Es muss nicht immer mehr sein – in ihrem Buch kritisieren Naomi Ryland und Lisa Jaspers das Wachstumsgebot im Startup-Ökosystem.

Dies ist ein Auszug aus dem Buch „Starting a Revolution. Was wir von Unternehmerinnen über die Zukunft der Arbeitswelt lernen können“, das gerade auf Deutsch im Ullstein Verlag erschienen ist. Die Autorinnen Naomi Ryland, Mitgründerin der Jobbörse für soziale Berufe namens tbd* (früher „The Changer“) und Folkdays-Macherin Lisa Jaspers lassen darin verschiedene Unternehmerinnen zu Wort kommen und berichten von ihren eigenen Erfahrungen. Es geht, unter anderem, um alternative Ansätze im Team Building und in der Unternehmensführung. Der nachfolgende Auszug handelt von ihrer ambivalenten Beziehung zum Thema Wachstum.

Vor einigen Monaten hielten wir beide gemeinsam einen Vortrag auf einer der vielen Berliner Startup-Konferenzen. Am Eingang wurden wir gebeten, uns einen farbigen Sticker aufs Shirt zu kleben – vermutlich als Ice-Breaker, um mit den anderen Teilnehmer*innen und Sprecher*innen leichter ins Gespräch zu kommen. Als Firmengründerinnen hatten wir genau drei Kennzeichnungen zur Auswahl: „Pre-Seed“ (Gründungsphase), „Seed“ (erste Finanzierungsrunde) oder „Series A“ (Wachstumsfinanzierung).

Diese Begriffe sollten einer Investor*in signalisieren, wie viel Geld man gerade fürs eigene Unternehmen braucht. Damit wurden wir schon am Eingang der Konferenz auf ein einziges Ziel, nämlich das Finden eines Investors, reduziert. Als ob es nur diesen einen Weg gäbe und als ob unsere Identitäten und Werte als Unternehmerinnen keine Rolle spielten. Das ist übrigens nicht untypisch für solche Konferenzen: Fast immer geht es um Themen wie Finanzierung und Wachstum. Für einen angeblich so „disruptiven“ Sektor sind Startup-Konferenzen (und Startup-Leute) oft erstaunlich uninnovativ. Ein Beispiel dafür ist das vorherrschende Wachstumsmodell mit dem Diktum „Klein anfangen, aber dann ganz schnell der Größte werden“ – und zwar mit Risikokapital.

Wann immer wir Unternehmerkolleg*innen bei Startup-Events treffen, werden in den ersten 30 Sekunden unweigerlich zwei Fragen gestellt: Erstens: Wie groß ist dein Team? Zweitens: In welcher Investmentrunde seid ihr? Falls wir nicht lügen, um uns und unserem Gegenüber eine peinliche Situation zu ersparen, werden unsere Antworten meist mit einem verlegenen Nicken kommentiert. Gefolgt von einem schnellen Abgang. Denn unsere Firmen sind nicht riesig, und wir haben auch keine Millionen an Kapital. Also beobachten wir unsere Gesprächspartner*in dabei, wie sie zur nächsten Teilnehmer*in eilt, die ihnen so viel mehr Startup-Weisheit oder wichtige Kontakte bieten könnte. Denn Startup-Erfolg wird üblicherweise an der Investmentsumme gemessen – je größer die Investition, desto besser bist du. Andere Metriken, die wirklich etwas über den Erfolg eines Unternehmens ausdrücken würden, werden größtenteils ignoriert.

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Diese Haltung setzt Gründer*innen unter enormen Druck, Geld aufzutreiben und schnell zu wachsen – oft schneller, als für die Gründer*in, die Firma und die Mitarbeiter*innen gut und gesund ist. Von der Auswirkung auf unseren Planeten ganz zu schweigen. Die Idee von unendlichem Wirtschaftswachstum ist aber lediglich ein Paradigma. Wir glauben zwar alle, dass es so sein muss, aber tatsächlich ist es ein modernes Phänomen. Ganz offensichtlich brauchen wir einen Paradigmenwechsel. Uns frustriert, dass viele kluge Menschen aus der Startup-Welt größtenteils diesem Ziel des grenzenlosen Wachstums hinterherrennen und Druck auf andere ausüben, dasselbe zu tun, weil es wenig Raum für andere Narrative zulässt.

