Verzichten gern: Protest gegen Google in Berlin

Um die Leistungsfähigkeit und den Wohlstand einer Volkswirtschaft zu beurteilen, addieren Ökonomen den Wert aller Güter und Dienstleistungen, die in dem jeweiligen Land produziert und bereitgestellt werden. Der Wert wird anhand der jeweiligen Preise ermittelt.

Doch was, wenn Dienstleistungen für die Nutzer kostenlos erbracht werden, wie etwa im Fall von Facebook und Google? Dann stimmt die Rechnung eventuell nicht mehr, argumentieren Erik Brynjolfsson und Avinash Gannamaneni vom Massachusetts Institute of Technology sowie Felix Eggers von der Universität Groningen.

Die Forscher beobachten, dass digitale Dienstleistungen, die von Millionen Konsumenten jeden Tag genutzt werden, kostenlos sind: Google, Facebook, YouTube und WhatsApp verlangen für ihre Dienstleistungen keinen Preis vom Nutzer, da sie sich über Werbung refinanzieren.

„Dank digitaler Revolution wird Wohlstand unterschätzt“

„Teilweise ersetzen diese digitalen Dienste sogar Güter, die zuvor Geld gekostet haben“, erklärt Studienautor Felix Eggers im Gespräch mit WELT. Navigationsgeräte kosteten vor zehn Jahren noch mehrere hundert Euro, inzwischen navigieren viele Verkehrsteilnehmer mittels Google Maps. Die kostenpflichtige SMS wurde durch das kostenlose WhatsApp obsolet, YouTube ersetzt vielen Nutzern den CD-Spieler und den Videorekorder zugleich. Die Enzyklopädie-Verlage haben ihre Konkurrenz zur Wikipedia größtenteils aufgegeben.

„All diese Produkte und Dienstleistungen werden kostenlos zur Verfügung gestellt und gehen damit nicht in die klassische volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ein, obwohl sie den Wohlstand erhöhen“, sagt Eggers. Dank der digitalen Revolution wird der Wohlstand unterschätzt – die Menschen leben besser als noch vor zehn Jahren, ohne dass dieser Effekt berechnet würde.

Damit aber wird auch der Beitrag, den die digitale Wirtschaft zum Wohlstand leistet, unterschätzt, sagt Felix Eggers: „Deren Anteil am Bruttoinlandsprodukt etwa in Europa beträgt in der klassischen Rechnung seit mehr als einem Jahrzehnt etwa fünf Prozent. Dieser Wert wird ihrer Rolle im Leben der Menschen nicht gerecht.“

Google für Nutzer am wertvollsten

Um herauszufinden, wie viel die digitalen Dienste von Facebook, YouTube und Co. den Nutzern wert sind, haben Brynjolfsson und Kollegen knapp 3.000 US-Internetnutzer befragt, für wie viel Geld sie bereit wären, darauf zu verzichten. „Bei Facebook liegt dieser Wert durchschnittlich bei etwa 50 Dollar pro Monat“, erklärt Eggers. Damit die Befragten ehrlich antworten, bekamen einige von ihnen, zufällig ausgewählt, nach der Befragung tatsächlich ein entsprechendes Angebot.

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Die Forscher waren erstaunt, als wie wichtig manche Nutzer einzelne Dienste einschätzten: „Manche waren nicht einmal für 1.000 Dollar pro Monat bereit, auf Facebook zu verzichten.“ Je häufiger Nutzer in dem sozialen Netzwerk selber aktiv waren, Beiträge und Bilder online stellten und kommentierten, desto mehr Geld verlangten sie für den Verzicht. Insbesondere weibliche und ältere Facebook-Mitglieder schätzten den Nutzen des sozialen Netzwerks für sich persönlich hoch ein.

Doch nicht Facebook bietet die für die Nutzer wertvollsten Dienste im Netz an, sondern Google, fanden die Forscher heraus. Besonders hoch schätzten die Befragten den Nutzen von Suchmaschinen und digitalen Kartendiensten ein: „Im Median hätten wir pro befragtem Nutzer über 17.500 Dollar zahlen müssen, damit diese ein ganzes Jahr lang auf sämtliche Suchmaschinen im Internet verzichten“, erklärt Eggers. Für viele Nutzer ist der Verzicht auf Suchmaschinen gleichbedeutend mit Internet-Abstinenz – ohne die Dienste sind sie nicht in der Lage, sich im Netz zurecht zu finden. Dementsprechend viel Geld verlangen sie für den Verzicht.

„Wer Facebook zerschlagen will, muss Wohlstandsverlust einberechnen“

In der Rangliste unmittelbar dahinter folgt die E-Mail mit einem Wert von über 8.000 Dollar sowie digitale Karten mit über 3.000 Dollar pro Jahr. Video-und Musikstreaming ist den Nutzern im Schnitt gut 1.100 Dollar pro Jahr wert. Dabei kosten entsprechende Abonnements von Netflix oder Spotify meist nur etwa 120 Dollar pro Jahr – die Dienste könnten ihre Angebote also eventuell deutlich verteuern, ohne dass die Nutzer kündigen. „Doch Vorsicht: Wir haben Geld angeboten, um auf den Dienst zu verzichten. Umgekehrt ist die Zahlungsbereitschaft der Nutzer für einen kostenpflichtigen Dienst meist etwas geringer, da damit ein Einkommensverzicht einhergeht“, kommentiert Eggers seine Ergebnisse.

Wie die Studienergebnisse in die künftige Berechnung von Wohlstand eingehen könnten, daran forschen Brynjolfsson und seine Mitstreiter aktuell. Der Beitrag der Internetkonzerne zum Wohlstand könnte in künftige Statistiken anders einfließen als – wie bisher – über den Preismechanismus. Dadurch müssten auch Berechnungen zur Produktivitätsberechnung oder bei der Wettbewerbskontrolle angepasst werden: Wer etwa, wie jüngst im Rahmen der Datenschutzdebatte geschehen, eine Zerschlagung von Facebook fordert, müsste dabei auch den Wohlstandsverlust für die Nutzer einberechnen. Klassische Maßstäbe verlieren in der Online-Ökonomie an Bedeutung.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Welt.de.

Bild: Getty Images / Sean Gallup / Staff