Social Audio wird immer beliebter.
In der US-Tech-Szene steht eine Welle von Audio-Startups in den Startlöchern.

Tiktok, Instagram, Snapchat: Bei allen zuletzt groß gewordenen Social Apps standen Fotos und/oder Videos, also visueller Content, im Mittelpunkt des Nutzererlebnisses. In den vergangenen Monaten hat nun die App Clubhouse, in deren Zentrum audiobasierte Gruppen-Chats stehen, in der US-Tech-Szene enorme Aufmerksamkeit generiert. Medienberichten zufolge haben die Betreiber 10 Millionen US-Dollar Funding von der renommierten US-VC-Firma- Andreessen Horowitz eingesammelt – auf Basis einer Bewertung von 100 Millionen US-Dollar. Clubhouse ist damit die meist beachtete einer ganzen Reihe neuer „Social Audio Apps“. OMR beleuchtet das Phänomen, zeigt Vertreter und erklärt die Hintergründe des Trends.

„Wenn Snap die Kamera-Firma ist (Snap hatte sich vor dem Börsengang als Kamerafirma bezeichnet, Anm. d.Red.), ist Cappuccino die Mikrofon-Firma“, sagt Gilles Poupardin in einem Interview mit Marie Dollé in ihrem Newsletter „In Bed With Social“. Poupardin ist Gründer von Cappuccino, einer App, in der sich die Nutzer mit Freunden und Bekannten vernetzen und austauschen können – allerdings nicht in Text- oder Videoform, sondern auf Audio-Basis. Die Nutzer können mit Cappuccino kurze Audioschnipsel (die Betreiber sprechen hier analog zum Namen der App von „Beans“, also Bohnen) aufnehmen, in denen sie beispielsweise von ihrem Tag berichten. Aus all diesen „Bohnen“ wird dann der tägliche „Cappuccino“ der Nutzer gebraut – eine Art personalisierter Podcast, der für jeden Nutzer individuell erstellt wird. „A daily personal audio show featuring your friends“, wie die Betreiber der Firma selbst schreiben.

Product Hunt pusht Cappuccino zum Launch

Er habe den Boom der Podcasts mitverfolgt und ein weniger Hochglanz-artiges, intimeres Format entwickeln wollen, so Gilles Poupardin gegenüber Marie Dollé. Poupardin und sein Cappuccino-Mitgründer Olivier Desmoulin stammen aus Frankreich. Mit ihrem vorherigen Startup Whyd (gestartet als „Musik-Streaming-Social-Network; später erfolgte ein Strategieschwenk in Richtung „Connected Speaker“) waren sie Teil der 2016er Klasse des renommierten US-Startup-Accelerators Y Combinator.

Ihr neues Projekt Cappuccino hat erst vor zwei Tagen in der Tech-Szene erstmals größere Aufmerksamkeit erhalten. Branchen-Influencer Chris Messina („Erfinder des Hashtags“ mit 105.000 Followern auf Twitter) stellte die App in der Software- und Gadget-Community Product Hunt vor. Product-Hunt-Gründer Ryan Hoover (fast 150.000 Twitter-Follower) äußerte sich positiv auf Twitter über die App und Cappuccino wurde von der Community zum drittbeliebtesten Produkt des Tages auf Product Hunt gewählt.

Mehr als 40 Firmen setzen auf den „Social Audio“-Trend

Nach dem Wochenende stellten die Product-Hunt-Macher Cappuccino nochmals in ihrem reichweitenstarken Newsletter vor. „In diesem Jahr haben wir eine Zunahme an Launches von Audio-Produkten auf Product Hunt gesehen“, so das Team der Plattform in der Mail und führt einige Beispiele auf. Persönliche Treffen würden aktuell von Social Distancing erschwert, aber soziale Kontakte seien wichtiger als je zuvor. Gründer würden nun kreative Wege finden, Audio zu nutzen, um mit Freunden und Bekannten in Kontakt zu bleiben.

Auch Marie Dollé, die hauptberuflich für die öffentliche französische Investment-Bank Bpifrance tätig ist, hat den Trend zu Social Audio beobachtet und in ihrem Newsletter „In Bed With Social“ eine Karte der Social-Audio-Landschaft veröffentlicht. Aktuell finden sich 41 Firmen in Dollés Karte.

