswissenschaftlern selbst: So richtig haben sie nichts gelernt, ihnen fehlt das Handwerkszeug und vor allem, wenn es um wirtschaftliche Prozesse geht, sind Geisteswissenschaftler oft von einer rührenden Unbeflecktheit. Aber: Gerade in sehr jungen Startups ist es nicht abwegig, die „Heads in the clouds“ einzustellen. Fünf Dinge, die dafür sprechen.

Geisteswissenschaftler, Geisteswissenschaft, Schöngeist, Kulturwissenschaft, Philosophie, Mitarbeitersuche, Recruiting, Bewerbermarkt

1. Von allem ein bisschen

Dass Geisteswissenschaftler in der Regel kein konkretes Handwerkszeug gelernt haben, das zum Beispiel mit dem eines BWL-ers oder Juristen vergleichbar wäre, ist schlicht richtig. Dieses fehlende Handwerkszeug aber prinzipiell gegen sie auszulegen, ist schlicht und ergreifend kurzsichtig. Dadurch, dass sie auf kein konkretes Berufsbild vorbereitet wurden, bringen Geisteswissenschaftler bestenfalls Interesse für viele Bereiche mit und arbeiten sich schnell in die verschiedensten Themen ein.

Ob das bei einem Kandidaten tatsächlich so ist, lässt sich an seinem CV ablesen: Wer noch wenig oder keine praktischen Erfahrungen gesammelt hat, dem dürfte das große Interesse an der Praxis tatsächlich fehlen. Wer Praktika in sehr unterschiedlichen Bereichen gemacht hat, ist vermutlich ein guter Allrounder und beispielsweise für eine Assistenz- oder Referentenposition spannend. Fakt ist, dass sich unter Geisteswisschenschaftlern tendenziell viele „Chamäleons“ finden, die heute die PR aufbauen und morgen den Recruiting-Prozess aufsetzen. Wichtig zu überprüfen ist, wie festgelegt ein Geisteswissenschaftler ist und ob ihn bestimmte Themen grundsätzlich abschrecken.

2. „Content is King“ – und niemand weiß das besser als Geisteswissenschaftler

Sicher, viele Geschäftsmodelle der Internetwirtschaft stehen und fallen nicht mit den Texten, die sie online haben. Für mindestens genau so viele sind sie aber geschäftsentscheidend. Geisteswissenschaftler bringen – wenn sie gut sind – ein Händchen fürs Schreiben mit und können sich schnell auf Themen, Stile und Formate einstellen. Ob das Produkttexte, Blogeinträge, Tweets oder Mission-Statements sind – es werden sich eher Geisteswissenschaftler als BWLer finden, die gerne und gut schreiben.

Und wer schon mal an einer einfachen Pressemitteilung oder der eigenen Kurzbiographie verzweifelt ist, wird es schätzen, wenn jemand im Unternehmen eine flüssige Schreibe hat.

3. Souveräner Umgang mit Komplexität

Geisteswissenschaftler haben es im Studium in der Regel mit einem Wust an Literatur, Denkrichtungen, Methoden und geistigen Strömungen zu tun. Anders als in Fächern wie zum Beispiel BWL oder Jura, wo der Ausflug in historische Ansätze zum Fach nettes Beiwerk und eher zum Konversation-Machen gedacht ist, ist das Betrachten vieler verschiedener Systeme in den Geisteswissenschaften Programm. Das führt dazu, dass die Studenten darauf angewiesen sind, sich ständig neu zu verorten, verschiedenen Input zu ordnen und vor allem: Zu priorisieren.

Sicher gelingt es nicht jedem, diese Fähigkeit dann im Berufsalltag umzusetzen. Grundsätzlich bringen Geisteswissenschaftler aber eine ausgeprägte Fähigkeit mit, Komplexität zu reduzieren und sich aufs Wesentliche zu konzentrieren – wer mal Foucault oder Derrida nach ihren eigentlichen Thesen durchforsten musste, wird das bestätigen können.

4. Abstraktes Denken und der Blick fürs große Ganze

Aus dem Umgang mit vielen Informationen ergibt sich bei vielen auch die Fähigkeit, abstrakt zu denken und einen Blick für größere Zusammenhänge zu entwickeln. Gerade in Startups, die in den ersten Jahren im Operativen zu ertrinken drohen, kann das extrem hilfreich sein. Geschäftsmodelle in den Markt einzuordnen, zu recherchieren und zu überlegen, wie zukünftige Entwicklungen aussehen, können perfekte Aufgaben für Geisteswissenschaftler sein.

5. Sie brennen

Die eingangs erwähnte Unbeflecktheit in wirtschaftlichen Dingen, die Geisteswissenschaftler häufig mitbringen, kann auch von Vorteil sein, was ihre Motivation angeht. Vielen Absolventen der schöngeistigen Fächer geht es nicht in erster Linie darum, viel Geld zu verdienen oder darum, ob das Geschäftsmodell an dem sie arbeiten, schnell skaliert. Vielmehr suchen sie eine Aufgabe, die in irgendeiner Weise spannend ist, und wenn es dabei „nur“ um die fachliche und persönliche Weiterentwicklung geht.

Und mehr als Absolventen anderer Fächer legen Geisteswissenschaftler Wert darauf, dass sie die Idee, an der sie mitarbeiten, begeistert. Schließlich haben sie schon bei der Studienwahl eher aus Interesse und Überzeugung denn aus wirtschaftlichen Erwägungen entschieden. Und dass Begeisterung und persönliche Identifikation mit dem Unternehmen zu einer längeren Betriebszugehörigkeit führen können und die so oft gewünschte „Extra Mile“ hervorbringen, braucht man im Startup niemandem mehr zu erklären.

Tipps fürs richtige Vorstellungsgespräch

Natürlich kann man sich als Vollblut-Praktiker schon mal fragen, warum jemand so diffuse Dinge wie Kulturwissenschaften studiert, und die Frage sollte man im Zweifel direkt an den Bewerber weiterreichen. Wer darauf keine gute Antwort hat, ist genauso raus wie jeder andere, der seine Entscheidungen und Motivationen nicht erläutern kann.

Praxis-Check: Welche konkreten Erfahrungen wurden gesammelt und wie vertieft waren sie? Kann der Bewerber konkret benennen, was er in welchem Praktikum gelernt hat und wie er diese Kenntnisse gegebenenfalls einbringen kann? Ist er überhaupt ein Praktiker? Wer seine im Studium angeeignete Vielseitigkeit und das Abstraktionsvermögen nicht in ein operatives Geschäft umsetzen kann oder will, ist fehl am Platz.

Bild: Wolfgang  / pixelio.de