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Der Ottakringer-CEO Ortner (rechts) spricht mit Gründer Zeiler. Im Hintergrund: ein Kühlschrank der Brauerei, ein Geschenk an das Startup

Als der Geschäftsführer der Wiener Ottakringer-Brauerei, Matthias Ortner, am Montagmorgen bei dem Berliner Startup Einhorn eintrifft, erwarten ihn dort nur zwei Mitarbeiter. Waldemar Zeiler, einer der Gründer der Firma und Mitarbeiter Enno, der den Besuch filmen soll. Ansonsten sind die Schreibtische leer, die Kaffeeküche verwaist.

„Ist es normal, dass um 10.10 Uhr nur der Chef da ist und sonst niemand?“, fragt Ortner. Zeilers Antwort: „Völlig normal!“ Schließlich gebe es keine Arbeitszeiten. Nur um vier beim Teammeeting seien die meisten da, schließlich hätten sie Interesse daran, sich auf den neuesten Stand zu bringen. „In meiner Firma gehen viele um vier schon wieder nach Hause“, sagt der Wiener. Doch in diesem Startup läuft vieles anders.

Es ist der Beginn einer Woche, in der Ortner mit dem anderen Einhorn-Gründer, Philip Siefer, den Arbeitsplatz tauscht. Siefer leitet von Wien aus die 180 Jahre alte Brauerei, die 150 Mitarbeiter beschäftigt und der Brauerei-Chef übt sich als Gründer. Ein Geschäftsführer eines alteingesessenen Familienunternehmens in einer hippen Berliner Kondombude? Kann das gut gehen? 

Startup: eine Welt ohne Hierarchien

Im Gegensatz zum Familienunternehmen aus Wien mutet das Startup winzig an: 2015 gegründet arbeiten hier 17 Mitarbeiter, der Umsatz lag im vergangenen Jahr bei etwa einer Million – im Vergleich dazu: die Brauerei erzielt 77 Millionen Umsatz.

Immer hatten die Einhorn-Gründer bei Vorträgen ihr Publikum dazu aufgerufen, ihren Vorgesetzten vorzuschlagen, einen CEO-Tausch zu machen. In der Regel erhielten sie keine Antwort. Doch dann schlug schließlich die Eigentümerin von Ottakringer ihren Geschäftsführer für das Experiment vor. Der nahm die Herausforderung an. 

„Vor allem zwei Schwerpunkte interessieren mich“, erzählt er. Wie das Zusammenspiel mit den Mitarbeitern funktioniert – ob man sie an der Firma beteiligt und wie man ohne hierarchische Entscheidungen auskommt. Und wie man die Motivation bei den Angestellten fördert. Das alles will er nun im Startup lernen.

Um dorthin zu kommen, muss er nun erstmal durch einen schmuddelig Kreuzberger Hinterhof. Im Hinterhaus geht es vier Stockwerke hoch – Ortner nimmt den Lastenaufzug. Dann steht er in einer alten Fabrikhalle im Großraumbüro des Unternehmens, im strahlend weißen Hemd und Sakko, gebügelt. 

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Was ist das für 1 Klingelschild?

„Wir haben hier keine Chefs, sondern nur Mentoren“, macht Gründer Zeiler gleich zu Anfang klar. Es klingt wie ein Satz aus einem Management-Buch für Glück am Arbeitsplatz. Befehle gebe es auch nicht. Alle sollen gerne und aus eigenem Antrieb mitarbeiten. Ortner engagiert: „Ich bin jetzt also einer der Mentoren.“ 

Fragt man ihn, was wohl die schwierigste Aufgabe in der Woche sein wird, sagt er spontan: „Einen Snapchat-Account zu führen.“ Immer wieder soll er tagsüber seiner Handykamera erzählen, was er gerade macht – das ist Teil des Jobs im Startup. 

Dieses Detail begeistert den Brauerei-Chef

Das Einhorn-Büro besteht aus einem großen Raum mit angrenzender Küche. Auf der einen Seite stapeln sich Umzugskartons mit Ware, diesen Ort nennt der Einhorn-CEO „das Lager“. Auf der anderen Seite steht eine Tischtennis-Platte, es gibt eine Ecke mit Sitzsäcken und einen Automaten, aus dem man sich mit einem Greifarm Kondome ziehen kann. Dazwischen Schreibtische, Pflanzen, ein Fahrrad, zwei Bürohunde. Die minimalistisch-stylische Einrichtung ist typisch für etliche Startups, die in ähnlichen Hinterhöfen in Berliner In-Kiezen residieren.

Von der büroeigenen Kaffeemaschine zeigt sich Ortner wenig beeindruckt, obwohl Zeiler mehre Male betont, dass sie neu und absolut „fähig“ sei. Vielmehr hat es dem Brauerei-Chef das Telefonzimmer angetan – ein abgetrennter Bereich im Großraum. „Und da hört man wirklich nichts von draußen?“, will er wissen. Zeiler verneint, was seinem Gegenüber ein „Wahnsinn“ entlockt. 

Berufsuniform ist ein graues T-Shirt

„Kriege ich jetzt auch so ein Einhorn-Leibchen, damit ich richtig adjustiert bin?“, fragt Ortner, mit Blick auf das graue T-Shirt mit dem Einhorn-Logo, das der Berliner trägt. Und klar, so eins hat der noch im Schrank. „Wir haben durchgesetzt, dass wir bei Medienauftritten immer so ein Shirt anziehen, das ist unsere Berufsuniform“, sagt er. 

