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„Vor Schlaf hat heute kaum noch jemand Respekt“, meint Schlafmediziner Ingo Fietze. Vor allem in der Startup-Branche ist Übernächtigung verbreitet.
„Vor Schlaf hat heute kaum noch jemand Respekt“, meint Schlafmediziner Ingo Fietze.

 

Kurze Nächte scheinen in der Tech-Szene zu einem Statussymbol geworden zu sein. WordPress-Erfinder Matt Mullenweg etwa nickt mehrmals am Tag für kurze Zeit ein, um auf den klassischen Nachtschlaf verzichten zu können. Lea-Sophie Cramer, Gründerin des Sextoy-Startups Amorelie, steht angeblich um fünf Uhr auf, um schon morgens Wichtiges wegzuschaffen. Und Tesla-Chef Elon Musk? Der gab öffentlich zu, sich regelmäßig ein gefährliches Schlafmittel zu verabreichen.

Ingo Fietze, Oberarzt für Innere Medizin und Leiter des Schlafmedizinischen Zentrums an der Berliner Charité, hat dafür wenig Verständnis. Er warnt vor schweren gesundheitlichen Risiken, die durch andauernden Schlafmangel entstehen können. Ihm zufolge gibt es zwischen wenig Schlaf und hoher Leistungsfähigkeit auch keinen wissenschaftlich erwiesenen Zusammenhang. Dafür hat Fietze einen anderen Produktivitätstipp für Gründer.

Herr Fietze, wie haben Sie heute geschlafen?

Ganz gut. Insgesamt etwa sieben Stunden.

Ist das viel oder wenig?

Sieben Stunden sind okay, ideal wären siebeneinhalb bis acht.

Und das Minimum?

Sechs Stunden. Damit kommt man zwar durch den Tag, läuft aber schon Gefahr, früh müde zu werden, Fehler zu machen oder sogar Unfälle zu verursachen.

Dann leben Unternehmer wie Tesla-Chef Elon Musk gefährlich. Er geht angeblich erst um ein Uhr nachts ins Bett und steht um sieben schon wieder auf. Virgin-Gründer Richard Branson soll sogar nur fünf Stunden schlafen.

In der Bild-Zeitung habe ich mal gelesen, dass Herr Branson den Elon Musk dafür kritisiert hat, dass er so wenig schläft. Das ist grotesk und ich halte die Angaben auch nicht für glaubwürdig. Vielleicht schlafen beide nachts mal etwas weniger, dafür werden sie tagsüber aber mit dem Auto von links nach rechts chauffiert oder hocken im Flieger. Das sind alles gute Gelegenheiten für ein kurzes Nickerchen. Nur redet darüber natürlich niemand. Fakt ist: Ein Schlafdefizit lässt sich nicht überspielen. Wie eine nicht bezahlte Schuld wird es auf Dauer immer größer.

 

Ingo Fietze ist Leiter des Interdisziplinären Schlafmedizinischen Zentrums an der Berliner Charité.

 

Ingo Fietze ist Leiter des Schlafmedizinischen Zentrums an der Berliner Charité.

Wie lange kann ein Mensch ohne genügend Schlaf auskommen?

Sie meinen wenig schlafen und trotzdem fit sein? Das geht mehrere Wochen bis Monate lang. Vorausgesetzt, der Körper schüttet gleichzeitig viel Adrenalin aus. Man kann das häufig bei Extremsportlern beobachten, die etwa den Mount Everest besteigen oder die Welt umsegeln. Das sind alles hochriskante Vorhaben.

Ein Unternehmen zu gründen auch.

Trotzdem lässt sich kein Zusammenhang zwischen wenig Schlaf und höherer Leistungsfähigkeit herstellen. Im Gegenteil: Studien zeigen, dass der Mensch am produktivsten ist, wenn er ausgeschlafen hat und das auch dauerhaft ist. Es gibt allerdings Uhrzeiten, zu denen Höchstleistungen besonders wahrscheinlich sind.

