Deutschland muss dringend in Bildung investieren.

Die Prognose eines dramatischen Fachkräftemangels in Deutschland dürfte viele überraschen. Schließlich ist allerorten zu lesen, die Digitalisierung werde Hunderttausende Arbeitsplätze vernichten, von bis zu einem Viertel aller Jobs ist die Rede. Die Wirklichkeit ist komplexer. Der zunehmende Einsatz von Robotern und Künstlicher Intelligenz (KI) wird menschliche Arbeit zwar in vielen mechanischen Tätigkeiten überflüssig machen, gleichzeitig jedoch den Bedarf an qualifiziertem Personal nach oben treiben.

Intelligente Maschinen und Systeme funktionieren nur dann einwandfrei, wenn ihnen auf menschlicher Seite qualifiziertes Personal gegenüber steht. Zusätzlich wird die Alterung das heimische Arbeitskräftepotenzial in nicht einmal zehn Jahren rapide verknappen. 

Für viele Arbeitnehmer in Deutschland ist das Wort Fachkräftemangel ein Reizthema. Sie können nicht nachvollziehen, wie sich in einem Land mit 2,5 Millionen Arbeitslosen ein Mangel an Fachkräften auftun sollte. Doch für viele Betriebe ist die lange und schwierige Suche nach qualifiziertem Personal Tag für Tag Realität.

Uns fehlen bis Ende des nächsten Jahrzehnts 4,9 Millionen Fachkräfte

Wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg zuletzt ermittelt hat, ist die Zahl der offenen Stellen hierzulande im ersten Quartal auf einen historischen Höchststand von 1,2 Millionen gestiegen. Zum allergrößten Teil handelt es sich um Fachkräfte-Stellen, also Tätigkeiten, die nur mit einer Fachausbildung oder einem Studium in dem Gebiet auszuüben sind.

Dabei dürfte der jetzige Fachkräftelücke nur ein Vorgeschmack dessen sein, was der deutschen Wirtschaft im nächsten Jahrzehnt bevorsteht. Das zeigt eine Studie der Beratungsgesellschaft Korn Ferry. Der Studie zufolge könnten Deutschland bis Ende des nächsten Jahrzehnts 4,9 Millionen Fachkräfte fehlen. Der Mangel von Arbeitnehmer mit der passenden Ausbildung zum Beispiel in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern, aber auch in Dienstleistungsberufen, kommt die deutsche Wirtschaft teuer zu stehen. WELT hatte vorab Einblick in die Untersuchung mit dem Titel „The Talent Crunch“ (zu Deutsch „Die Talentklemme“).

Qualifikation reicht für die digitale Wirtschaft oft nicht aus

„Während sich viele Menschen aufgrund der Digitalisierung Sorgen machen, ob sie künftig noch gebraucht werden, sieht die reale Situation am Arbeitsmarkt anders aus“, sagt Thomas Haussmann, Spezialist für Vergütung und Arbeitsmärkte bei Korn Ferry. Die Weltwirtschaft wachse und damit auch die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Betriebe, die die Nachfrage befriedigen wollen, müssten investieren und Kapazitäten ausbauen, um weiter mitzuhalten. Für Deutschland als exportgetriebene Wirtschaft gilt das besonders. „Fehlende Fach- und Arbeitskräfte sind das schwerwiegendste Hemmnis.“

Der Prognose zufolge fehlen der deutschen Wirtschaft bis 2030 rund 2,5 Millionen Arbeitskräfte mit Universitäts- oder Fachhochschulstudium und 2,4 Millionen Arbeitskräfte mit höherem Schulabschluss wie Abitur oder Fachabitur. Aber auch dann könnten 1,1 Millionen Menschen Schwierigkeiten haben, einen Job zu finden, weil ihre Qualifikationen für die digitalisierte Wirtschaft des 21. Jahrhunderts nicht ausreichen. 

Hochentwickelte Produktion braucht immer mehr Spezialisten

Korn Ferry sieht deshalb einen erheblichen Nachholbedarf in der Bildung: „Das Thema bekommt angesichts dieser Zahlen erneut große Brisanz. Deutschland muss schleunigst die Voraussetzungen schaffen, noch mehr Menschen zu höherer Bildung zu verhelfen“, sagt Haussmann.

Besonders gefragt sind zum Beispiel im Osten Deutschlands derzeit Fachkräfte mit technischer Ausbildung sowie IT-Spezialisten: „Die Digitalisierung hat endgültig Einzug in die deutsche Wirtschaft gehalten und geht in zahlreichen Unternehmen von der Konzeptions- in die Umsetzungsphase über“, sagt StepStone-Arbeitsmarktexpertin Anastasia Hermann. „Die hoch entwickelte industrielle Produktion braucht immer mehr Spezialisten, die technisches Know-how mit den Errungenschaften der Informationstechnologie verbinden können.“

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