Er ist sich sicher: „In Sachen Marketing können große Firmen noch was von Startups lernen.“ Auch diesen CEO-Tausch lassen die beiden Einhorn-Gründer nicht unbeobachtet. Sie haben ihn Tage vorher der Presse angekündigt. In dieser Woche ist sogar ein Fernsehteam vor Ort. Ortner verschwindet ins Bad, um sich das graue T-Shirt überzustreifen.

Sein erster Tag in dem jungen Unternehmen besteht vor allem darin, Menschen kennenzulernen. Es sind Menschen wie Sandra, die ihm der Einhorn-Gründer ankündigt mit: „Sandra zeichnet extrem gut Pimmel.“ Ortner kontert durchaus charmant: „Es ist wirklich gut, wenn man eine Kernkompetenz hat.“ „Ich kann noch viel mehr zeichnen“, antwortet die Geschmeichelte. 

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Vorstellungsrunde beim Einhorn-Team

Nach der Mittagspause dreht Ortner einen kurzen Clip mit seinem Handy. Gleich beginne das Teammeeting, erzählt er. Da freue er sich darauf. Noch ein Klick und das Video geht online. Dass Snapchat neu für ihn ist, merkt man nicht.

Danach setzt er sich an den Küchentisch und wartet, bis nach und nach zehn Einhorn-Mitarbeiter eintrudeln. „Ich bin der Matthias, bin verheiratet und hab zwei Söhne“, stellt er sich ihnen vor. Seit 26 Jahren arbeitet er bei Ottakringer. Mit Blick auf die Runde ist das länger als viele Menschen im Raum alt sind. 

Viele Fragen in der Küche

Dann stellt sich das Team reihum vor, einer führt Protokoll. Der Brauerei-Chef hört aufmerksam zu und er hat viele Fragen:

Wie geht ihr mit unterschiedlichen Meinungen um?

Wer bestimmt, wie etwas gemacht wird? 

Dauert das nicht alles viel zu lange?

Was ist mit Deadlines, wenn es keine Anwesenheitspflicht gibt?

Wie wisst ihr, wer an was arbeitet, wenn alle alles machen?

Könnte sich jemand von Euch für ein halbes Jahr nach Südamerika absetzen und ihr macht dann die Arbeit für ihn mit?

Die Antworten kommen flüssig. Man spreche sich gut ab. Man lerne, zu pullen und nicht zu pushen: also auf andere keinen Druck auszuüben, sondern sie so zu motivieren, dass sie etwas gerne und von sich aus täten. Man nehme keine neuen Aufgaben an, wenn man bereits genug auf dem Tisch habe. Man fühle sich verantwortlich für das Team und die Firma – darum setze man sich auch einfach nicht in ein fremdes Land ab. Und eine Person kümmere sich meistens um ein Projekt gezielt. „Ach, es gibt hier doch einen Projekt-Lead“, unterbricht Ortner. Ja, sagt eine Mitarbeiterin, das könne man so sagen. 

Wie viel Bier trinkt ein Brauerei-Chef am Tag?

Auch das Team will etwas von Ortner wissen: Wie viele Liter Bier er am Tag trinke? Es ist eine Frage, die einem Brauerei-Chef wohl häufiger gestellt wird, so schnell wie er antwortet. Deutlich mehr als der österreichische Durchschnitt, sagt er. Und der betrage immerhin 105 Litern im Jahr – seine Landsleute lägen beim Bierkonsum an zweiter Stelle, gleich hinter den Tschechen. Am Tag könnten so schon mal drei kleine Bier zusammenkommen. Allerdings, so schränkt Ortner ein, trinke er nicht jeden Tag.  

Gegen Abend gibt es noch ein Coaching für die Gruppe – etwas, das laut dem Einhorn-CEO regelmäßig geschehe. Nach einer kurzen Meditation, bei der die Mitarbeiter am Küchentisch tief ein- und ausatmen, erzählt ein Trainer ihnen, wie sie Konflikte nicht eskalieren lassen können. Stopp sagen. Über eigene Gefühle sprechen. Empathie zeigen. Und Ortner macht mit, obwohl er später sagt, dass er gewaltfreie Kommunikation bereits könne. 

Auch im Startup gibt es Strukturen

„Sehr unkompliziert, offen und freundlich ist es hier“, zieht er am Ende des Tages Bilanz. Das habe er aber erwartet. Er selbst habe zwar ein Einzelbüro, doch einen Großraum gebe es in der Brauerei ebenfalls. Auch in der Brauerei seien alle per Du, klassisch patriarchisch funktioniere es nicht: „So weit weg vom Gefühl her, wie man es erwarten würde, ist es gar nicht.“ 

Und noch eine Erkenntnis: Auch das Startup hat Strukturen, weniger offizielle: „Projekt-Lead und Protokoll in einem Teammeeting, das hat mich schon überrascht.“

In der Brauerei gebe es Typen, die seit Jahrzehnten in der Abfüllung arbeiteten: „Hier sind die Mitarbeiter einander sehr ähnlich, was sie erleben und wie sie Arbeit sehen.“ Alle seien jung, kurz dabei und deshalb in Aufbruchstimmung. „Da hat man es natürlich in einem alteingesessenen Unternehmen schwerer, Menschen für Neues zu motivieren.“ 

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Die Telefonbox – ein Raum im Raum

Wie und ob er die ersten Eindrücke in Wien umsetzen wird, weiß er noch nicht: „Die Frage ist, wie ich bei Mitarbeitern das Pull fördere und das Push verhindere.“

Bei einer Sache ist er sich allerdings sicher. „Die Telefonbox, die finde ich super.“ So eine werde es auch in der Brauerei geben. Schon alleine deshalb habe sich der Besuch beim Startup für ihn bereits gelohnt.

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Bild: Gründerszene