Welche Uhrzeiten sind das?

 

Auch hier hilft ein Blick in den Profisport: Die meisten Weltrekorde in der Leichtathletik werden zwischen 18 und 21 Uhr aufgestellt. In dieser Zeit erreichen Puls, Blutdruck, Atemfrequenz, Muskelkraft und Geschicklichkeit das maximale Tageshoch. Erst recht, wenn Sie ausgeschlafen sind.

Heißt das, man verlegt Meetings oder To-Dos besser in den Abend?

So pauschal würde ich das nicht sagen. Geht es nämlich um das rein geistige Leistungsvermögen, hat der Mensch sein Tageshoch zwischen acht und zehn Uhr morgens. Wichtige Meetings oder Aufgaben verlegen Sie also besser in diese Zeit. Was die Koordination von Kopf und Geist betrifft, liegt unser Maximum zwischen 17 und 21 Uhr. Dieser Zeitraum wird produktiv jedoch kaum genutzt, da hockt der Mensch ja meist im Garten oder vor dem Fernseher. Wenn man jetzt Gründer ist, wäre mein Vorschlag: Arbeiten Sie von acht bis 12 – und am Abend noch mal. 

Für viele Gründer und Mitarbeiter mit Familie dürfte das nicht aufgehen.

Da haben Sie recht, aber als Unternehmerin oder Unternehmer muss man ja nicht gleich ein ganz neues Arbeitszeitmodell erfinden. Es wäre schon viel geholfen, eine ausgedehnte Gleitzeit im Unternehmen einzuführen. Jeder kann also arbeiten wann und wie er will, solange die Aufgaben und Ziele am Ende erfüllt werden.

Beobachten Sie generell einen Trend zur „Übernächtigung“?

Ja, das ist leider weltweit der Fall – und zwar schon seit mehr als 100 Jahren.

Wie erklären Sie sich das?

Seit der Erfindung des elektrischen Lichts verbringt der Mensch die Abende nicht mehr im Dunkeln. Das hat unseren Tag-Nacht-Rhythmus durcheinander geworfen. War es früher die Glühbirne, sind es heute zusätzlich Smartphones und Tablets, die uns lange wach halten und am Zubettgehen hindern. Müdigkeit, Schlafstörungen, Unfälle im Straßenverkehr – alles nimmt Studien zufolge zu.

Was lässt sich dagegen tun? Einfach das Smartphone nach Feierabend zur Seite legen?

Wir können jetzt viel über Tipps und Tricks für besseren Schlaf diskutieren. Etwa, dass es helfen kann, 30 Minuten vor dem Zubettgehen offline zu gehen, zu meditieren oder ein Buch zu lesen. Das ändert aber nichts am eigentlichen Grundproblem: Vor Schlaf hat heute schlichtweg kaum noch jemand Respekt.

Das müssen Sie erklären.

Den meisten Menschen ist nicht bewusst, dass Schlaf viel mehr ist als nur ein paar Stunden Bewusstlosigkeit. Guter Schlaf stärkt das Gedächtnis und reinigt das Gehirn von vielen Abfallprodukten, die tagsüber durch kognitive Leistungen im Büro erbracht werden. Verschwinden diese Abfallprodukte auf Dauer nicht aus dem Kopf, steigt das Risiko für Krankheiten wie Demenz oder Alzheimer.

Was bedeutet das für Gründerinnen und Gründer?

Wie im Leistungssport braucht es auch in der Startup-Szene Vorbilder. Ich bin mir sicher, dass viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in jungen Unternehmern wissen, wie sie sich gesund ernähren oder mit Sport fit halten. Nur wie sie mit ihrem Schlaf-Wach-Verhalten umgehen sollen, das wissen sie meistens nicht. Woher auch? Es wird weder in der Schule vermittelt, noch wird in Unternehmen dafür sensibilisiert. Ich kenne jedenfalls kein Startup, wo Schlaf- und Ruheaktivitäten ausdrücklich gewünscht sind. Falls Sie eines kennen: Schreiben Sie mir!

