Viele Platten hat Judee Will nicht verkauft. Trotzdem gibt es von ihr alles auf Spotify. 

Es war mein erster Besuch in den USA. Irgendwann in den mittleren 80er Jahren. Es gab da einen Schallplattenladen in New York. Freunde hatten mir davon erzählt. Da wollte ich hin. Beim Anflug auf JFK schneite es. Ein ausgewachsener Blizzard schüttelte das Flugzeug ordentlich durch und legte einen weißen Mantel aus Schnee über die Stadt. Dort, wo sonst das Herz der westlichen Welt schlägt, war es unwirklich ruhig. Noch vor Sonnenaufgang trieb mich der Jetlag auf die ausgestorbenen Straßen und ich begann meine Wanderung in Richtung Süden. Durch den unberührten Schnee in Richtung Greenwich Village. Dort sollte der Laden sein. Die Adresse hatte ich aus dem Telefonbuch.

Auf einer langen Liste hatte ich Platten notiert, die man in Europa nicht bekommen konnte. Das Love Album von John Hartford, Harpers Bizarre, Van Dyke Parks, The Meters, Judee Sill und vieles mehr. Mal schauen, was New York so kann. Nach einem stundenlangen Spaziergang durch die langsam erwachende Stadt, meinem ersten dünnen, amerikanischen Kaffee und einem seltsamen Ding, das sich Donut nannte, betrat ich schließlich als erster Kunde des Tages das House Of Oldies.

So können nur alte Schallplatten riechen

Dieser Geruch. Den kann man nicht vergessen. Eine Mischung aus Staub, Dunst – und alten Schallplatten. Der Laden war vollgestopft damit. Dazu gab es einen Keller mit noch mehr Vinyl, der für Kunden aber gesperrt war. Ich reichte dem brummigen Mann hinter dem Tresen meine Liste. „Habt ihr irgendetwas davon?“ Er las. Nickte. Las weiter. „Wir haben alles.“ Ich verließ den Laden eine Stunde später. Für den Rest der Woche in New York hatte ich nur noch 150 Dollar in der Tasche. Aber dafür war ich unter anderem im Besitz einer sehr seltenen Solo-Single von Brian Wilson: „Caroline, No“ aus dem März des Jahres 1966.

Wenn heute die Rede von einer seltenen Platte aus den 60er Jahren die Rede ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass ich sie mit einem Klick hören kann. Auf Tidal. Das ist ein Streamingdienst, der Musik im verlustfreien FLAC-Format (16bit / 44.1 KHz) zur Verfügung stellt.

Algorithmen helfen mir, neue Musik zu entdecken, die für mich relevant ist. Streaming-Playlisten von Freunden führen mich in abseitige Themen wie den Bubblegum-Pop der frühen 70er Jahre ein. David Cassidy und die Partridge Family? Schnell mal hören, ob das vielleicht doch etwas taugt. Dann noch kurz die neue EP von den Elektronikern Aphex Twin und danach ein längst vergessenes Album von Jorge Ben. Alles da. Alles kein Problem mehr. Ohne Blizzard und Jetlag.

Unbekannte Acts haben die Chance, berühmt zu werden

Für den ganz normalen Konsumenten ist Musik durch das Streaming zu einer jederzeit verfügbaren, unendlichen Unterhaltungsware geworden. Ohne sich Gedanken zu machen, wird man beim Sport, bei der Arbeit oder auf dem Sofa situationsgerecht von kuratierten Playlisten beschallt. Algorithmen und eine Redaktion sorgen für Musik, die man mag, aber vielleicht noch gar nicht kennt. Dadurch haben auch weniger bekannte Acts die Chance, ein großes Publikum zu erreichen.

Spotify machte Streaming groß. Vor zehn Jahren, am 7. Oktober 2008, fing der Dienst in mehreren europäischen Ländern damit an, Musik per Stream zu verbreiten. Erfunden haben es die Schweden nicht. Die Plattenfirmen hatten ihren Segen gegeben. Das mobile Internet im iPhone machte es technisch möglich. Noch vor fünf Jahren war es ein Nischenthema. Heute hat Streaming die CD als größtes Medium für Musik überholt.

Spotify hat die Grundlage für das Streaming geschaffen

Es wird oft geschrieben, dass Streamingdienste das Geschäft mit der Musik zerstört haben. Es ist, wie so oft, eine Spur komplexer. Denn nach der verschlafenen Digitalisierung haben die Plattenfirmen und Musikverlage auch beim Thema Streaming einiges falsch gemacht. Am Anfang waren sie skeptisch, bis heute ist es ihnen nicht gelungen, das Streaming für ihre Musiker und Bands zu einem erfolgreichen Erlösmodelle zu machen. Sie sind es schließlich, die als Rechteinhaber Verträge mit Streamingdiensten abschließen und gutes Geld damit verdienen.

Die Umsätze sind jedenfalls nicht so schlecht. Jeder zweite Internetnutzer in Deutschland streamt laut einer Studie des IT-Verbandes Bitkom inzwischen Musik. Laut dem Bundesverband Musikindustrie schafften Spotify, Apple Music, Tidal und die anderen Dienste im ersten Halbjahr 2018 einen Zuwachs von 35,2 Prozent auf 348 Millionen Euro Umsatz. Streaming kam damit auf einen Marktanteil von 47,8 Prozent. Das Geschäft mit CDs brach dagegen um 24,5 Prozent auf 250 Millionen Euro ein.

Auf dem Weg nach Greenwich Village

Spotify hat für das alles die Grundlage geschaffen. Der Marktführer aus Schweden hat dafür gesorgt, dass gesamte Musikmarkt nach langer Durststrecke wieder wächst. Viele Nutzer sind heute bereit, für ein Musik-Abo zu bezahlen. Spotify hat inzwischen 83 Millionen zahlende Abo-Kunden und ist damit die klare Nummer eins im Streaming-Geschäft. 

Wie sieht in unseren Streaming-Zeiten das perfekte Pop-Produkt aus der Sicht von Musikern aus? Früher waren es Album, EP und Single. Dann kam die Maxi-Single dazu. Und heute? Muss ich als Band Musik produzieren, die Teil einer Playlist sein könnte? Wie schätzt der Algorithmus meine Musik ein, in welche Kategorie werde ich abgespeichert, wo spielt er mich aus, wer könnte mich mögen? Das sind Fragen, die sich früher die Plattenfirmen gestellt haben. Der Algorithmus war der Geschmack der breiten Masse, den sie mit ihren Produktionen mal besser mal schlechter trafen. Viele große Pop-Meisterwerke waren übrigens ein marketingtechnisches Missverständnis und fast unverkäuflich.

Genau diese in analogen Zeiten schwer erhältlichen Meisterwerke kann man jetzt mit einem Klick per Internet hören. Mein Tipp: Fliegt nach New York, setzt euch Kopfhörer auf und spaziert zur Musik von Judee Sill von Midtown Manhattan bis nach Greenwich Village. Den Laden Golden Oldies gibt es immer noch. Wenn euch die Musik gefällt: Dort findet sich eine der längst vergriffenen Original-Langspielplatten von ihr. Ganz sicher.

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