Social Audio in der Übersicht.
Social Audio in der Übersicht.

Clubhouse digitalisiert Party-Gespräche

Die aufmerksamkeitsstärkste audiobasierte neue Social App der vergangenen Monate dürfte sicherlich Clubhouse sein. Wie die App genau funktioniert, können nur eingeladene Nutzer herausfinden – Clubhouse befindet sich noch in einem geschlossenen Beta-Test. Medienberichte und Social-Media-Posts lassen darauf schließen, dass die Nutzer in der App virtuelle Räume eröffnen und sich gegenseitig in diese einladen können, um darin auf Audio-Basis miteinander zu diskutieren. Durch das Nutzungsszenario sollen sich wohl spontane, unerwartete und inspirierende Konversationen ergeben, ähnlich wie auf einer Party im „Offline-Leben“.

Einer der Gründe für den Erfolg der App dürfte ihr aktuell noch sehr exklusiver Charakter sein. Die beiden Clubhouse-Gründer Paul Davison und Rohan Seth können Stationen bei Google, Pinterest und der VC-Firma Benchmark vorweisen, sind in der US-VC- und -Tech-Szene dementsprechend gut vernetzt und haben offenbar ausgewählte Mitglieder ihres Netzwerks früh in die App eingeladen. Im April gelang es den Machern so, über Mundpropaganda der wenigen, ersten und gut vernetzten Clubhouse-Nutzer auf Twitter erste Aufmerksamkeit zu generieren. Schon im April ist Clubhouse so zum ersten Mal Thema bei Techcrunch.

Von Oprah Winfrey über Mark Cuban bis Virgil Abloh

Der auf diese Weise generierte „Fear of Missing Out“-Effekt führt wohl zu einem Sog: In den folgenden Wochen sollen Medienberichten und Social-Media-Posts zufolge auch Promis wie Oprah Winfrey, Schauspieler Kevin Hart, Shopify-Gründer Tobi Lütke, Investor und Dallas-Mavericks-Besitzer Mark Cuban, Entertainment-Magnat und Quibi-Gründer Jeffrey Katzenberg, Schauspieler und Investor Ashton Kutcher, 90er-Jahre-Rap-Legende MC Hammer, Schauspieler und Comedian Chris Rock sowie zuletzt Luxus-Streetwear-Papst Virgil Abloh auf Clubhouse aktiv gewesen sein.

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Mitte Mai vermeldet Forbes, dass Andreessen Horowitz auf Basis einer Bewertung von 100 Millionen US-Dollar zehn Millionen US-Dollar in Clubhouse investiert habe und weitere zwei Millionen US-Dollar gezahlt habe, um Anteile von den beiden Gründern abzukaufen. Die renommierte US-VC-Firma habe einen Bieterwettstreit mit dem ebenfalls renommierten Konkurrenten Benchmark gewonnen. Nur zur Erinnerung: Die App ist zu diesem Zeitpunkt nicht öffentlich herunterzuladen und soll erst wenige Tausend Nutzer verzeichnen. Es folgen Clubhouse-Berichte unter anderem in der New York Times und dem Wall Street Journal.

Wann öffnet sich Clubhouse für alle Nutzer?

Seitdem musste Clubhouse bereits eine erste Kontroverse bewältigen: Mitglieder aus der VC-Szene hatten innerhalb der App die journalistische Berichterstattung über Startups und die Macht der Journalisten kritisiert; einer der Diskussionsteilnehmer, der nicht in Verbindung mit Clubhouse steht, führte danach sogar eine Schikanierungskampagne gegen Taylor Lorenz durch – jene Journalistin der New York Times, die in der Zeitung das erste Mal über Clubhouse geschrieben hatte.

