„Arbeit sollte auf keinen Fall ein Ort oder eine klassische Berufsbezeichnung sein“, findet Online-Unternehmer Sebastian Kühn.

Festanstellungen haben den digitalen Nomaden Sebastian Kühn nie erfüllt. Als 2012 sein letzter Arbeitsvertrag auslief, er halbherzig in einem Vorstellungsgespräch für einen neuen Job saß und danach eine Absage bekam, so erzählt er im Interview mit Gründerszene, war die Lösung klar: Er muss seinen eigenen Job schaffen. Er fing an, als selbstständiger Übersetzer zu arbeiten. 2013 gründete er seine eigene Agentur, die wiederum selbst Freelancer beschäftigte.

Zeitgleich arbeitete er sich in den Bereich E-Commerce ein und startete seine Plattform Wireless Life. Über die vertreibt er heute Bücher, bietet Workshops, Beratungsleistungen sowie Workations an, also Urlaub, in dem auch gearbeitet wird. Sein zweites Projekt ist Citizen Circle, eine kostenpflichtige Community für ortsunabhängige Unternehmer, die er gemeinsam mit vier Partnern betreibt.

Sebastian, was bedeutet Arbeit für dich?

Arbeit sollte auf keinen Fall ein Ort oder eine klassische Berufsbezeichnung sein. Für mich verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Leben. Arbeit soll zu meinem Leben passen, sie soll mir Spaß machen und mir sinnvoll erscheinen. Ob das dann selbständig, angestellt oder als Kreativer passiert, ist egal. Verrückt ist es doch aber, den Großteil seiner Zeit mit einer Arbeit zu vergeuden, die keinen Spaß macht – nur des Geldes wegen, das ich dann für wohlverdiente Urlaube ausgebe und um mir Dinge zu kaufen, die ich eigentlich nicht brauche.

Lest auch

Was macht einen digitalen Nomaden aus?

Es bedeutet, sich eine größtmögliche Unabhängigkeit von Ort, Zeit und Geld zu schaffen. Die örtliche Freiheit, indem ich eine Leistung anbiete, die ich digital erbringen kann. Die zeitliche Freiheit, indem ich nicht selbst die Leistung erbringen muss, sondern mein Geschäft bestmöglich automatisiere und Aufgaben auslagere. Die finanzielle Freiheit, indem ich meine Leistung skaliere, also ein Angebot schaffe, das größtenteils unabhängig von mir als Person ist. Persönlich nehme ich diese Freiheiten so wahr, dass ich alle paar Monate meinen Aufenthaltsort wechsle, zu großen Teilen an Dingen arbeite, die mir Spaß bereiten, und mir meine Arbeitszeit nicht nach Wochentagen oder festen Stundenkontingenten einteile.  

Welche Vorteile hat die Arbeit als digitaler Nomade gegenüber einer Festanstellung?

Erstens, kein festes Büro und keine Mitarbeiter zu haben, sodass ich jederzeit den Ort wechseln kann. Zweitens, der minimalistische Lebensstil, was sowohl materielle Besitztümer als auch vertragliche Verpflichtungen und mentalen Ballast betrifft. Drittens, die Idee, meine Arbeit an meinen Lebensstil anzupassen. 

Und was spricht dagegen?

Bei mir ist es das fehlende Heimatgefühl, dass sich auch durch gute Freunde und Orte, die sich fast wie ein Zuhause anfühlen, nicht vollständig ersetzen lässt. Dann sind es die bürokratischen Hürden, die jeder Selbständige kennt. Dazu kommen dann noch Dinge wie die Versicherung im Ausland, die Beantragung von Visa, Abmeldung aus Deutschland, Steuerpflichten in verschiedenen Ländern und so weiter. 

Angenommen, jemand gibt seine aktuelle Festanstellung auf und plant, sich ein Leben als digitaler Nomade aufzubauen, was wären die ersten Schritte, die du empfiehlst?

Sebastian Kühn kann sich auch vorstellen, irgendwann wieder an einem festen Ort zu arbeiten

Angenommen, jemand gibt seine aktuelle Festanstellung auf und plant, sich ein Leben als digitaler Nomade aufzubauen, was wären die ersten Schritte, die du empfiehlst?

1. Werde dir bewusst, was dich an deinem alten Job überhaupt stört.

Ist es wirklich der Job oder sind es nur die Rahmenbedingungen? Immer mehr Arbeitgeber lassen sich auf flexible Arbeitszeiten und Remote Work Agreements ein. Wenn der alte Job nicht mehr in Frage kommt, dann sollte man herausfinden, was man wirklich will. Wo möchte man leben? Wie soll der Alltag aussehen? Womit möchte man in den nächsten zehn Jahren sein Geld verdienen? Möglichkeiten für digitale Geschäftsmodelle gibt es zu Genüge, aber die Energie ist schnell verbraucht, wenn die Motivation nicht die Richtige ist.

2. Entwickle einen Plan, wie und womit du dein Geld verdienen willst.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten: als Freelancer, im klassischen Tausch von Zeit gegen Geld. Als Dienstleister, der Methoden und Prozesse entwickelt, um Leistungen möglichst zu standardisieren und dann einzelne Aufgaben auszulagern. Als Online-Händler mit dem Verkauf von eigenen oder fremden Produkten. Als Experte mit einer eigenen Plattform wie einem YouTube-Kanal, Blog oder Facebook, über die dann digitale Produkte, Coachings oder Werbeplätze verkauft werden.