Was wäre Ihr Vorschlag: Schlafkojen in den Büroflur stellen?

Nein, dafür muss man nicht einmal Geld ausgeben! Mein Appell an Gründerinnen und Gründer ist: Lasst eure Mitarbeiter im Büro einschlafen! Einfach mal für 20 Minuten die Augen schließen, ohne dass der Sitznachbar die Nase rümpft. Danach kann wunderbar vier Stunden weitergearbeitet werden. Das ist die effektivste Produktivitäts-Methode, die Startups nutzen können.

Einige Firmen versprechen, den Schlaf durch spezielle Präparate optimieren zu können. Eine Ampulle des Startups Smart Sleep etwa soll bewirken, dass man sich auch dann frisch und ausgeruht fühlt, wenn man eigentlich zu wenig geschlafen hat. Das Präparat der Firma Sleep Ink soll sogar die Einschlafzeit verkürzen und Jetlag lindern. Was halten Sie davon?

Gar nichts. Diese Anbieter werden ein bis zwei Jahre Geld verdienen und dann vom Markt verschwinden.

Weil die Produkte nichts taugen?

Sie sind zu 50 Prozent reines Placebo. Das Problem bei Anbietern wie Smart Sleep und Sleep Ink sind die fehlenden wissenschaftliche Belege. Das ist vergleichbar mit den diversen Matratzenfirmen, die eine Matratze bewerben, auf der man angeblich besonders gut schlafen soll. Dabei wurden von den Anbietern keine publizierten Studien dazu gemacht. Die Idee, Schlaf zu optimieren, ist an sich aber richtig.

Inwiefern?

In zehn Jahren werden wir unseren Schlaf vielleicht durch Hilfsmittel „intensivieren“ können. Dann brauchen wir statt mindestens sechs womöglich nur noch vier oder fünf Stunden Schlaf. Wissenschaftlich ist das aber reine Spekulation. Alles, was derzeit auf dem Markt ist – egal, ob es ein Drink ist, ein Kopfhörer mit akustischen Wellen oder andere Schlafgadgets – bringt jedenfalls noch nichts.

Trotzdem kommen Gründerinnen und Gründer gerade in der Anfangsphase oft nicht um weniger Schlaf herum. Was hilft im Notfall, um bei einem wichtigen Investoren-Meeting nicht einzunicken?

Tatsächlich nur Kaffee. Oder Guarana aus der Apotheke, das ebenfalls wachmachendes Koffein enthält, das Herz-Kreislauf-System auf Dauer aber weniger stark belastet.

Und was hilft gegen Jetlag?

Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von Apps mit Tipps und Tricks, wie man sich vor, während und nach einem Langstreckenflug am besten verhält. 

Haben Sie ein Beispiel?

Grundsätzlich gilt: Pro Stunde Zeitverschiebung benötigt der Körper einen Tag, um den gewohnten Tag-Nacht-Rhythmus wieder anzugleichen. Fliegt eine Gründerin zum Beispiel für ein Meeting nach New York, braucht sie normalerweise sechs Tage, um den Jetlag zu überwinden. Diese Zeit lässt sich um die Hälfte verkürzen, indem man etwa vor und während dem Flug nur zu bestimmten Uhrzeiten isst, die Lichtintensität reduziert oder eine Melatonintablette schluckt. Das hängt aber natürlich immer von der Flugstrecke und den Abflugzeiten ab.

Vielen Dank für das Interview, schlafen Sie gut.

 

Bilder: HECTOR RETAMAL/Getty Images / Anke Illing

Dieser Artikel erschien ursprünglich am 2. Juli 2020 und hat besonders viele Leserinnen und Leser interessiert.

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