Clubhouse-Gründer Paul Davison hielt sich aus dem Konflikt heraus, schrieb jedoch später am Rande eines Blog-Posts, dass das Unternehmen an ausführlicheren Community-Richtlinien arbeite. Darin erklärte Davison auch, dass Clubhouse sich in der ganz nahen Zukunft noch nicht für die Allgemeinheit öffnen wolle. Zum einen sei es gesünder, Communitys langsam zu vergrößern, zum anderen sei das bislang kleine Clubhouse-Team und die technische Infrastruktur aktuell dafür noch nicht gerüstet. Trotzdem wird Clubhouse irgendwann eine Antwort darauf finden müssen, wie die Betreiber die namhaften Nutzer und den exklusiven Charakter der App beibehalten und gleichzeitig das Produkt skalieren wollen.

Die nächsten Social-Audio-Glücksritter stehen bereit

Spätestens durch die hoch dotierte Funding-Runde von Clubhouse dürfte der Rest der US-Tech und -VC-Szene auf das Thema Social Audio aufmerksam geworden sein. Die nächsten Vertreter stehen schon in den Startlöchern: Gerade gestartet ist TLDL („Too Long, Didn’t Listen“), eine App, die einen „Social Graph“ über alle verfügbaren Podcasts legen will. In der App können Nutzer ihre liebsten Stellen aus Podcasts markieren, mit anderen teilen und somit auch durch einen Feed der Podcast-Highlights ihres Netzwerks scrollen. Eine Warteliste eröffnet haben die Betreiber der App Muze (in das Startup hat Snap investiert), die Online-Videos um Audio-Kommentare erweitern wollen. Und Roadtrip (Tagline: „Listen, talk, chat and build playlists with friends, live“) ist in eine geschlossene Beta-Phase gestartet. In der App können Nutzer Räume eröffnen, in denen sie gemeinsam mit anderen Spotify-Playlisten erstellen und sich über Musik austauschen.

Was sind die Gründe für den aktuellen Social-Audio-Boom? Die Vermutung liegt nahe, dass innerhalb der vergangenen Jahre mehrere Entwicklungen zusammengekommen sind, die neue digitale Nutzungsformen begünstigen könnten. Kopf- und Ohrhörer sind allgegenwärtig geworden; Bluetooth-basierte Varianten wie Apples Airpods haben die Sprachaufnahmefunktion schon mit eingebaut. Das Startup TTYL – für „Talk To You Later“ – wollte eine Walkie-Talkie-artige Plattform auf Basis von Airpods aufbauen; mittlerweile haben die Macher Konzept und Namen offenbar geändert. 

Discord sammelt 100 Millionen US-Dollar ein

Hinzu kommt der Podcast-Boom: Podcasts haben eine Renaissance erfahren. Audio-basierter Content hat eine enorme Reichweite aufgebaut. Die Nutzer haben sich daran gewöhnt. Und nicht zuletzt ist auch die digitalbasierte Sprachkommunikation zur Normalität geworden, getrieben unter anderem von Sprachnachrichten und Telefonaten über Messenger wie WhatsApp.

Der letzte Punkt dürfte zum Teil auch vom Aufstieg des Gamings mit getrieben sein. Apps wie Teamspeak und Discord, über die die Nutzer unter anderem auch während des Spielens per Sprache miteinander kommunizieren, haben eine extrem große Nutzerschaft. Die Macher von Discord haben im Juni laut Forbes gerade noch einmal 100 Millionen US-Dollar eingesammelt, auf Basis eine Bewertung von 3,5 Milliarden US-Dollar. Zuletzt kündigte das Unternehmen in einem Blog-Post an, Zielgruppen außerhalb von Gaming noch stärker erschließen zu wollen und positioniert sich seitdem als „your place to talk“.

Facebook und Twitter experimentieren

Ob Social Audio eher ein leicht kopierbares Feature, dass die großen etablierten Social-Plattformen irgendwann (ähnlich wie Instagram es mit Storys und Tiktok-Videos getan hat) selbst integrieren, wird sich noch zeigen müssen. Erste Social-Audio-Experimente führen die großen Plattformen jedenfalls bereits durch: Facebook hat im Mai testweise die audiobasierte Gruppen-Chat-App Catchup in den US-App-Store gebracht. Und Twitter hat im Juni angekündigt, für die Nutzer der iOS-App nach und nach die Möglichkeit für Audio-Tweets ausrollen zu wollen.

OMRDieser Artikel erschien zuerst auf OMR.com.

Bilder: Getty Images / Emilija ManevskaMarie Dollé