Personal-Managerin Sarah Ungar über das Doppelleben vor ihrem Coming-Out als Frau: „Meine Kraft hat damals nicht mehr gereicht.“

Im Berufsleben haben es trans* Menschen oft schwer. In vielen europäischen Ländern liegt ihre Arbeitslosenquote über dem Durchschnitt, wie mehrere Studien zeigen. Sie fürchten Vorurteile, Diskriminierung und weniger Aufstiegschancen. Sarah Ungar weiß um diese Sorgen. Sie startete 2006 als Mann in einem Trainee-Programm bei Thyssenkrupp. Zehn Jahre später hatte sie ihr Coming-Out als Frau. Heute berät die Personalmanagerin im Stahlkonzern Führungskräfte und engagiert sich unter anderem für trans* Beschäftigte. 

Wir haben mit ihr über Schwierigkeiten bei der Bewerbung, verständnislose Arbeitgeber und die Kosten eines Doppellebens gesprochen.

Frau Ungar, Sie sagen, dass Unternehmen fast acht Prozent der Bevölkerung vernachlässigen, wenn sie die LGBTTI-Community übergehen. Kann sich das ein Betrieb in Zeiten des Fachkräftemangels und der Digitalisierung noch leisten?

Ganz klare Antwort: Nein. Natürlich ist es ein bisschen übertrieben, wenn ich sage, ein Unternehmen würde keinen einzigen schwulen, lesbischen oder transsexuellen Menschen beschäftigen, wenn es die Community nicht anspricht. Das ist sicher nicht so. Bei Thyssenkrupp haben ja, bevor wir uns dazu positioniert haben, auch schwule, lesbische, transsexuelle und intergeschlechtliche Menschen gearbeitet. Doch jetzt können sie offener damit umgehen und ein anderes Verständnis und mehr Akzeptanz erwarten. Ist ein Unternehmen aber bekannt dafür, dass es Menschen aus dieser Gruppe ausschließt, wird das ja gegebenenfalls auch in der Community bekannt. Diese Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber werden ganz sicher deutlich weniger Bewerbungen von ihnen bekommen oder gar keine mehr.

LGBTTI ist das englische Akronym für lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, transidente und intergeschlechtliche Personen. Das Adjektiv trans* beschreibt Personen, die nicht dem Geschlecht zugehören, dem sie bei der Geburt zugeordnet wurden. Das kann bedeuten, dass sie dem „anderen“ binären Geschlecht zugehören. Also: Eine trans* Frau ist eine Frau, die bei ihrer Geburt als männlich eingeordnet wurde. Aber nicht alle trans* Menschen sind männlich oder weiblich, es gibt auch sogenannte non-binäre trans* Menschen. Das Sternchen am Ende des Wortes „trans“ kennzeichnet, dass alle Formen gemeint sind.

Personen, die körperliche (zum Beispiel auch chromosomale) Merkmale des männlichen sowie des weiblichen Geschlechts aufweisen, bezeichnet man als inter*. Es gibt viele verschiedene Formen von Intergeschlechtlichkeit. Auch das wird durch das Sternchen am Ende des Wortes angezeigt.

Wie lässt sich feststellen, dass ein Unternehmen nicht nur „Pinkwashing“ betreibt, also zu Imagezwecken vorgibt, LGBTTI-freundlich zu sein?

Ein gutes Zeichen ist, wenn sich Firmen etwa auf Messen wie der LGBTTI-Karrieremesse Sticks and Stones engagieren oder bei Veranstaltungen wie dem Christopher Street Day mitwirken. Auch Mitgliedschaften bei Netzwerken wie Prout at Work oder der Charta der Vielfalt sind positiv zu bewerten.

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Viele trans* Personen stehen bei einer Bewerbung vor der Frage, ob sie die eigene Geschlechtsidentität im Vorstellungsgespräch thematisieren sollen. Zu was raten Sie?

Ich würde mich immer fragen, was für einen Mehrwert diese Information für das Vorstellungsgespräch hat. Ist eine Eigenschaft, die mit meiner Geschlechtsidentität zusammenhängt, für die Stelle relevant? Ein Ansatz könnte zum Beispiel sein, dass transsexuellen Menschen eine höhere psychische Widerstandskraft zugeschrieben wird und sie ein gewisses Maß an Erfahrung mitbringen, wenn sich Lebenssituationen ändern. Wenn etwa jemand über einen diversen Geschlechtseintrag verfügt, kann es durchaus sinnvoll sein, das anzusprechen – gerade in Bezug auf die gewünschte Anrede. Ansonsten muss die Geschlechtsidentität aus meiner Sicht gar nicht thematisiert werden, weder im Lebenslauf noch im Vorstellungsgespräch.

Oft haben trans* Personen nicht mehr den Namen, der in ihren Zeugnissen steht. Wie sollten Jobanwärter damit umgehen?