3. Erkundige dich bei anderen Personen, die den gleichen Schritt gewagt haben, und vernetze dich mit ihnen.

In jeder größeren Stadt gibt es Facebook-Gruppen für digitale Nomaden und regelmäßige Meetups. Außerdem wird einmal jährlich mit der DNX eine Konferenz für digitale Nomaden in Berlin veranstaltet. Das sind tolle Möglichkeiten, um mal mit anderen Nomaden ins Gespräch zu kommen und sich inspirieren zu lassen. Zum Lesen kann ich neben meinem eigenen Buch vor allem das „Lean Startup“ von Eric Ries und „Start With Why“ von Simon Sinek empfehlen.

4. Wenn möglich, bau dir einen finanziellen Puffer ein.

Ich hatte damals keinen Puffer, was mir zwar den nötigen Druck verschafft hat, aber nicht sehr empfehlenswert ist. Wenn du als Freelancer startest, bekommst du über Jobportale relativ schnell erste Aufträge, auch wenn diese schlecht bezahlt sind. So kann man im ersten Monat sofort Geld verdienen. Mit unternehmerischen Aktivitäten wie dem Handel mit physischen Produkten, dem Angebot von Beratungsleistungen oder der Wissensvermittlung über eBooks und Online-Kurse würde ich mindestens sechs Monate Puffer einplanen.

Lest auch

5. Behalte drei wichtige Punkte immer im Hinterkopf.

Das Warum muss klar sein. Warum starte ich dieses Business? Warum sollte sich jemand um meine Idee kümmern? Warum bezahlt jemand für meine Problemlösung?

Das Geschäftsmodell sollte eine Schnittstelle aus Expertise, entweder meiner eigenen oder der von Mitarbeitern und Partnern, sein, gepaart mit Leidenschaft, der Nachfrage am Markt plus die Zahlungsbereitschaft der Kunden. Menschen geben Geld für die Lösung von Engpässen und Problemen aus. Ich muss ein Problem erkennen und dieses besser lösen als alle anderen am Markt.

Kontinuität. Nach der anfänglich hohen Motivation muss ich mich auch durch Tiefs kämpfen. Ich muss mich damit abfinden, dass nicht gleich die erste Idee einschlägt und bereit sein, ein Scheitern in Kauf zu nehmen. Das fällt mir leichter, wenn ich ein ganz klares Warum habe.

Inwiefern hat dich das Leben als digitaler Nomade geprägt oder gar verändert?

Es hat mich mutiger gemacht. Misserfolge machen mir keine Angst mehr. Ich probiere aus, falle hin, stehe wieder auf und lerne aus den gescheiterten Versuchen. So etwas hätte ich mir früher nicht erlaubt.

Wenn ich den ganzen Prozess erneut durchlaufen würde, würde ich beispielsweise nicht mehr so lange als Freelancer tätig sein. Stattdessen würde ich schneller ein Business aufbauen, das an sich einen Wert schafft und nicht so stark von mir als Person abhängig ist. Außerdem würde ich mir anfangs mehr Zeit nehmen, um für mich herauszufinden, was ich eigentlich will, anstatt auf gut Glück die verschiedensten Sachen auszuprobieren – was andererseits auch eine gute Erfahrung war. 

Könntest du dir jemals vorstellen, wieder an einen festen Ort und in feste Strukturen zurückzukehren?

Absolut. Mein ideales Lebensmodell entspricht momentan der Multi-Lokalität, also zwei bis drei feste Orte mit Wohnungen auf der Welt zu haben, an denen ich mich Zuhause fühle. Mit Mitte Dreißig denke ich natürlich auch an Familie, mit der ich mir einen gelegentlichen Wechsel zwischen bekannten Orten gut vorstellen kann. Was ich mir allerdings nicht mehr vorstellen kann, ist das Arbeiten aus einem permanenten Büro heraus. Ich habe für mich gelernt, dass mich wechselnde Umgebungen produktiv und kreativ machen.

Wem würdest du ein Leben als digitalen Nomaden empfehlen – und wem eher nicht?

Menschen mit einem hohen Sicherheitsbedürfnis könnten mit den vielen Unsicherheitsfaktoren zu kämpfen haben. Wobei diese Freiheiten, die ich mir als digitalen Nomaden schaffe, ja auch nicht zwangsläufig bedeuten, dass ich sie jederzeit nutzen muss. Ich kenne viele Eltern, die gerne aus dem Home-Office arbeiten und in den Ferien oder im Winter längere Urlaube als Familie machen möchten. Genauso gibt es ortsunabhängige Unternehmer, die im Sommer in Deutschland sehr glücklich sind und sich lediglich im Winter eine Finca auf Teneriffa mieten. Empfehlen würde ich in jedem Fall, diesen Lifestyle anfangs für sechs oder zwölf Monate auszuprobieren, um zu lernen, ob einem das Reisen und gleichzeitige Arbeiten überhaupt liegt.

Was ist dein größtes Learning aus den vergangenen sechs Jahren, das du anderen, die einen ähnlichen Weg gehen wollen, gerne mitgeben möchtest?

Zuallererst sind wir Unternehmer, die ein Business aufbauen wollen. Das funktioniert nicht, wenn ich alle paar Wochen meinen Aufenthaltsort und die Zeitzone wechsle. Deshalb: Zuerst ein solides Einkommen aufbauen und dann langsam Reisen, beispielsweise den Ort alle ein bis zwei Monate ändern. Außerdem kann ich hier nur nochmal betonen, wie wichtig dieses Warum für mein Tun und mein Business ist. Wenn die Klarheit darüber fehlt, was meine Vision und der Sinn für das ist, was ich hier eigentlich tue, dann wird mir schnell die Luft ausgehen.

Bild: Sebastian Kühn