Alternativen zum „Wachstum um jeden Preis“

Eines unserer Probleme mit dem aktuellen Finanzierungsmodell ist: Es setzt langsameres, stabiles Wachstum mit mangelndem Enthusiasmus oder Ehrgeiz gleich. Natürlich ist das oft eine totale Fehleinschätzung. Wachstum ist nur dann sinnvoll, wenn es dir, deiner Firmenmission und deinem Team nützt. Wachstum als Selbstzweck dagegen ist langweilig, fantasielos und Ego-getrieben. Außerdem zerstört es unseren Planeten und spaltet Gesellschaften.

Falls du dein Unternehmen achtsam erfolgreich machen willst – anstatt falschen Konzepten von Erfolg nachzujagen –, haben wir für dich ein paar unserer Erkenntnisse zum Thema „Wachstum“ zusammengetragen.

Wachstum durch Finanzierung

Natürlich ist Geld per se nicht böse. Es kann eine extrem positive Kraft entwickeln – vor allem, wenn es gezielt und im Einklang mit ethischen Werten eingesetzt wird. Unser Verhältnis zu Geld sagt eine Menge über unser Selbstwertgefühl aus. So weist Vivienne (KI-Expertin und Gründerin Vivienne L’Ecuyer Ming, Anm. d. Red.) darauf hin, dass Unternehmerinnen in Finanzierungsrunden immer noch nach weniger Geld fragen als ihre männlichen Counterparts. Wissenschaftler*innen haben allerdings herausgefunden, dass Unternehmerinnen nach mehr Geld fragen, wenn sie von anderen Unternehmerinnen umgeben sind, die ebenfalls mehr Geld bekommen haben. Ein weiterer Beleg dafür, dass fehlende Gendergerechtigkeit NICHT durch individuelle Maßnahmen gelöst werden kann – wie etwa absurde Trainings, die zur Stärkung des Selbstbewusstseins von Frauen angeboten werden. Echten Wandel kann es nur geben, wenn sich das System verändert.

Wir müssen uns eingestehen, dass unser aktuelles Startup-Finanzierungssystem von Männern für Männer geschaffen wurde und dass es Frauen nicht auf dieselbe Weise repräsentiert und fördert. Es wird zwar viel getan, um den Status quo hin zu mehr Gleichberechtigung zu verändern, aber wollen wir wirklich Teil dieses Systems werden? Wir sollten uns davon verabschieden, Frauen in ein kaputtes System zu integrieren, und stattdessen diejenigen Frauen (und Männer) unterstützen, die Alternativen zu diesem System schaffen.

Wie viele Gründer*innen sah Anna (Wildling-Gründerin Anna Yona, Anm. d. Red) anfangs in der Investor*innensuche den besten und einzigen Weg, ihre Firma zu vergrößern. Heute liefert Wildling Shoes den Beweis dafür, dass es einen anderen Weg gibt. Business Angels und Risikokapitalgeber verschaffen dir vielleicht die meisten Punkte im Startup-Bingo, sind aber nicht für alle jungen Unternehmen die richtige Wahl. Zumal wenn dieses Unternehmen in der Absicht gegründet wurde, „alles anders zu machen“ und sich nicht den Regeln und Anforderungen anderer Leute unterwerfen zu wollen.

Anna und ihr Ehemann Ran gründeten ihre Firma 2015 mit einem Förderkredit über 150.000 Euro von der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), einer Förderbank in Staatsbesitz. Die KfW haftet für bis zu 80 Prozent der Darlehen, die Unternehmensgründer*innen von traditionellen Banken erhalten, was das Risiko für beide Parteien verringert. Programme wie dieses führen dazu, dass Banken an junge Unternehmen einfacher Kredite vergeben. In Annas Fall dauerte es zwar einige Monate, bis der Kredit genehmigt wurde, aber die Bewilligung basierte einzig und allein auf dem Geschäftsplan für Wildling – sie hatten in diesem Stadium noch nicht mal einen Prototyp. Mit dem Kredit konnten sie sowohl eine Crowdfunding-Kampagne machen, die ihre erste Produktionsserie finanzierte, als auch alle Betriebskosten von Marketing bis zur Logistik für einen gewissen Zeitraum decken. Der Erfolg ihrer ersten Crowdfunding-Kampagne, bei der sie 75.000 Euro einsammelten, stärkte ihr Vertrauen in ihr Produkt. Sie bauten ein kleines Team auf und legten los.