Das muss jeder für sich entscheiden. Ich habe meine alten Zeugnisse nicht umschreiben lassen, unter anderem, weil mir nach meiner Kenntnis nur Zweitschriften zustünden. Damit würde ich bei neuen Arbeitgeberinnen schon wieder in eine Erklärungssituation geraten. Es kann auch ein Zeichen von Stärke sein, wenn man sagt: Das ist bewusst ein Teil meines Lebens, der auch nicht unbedingt schlecht war. Außerdem wäre eine Zeugnisänderung mit Aufwand verbunden: Ich müsste meine ehemaligen Arbeitgeber sowie meine Hochschule anschreiben und meine transsexuelle Vergangenheit offenbaren.

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In Stellenanzeigen stand lange nur „m/w“. Sollten sich intergeschlechtliche Personen heute gar nicht erst auf Jobs bewerben, die noch immer ohne „divers“ ausgeschrieben sind?

Ich glaube, dass Firmen nicht zwangsläufig offener sind, wenn sie ein „d“ mit ausschreiben. Umgekehrt würde ich sagen, dass sensible Unternehmen ihre Stellenanzeigen schon dahingehend angepasst haben.

Seit dem 22. Dezember 2018 gibt es in Deutschland im Geburtenregister neben dem Geschlechtseintrag „männlich“ oder „weiblich“ auch den Eintrag „divers“. Diese Wahlmöglichkeit ist unter dem Begriff „Dritte Option“ bekannt. Konzipiert ist dieser Geschlechtseintrag für Kinder, die bei ihrer Geburt aufgrund ihrer biologischen Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig zuordenbar sind – sogenannte inter* Personen. Auch eine nachträgliche Änderung des Geschlechtseintrags ist mit der dritten Option möglich, sofern die Person ein ärztliches Attest vorlegen kann, in dem eine „Variante der Geschlechtsentwicklung“ bestätigt wird. Durch diese offene Formulierung können auch trans* Personen ihren Geschlechtseintrag angleichen lassen. Vor der Neuregelung war das nur durch das Transsexuellengesetz möglich, was mit großem bürokratischem Aufwand und hohen Kosten verbunden war.

Im Zuge der Änderung des Personenstandsgesetzes haben viele Firmen das „d“ für „divers“ in ihre Stellenausschreibungen aufgenommen. Auch, um sich vor Diskriminierungsklagen zu schützen. Eine Analyse der Jobsuchmaschine Adzuna kam Anfang 2019 aber zu dem Ergebnis, dass 45 Prozent der Stellenanzeigen in Deutschland „divers“ noch nicht aufgenommen hatten. 

Das Coming-Out am Arbeitsplatz kann sehr belastend sein. Wie gestaltet man diesen Prozess am besten?

Im besten Fall gibt es beim jeweiligen Unternehmen eine Handlungshilfe für ein Coming-Out, die Empfehlungen im Umgang mit Führungskräften oder der Personalabteilung gibt. SAP und Ernst & Young haben dazu Dokumente herausgegeben. Wenn es diese Hinweise im Unternehmen nicht gibt, können die bestehenden Richtlinien dieser Unternehmen als Orientierung dienen.

Sie selbst haben sich vor drei Jahren als trans Frau geoutet. Haben Sie konkrete Tipps?

In einem Coming-Out-Prozess würde ich mir immer Personen suchen, zu denen ich Vertrauen habe und von denen ich weiß, dass sie mich unterstützen werden. So habe ich es auch gemacht: Ich habe mir eine Liste mit etwa 40 Namen erstellt, bin sie der Reihe nach durchgegangen und habe mit jedem Einzelnen gesprochen. Wenn Sie ein Team von Unterstützern um sich haben, lässt es sich leichter in schwierige Gespräche gehen. Als Führungskraft ist es aus meiner Sicht wichtig, auch die eigenen Mitarbeiter mitzunehmen. Dasselbe gilt für die Personalabteilung im Unternehmen, gegebenenfalls auch den Betriebsrat. Meine persönliche Haltung ist: Ich würde den Prozess nicht zu groß erklären, um eine Rechtfertigungssituation zu vermeiden. Für mich galt immer: Weniger ist mehr. In der Fläche habe ich es sehr knapp und kurz per Mitteilung kommunizieren lassen und angeboten, dass ich für Fragen zur Verfügung stehe.

Betriebsräte und große Personalabteilungen gibt es vor allem in Konzernen. Wie ist das in kleineren Firmen wie Startups?

Ich glaube, es muss dort gar nicht so anders sein. Jedes Unternehmen, egal wie groß, hat eine gewisse Kultur. Wenn sie in einem sehr offenen Unternehmen arbeiten, kommunizieren sie das „nebenbei“ und alle sind schnell abgeholt. Bei einem formalistischeren Betrieb ist es sinnvoll, auch die Kommunikation formalistischer zu wählen. Manche Personen brauchen zudem vielleicht mehr Informationen als andere.

Wie geht man gegenüber Kunden souverän damit um?

Am souveränsten handhabe ich solche Situationen, indem ich das Thema gar nicht erst zum Thema mache. Wenn die Person mich vorher mit dem anderen Erscheinungsbild kennt, ist es natürlich schwierig. Aber wenn ich selbst neue Menschen treffe, auch aus ganz unterschiedlichen Kulturkreisen, etwa aus Russland oder dem Mittleren Osten, mache ich das nicht zum Thema, wenn es keinen Mehrwert für die Situation hat. Ich möchte ja nicht das Label „transsexuelle Frau“ bekommen, sondern als normale Frau oder einfach als Mensch gesehen werden. Und das ist ein wichtiger Aspekt, denn sonst wird man auf diese Eigenschaft – egal ob transsexuell, divers oder wie auch immer – reduziert. Ich persönlich würde genau das nie wollen.

Kennen Sie Beispiele für Diskriminierung am Arbeitsplatz aufgrund der Geschlechtsidentität?

Ich habe mal einen Bewerbungsworkshop für transsexuelle Menschen gegeben. Da war eine Person dabei, der nach dem Coming-Out ein Projekt gegeben wurde, das sie in extrem kurzer Zeit hätte schaffen sollen. Zeitlich war das unmöglich. Alternativ sagte man ihr, dass sie einen Aufhebungsvertrag unterschreiben kann. Die Person ist dann aus dem Unternehmen ausgeschieden. Es kommt vor, dass so Druck auf transsexuelle Personen ausgeübt wird. Trotzdem werden bei Verfahren vor Arbeitsgerichten meist nur Vergleiche geschlossen und es gibt wenige Urteile zu solchen Fällen.

An welche Stellen können sich Betroffene wenden?

Man kann zum Beispiel die Antidiskriminierungsstelle des Bundes einschalten, um sich dort Rat zu holen. Jeder muss selbst entscheiden, vielleicht auch mit rechtlicher Beratung, ob und wie man vorgehen möchte. Man darf aber nicht unterschätzen, mit welchem Stress beispielsweise eine Klage verbunden ist.

Seit Dezember 2018 ermöglicht das Personenstandsgesetz neben „männlich“ und „weiblich“ auch den Geschlechtseintrag „divers“. Was muss getan werden, um die Situation dieser Menschen am Arbeitsmarkt zu verbessern?

Zunächst ist es gut, dass der Gesetzgeber unter dem Druck des Bundesverfassungsgerichts anerkannt hat, dass es geschlechtliche Variationen gibt und nunmehr auch die dritte Geschlechtsoption personenstandsrechtlich möglich ist. Ich bin überzeugt, dass darüber hinaus eine gesamtgesellschaftliche Aufklärung wichtig ist, weil letzten Endes auch diejenigen, die in Unternehmen Personalentscheidungen treffen, Teil der Gesellschaft sind und eine Haltung zu dem Thema haben. Man sollte beispielsweise wissen, dass Transsexualität keine Krankheit ist. Ich denke, dass es wichtig ist, dass es in der gesellschaftlichen Wahrnehmung zu einer Entpathologisierung kommt. Unternehmen sollten sich dieses Thema auf die Fahne schreiben und bereit sein, diese Gruppe ganz gezielt anzusprechen und damit zeigen, dass es ihnen viel bedeutet, dass sich hier jeder frei entfalten kann – unabhängig davon, welches Geschlecht, welche sexuelle Orientierung oder Identität jemand hat.

Was entgegnen Sie Menschen, die sagen: „Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung haben am Arbeitsplatz nichts verloren“?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Viele Menschen in meinem beruflichen Umfeld haben Fotos ihrer Familie auf dem Schreibtisch stehen, und ich könnte Ihnen jetzt von jedem sagen, welche sexuelle Orientierung die Person und welches Geschlecht der Partner hat. Wenn Sie montags ins Büro kommen, lautet doch die erste Frage: Was hast du so am Wochenende gemacht? Dann erzählen Kollegen, dass sie mit ihrer Freundin oder ihrem Mann unterwegs waren, dass sie die Familie besucht oder mit den Kindern gespielt haben. Relativ schnell ist die sexuelle Orientierung klar. Wenn es aber ein Problem ist, wäre man gezwungen, sich eine Geschichte auszudenken. Genauso bei Transsexualität: Wenn Sie ein Doppelleben führen – das kostet sehr viel Kraft. Möchte man sich nach der Arbeit noch mit Freunden treffen, die einen nur als Frau kennen und im Job tritt man aber als Mann auf, muss man schnell nach Hause, sich umziehen, eventuell noch schminken und geht dann in die Stadt: Das ist ziemlich blöd und schränkt das soziale Leben ein. Wenn man beide Leben voll leben muss, dann ist das extrem anstrengend. Meine Kraft hat damals nicht mehr dafür gereicht.

Geschlechtsidentität und geschlechtliche Vielfalt in Deutschland – was bedeutet das eigentlich? Das journalistische Instagram-Projekt „Divers*land“ der Axel Springer Akademie beschäftigt sich mit dieser Frage. Trans* und inter* Menschen erzählen darin aus ihrem Leben – und von Diskriminierung im Alltag, zum Beispiel im Job. Anlass ist die Gesetzesänderung zur dritten Option im Geburtenregister: „divers“. Hinter Divers*land stehen 18 Journalistinnen und Journalisten. Das Interview ist im Rahmen dieses Projekts geführt worden. Alle Storys auf instagram.com/divers.land und www.divers.land.

Bild: Thyssenkrupp