Bleib deinen Werten treu

Ein Darlehen, Crowdfunding oder – wenn man viel Glück hat – finanzielle Unterstützung durch Familie und Freunde können ein Startup oft bis zum „Proof of Concept“ (Machbarkeitsnachweis) bringen. Sobald deine Idee auf dem Markt getestet wurde, ist für viele der nächste Schritt, um richtig loslegen zu können, sich auf Investorensuche zu begeben.

2016 wurde Anna von einem großen Unternehmen angesprochen, das daran interessiert war, einen beträchtlichen Geldbetrag in Wildling zu investieren: „Zu diesem Zeitpunkt freuten wir uns sehr über die Möglichkeit, einen so starken Partner für uns gewinnen zu können. Denn diese Firma macht vieles gut, die Leute dort hätten das Know-how und die finanziellen Mittel gehabt, uns beim Wachsen zu helfen. Sie hätten viel für Wildling bewirken können.“

Aber schon bald wurde klar, dass das Unternehmen hauptsächlich gewinnorientiert vorgehen wollte, während Anna andere Dinge wichtiger waren. „In einer der ersten Diskussionen ging es darum, die Produktion nach Asien zu verlagern. Das war auch einer der Gründe, warum wir letztlich doch nicht zusammenarbeiten konnten. Vom Produktionsstandpunkt aus klingt das sinnvoll: In Asien kann man dasselbe Produkt zum halben Preis herstellen lassen. Und im Gegensatz zur gängigen Meinung kann man auch in Asien fair produzieren. Die Firma betrieb dort eine eigene Fabrik mit dem Fairwear-Zertifikat. Für mich war allerdings ausschlaggebend, dass ich dort nicht regelmäßig persönlich vorbeischauen konnte, weil es einfach zu weit weg war. Wenn ich unsere Fabrik in Portugal besuchen will, setze ich mich in einen Flieger und bin in ein paar Stunden da. Das ist mir wichtig, denn wenn man größere Mengen zu fertigen beginnt, holen sich die Produzenten Subunternehmer an Bord. Und dann kann es passieren, dass ganz plötzlich jemand anders – der nicht deinen Arbeits- oder Qualitätsstandards folgt – deine Produkte herstellt.“

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Letztlich lehnte Anna also das Angebot des interessierten Unternehmens ab. Natürlich zweifelte sie anfangs, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Doch bis heute hat sie den damit eingeschlagenen Weg nie bereut. „Ich bin froh darüber, dass wir das Angebot abgelehnt und alles selbst gemacht haben. Wir haben eine sehr flexible Lieferkette aufgebaut. Wir transportieren nicht riesige Container voller Produkte zu uns, die dann in irgendeinem Lager vermodern. Es gibt keinen Überschuss, den wir verbrennen oder verschenken müssen. Wir haben die Freiheit, unsere Entscheidungen selbst zu treffen. Zum Beispiel ist es ein hoher Kostenfaktor für uns, alle sechs Wochen das gesamte Team zu einem Meeting am selben Ort einzuberufen. Uns ist das egal, weil wir diese Treffen für extrem wichtig für unsere Firmenkultur und unsere Arbeitsatmosphäre halten. Aber eine Investor*in würde das sicher anders sehen.“

Und wie finanzierten Anna und Ran ihr nächstes Wachstumsstadium? Sie fanden eine ziemlich kreative Lösung: Diesmal bewarben sie sich bei einem EU-Fonds für kleine und mittlere Unternehmen um ein weiteres Darlehen – aber diesmal hätten sie für den gesamten Kredit selbst haften müssen. Obwohl die Firma erfolgreich war, wollten sie dieses Risiko nicht eingehen, schließlich hing das ganze Familieneinkommen von Wildling ab. Stattdessen entwickelten die beiden gemeinsam mit einem alten Freund von Anna, der seine eigene Holding AG leitete und ihnen in den Anfangsjahren oft mit Rat und Tat zur Seite gestanden hatte, einen Finanzierungsplan. Er erklärte sich bereit, die Haftung für den Kredit zu übernehmen, wenn er dafür zehn Prozent der Firmenanteile bekam. Anna hat diese Verbindung inzwischen stärker formalisiert, indem ihr Freund mittlerweile geschätztes Mitglied des Vorstands ist. Und weiterhin ein wichtiger Diskussionspartner für Anna.

Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, sich selbst treu zu bleiben, egal, in welchem Stadium der Geschäftsentwicklung man sich befindet – sei es der „Proof of Concept“ oder die dritte Finanzierungsrunde. Besonders in stressigen Zeiten, in denen du unter hohem Druck stehst, kann ein verlässlicher und auch expliziter moralischer Kompass Orientierung bieten.

Machtspielchen bei der Investorensuche 

Ich wünschte, wir wären bei der Suche nach Investor*innen unserer Intuition gefolgt. Der gesamte Prozess fühlte sich falsch an – als müssten wir ein Spiel gewinnen, an dessen Regeln wir nicht glaubten. Als das Geld schließlich auf unserem Konto war, fühlte sich das überhaupt nicht wie ein Sieg an, denn der ganze Ablauf – der mehr als neun Monate gedauert hatte – hatte mich total erschöpft und demoralisiert. Am schlimmsten waren die Machtspielchen. Nach Meetings mit potenziellen Investor*innen warteten wir oft eine gefühlte Ewigkeit – manchmal Monate – auf Rückmeldung. Am Ende konnten wir uns nur noch mit Müh und Not ein Gehalt auszahlen. Und wir hatten kaum noch die Energie, um loslegen zu können, als dann endlich das Geld da war.

Wir sind sehr dankbar dafür, dass wir Investor*innen gefunden haben, die uns unterstützen und unsere Werte teilen. Wenn ich daran denke, wie andere Gründer*innen teilweise von ihren Investor*innen behandelt werden, sind wir definitiv die Ausnahme. Doch auch wir stecken nun in einer neuen Machtdynamik, denn fremde Menschen halten jetzt Anteile an unserer eigenen Firma.

Wäre ich doch nur vor Beginn dieses Prozesses einen Schritt zurückgetreten und hätte mit weniger Druck und Eile über die Frage nachgedacht, welche alternativen Finanzierungsmöglichkeiten uns zur Verfügung stehen, anstatt einfach das zu tun, was unserer Meinung nach von uns erwartet wurde. 

Ich erzähle diese Geschichte nicht, weil ich Mitleid will, sondern weil ich während des gesamten Prozesses der Investor*innensuche felsenfest davon überzeugt war, dass wir die einzige Firma mit solchen Problemen seien. Alle Startup-Events, an denen ich teilnahm, alle Artikel, die ich las, alle Gespräche, die ich mit anderen Gründer*innen führte, hatten mir vermittelt, dass eine Investor*in zu finden das ultimative Ziel ist – und obendrein noch ein Kinderspiel. Die Startup-Szene ist voller Berichte über die neuesten Investitionen – da geht es teilweise um ein paar Hundert Millionen Investments! Ich hatte schlichtweg keine Ahnung, dass es so schwierig werden könnte, eine Investition von 300 000 Euro an Land zu ziehen.

Außerdem hatte ich niemals damit gerechnet, dass sich die Suche nach Investor*innen derart negativ auf unsere psychische Gesundheit auswirken würde. Und ich hatte auch nicht erwogen, dass es für unsere Firma bessere Optionen gegeben hätte – obwohl wir letztendlich erfolgreich waren.

Niemand redet über die Schwierigkeiten und den Frust. Im Nachhinein habe ich von vielen gehört, die Ähnliches durchgemacht haben. Fast so, als müsste man den Prozess auf eigene Faust durchstehen, um in den Klub zu kommen. Denn natürlich wollen alle ein Image transportieren, das Sicherheit und Stabilität ausstrahlt. Unter anderem deshalb, weil man mithilfe dieses Images am wahrscheinlichsten Investments an Land zieht. Besonders im Pitch-Prozess gelten Zweifel oder Emotionen als unpassend, als Kontrollverlust. Aber warum? Wir haben eine Investitionskultur geschaffen, die Menschen dazu zwingt, sich hinter einer eiskalten, ehrgeizigen und rein verstandgesteuerten Maske zu verbergen. Und das, obwohl Gründer*innen, die mit ihren Emotionen in Verbindung stehen und authentisch sind, Empathie demonstrieren und ihren Werten treu bleiben, die besseren Führungskräfte sind.

Bild: Peter Jeschke