Auszug aus „The next Big Thing“ von Sam Gregson: 2014 kommt Sam Gregson, der eigentlich anders heißt, nach Berlin. Durch Zufall findet er Arbeit in der Startup-Szene, unter anderem beim Unternehmen Rivalchemy von Timo und Felix. Auch Firma und Gründer heißen in Wahrheit anders. Denn Gregson beschreibt seine Zeit in diesem und anderen Berliner Startups als „Albtraum“. In seinem neuen Buch schildert der heute 30-jährige Brite nicht nur weit verbreiteten Rassismus, Sexismus und Homophobie – sondern auch eine Arbeitsweise, die alles andere als fortschrittlich ist:

Unternehmen geben ihren Mitarbeitern normalerweise Aufgaben und Ziele vor – Dinge, die sie erledigen müssen, wenn sie ihren Job behalten wollen. Startups nicht. Die geben ihren Mitarbeitern einen Aufgabenbereich, ein allgemeines Betätigungsfeld, auf dem die Mitarbeiter dann ihre eigenen Ziele abstecken und erreichen sollen. Es ist also Flexibilität gefragt: Aufgaben, Verfahren, Ideen, alles muss sich verändern können, und zwar schnell.

Das ist jedenfalls die Idee dabei.

Mein normaler Tagesablauf bei Rivalchemy hieß, ich saß an meinem Schreibtisch und arbeitete mit meinem Team, und ansonsten waren wir mehr oder weniger auf uns allein gestellt. Es gab keine Ziele, keine Aufgaben, keine Projekte – nichts Konkretes, was die Firmenleitung von uns hätte haben wollen. Stattdessen bekamen wir alle gesagt, was grundsätzlich von uns erwartet wurde, schlicht und einfach die Vermarktung des Unternehmens mit messbaren, positiven Ergebnissen. Dieses Ausmaß an Freiheit hört sich vielleicht großartig an, stellte aber in Wirklichkeit eine sehr große Herausforderung dar, besonders wenn, wie bei uns und bei den meisten Startups, folgende Bedingungen zutreffen: a) Die Abteilung hat kein eigenes Budget zur Durchführung großer Projekte. Und b) das Unternehmen wird trotz angeblicher Offenheit sehr wohl hierarchisch geführt, was wiederum bedeutet: Am Ende jonglierst du deine bescheidenen kleinen Ideen und Projekte durch das Management, das deine Arbeit in jeder Phase genehmigen muss – und das eben immer wieder nicht tut.

Angesichts der herrschenden Erwartungen mussten wir jedoch messbare Daten vorweisen, die im Idealfall die Fortschritte der Firma in Sachen Marketing belegten. Also meldeten wir einfach Woche für Woche die Zahlen, die wir hatten: die Zahl der Follower, die Tweets, die Erfolge einbrachten. Was auch immer unsere Jobs waren – Jobs, die wir wohlgemerkt selbst definiert und je nach den Ansprüchen von Timo und Felix wieder umdefiniert hatten –, irgendwie fanden wir messbare Daten, die wir vermelden konnten.

Lest auch

Meine Mitbewohner nannten mich bereits spöttisch „Computerdisplay-Manager“, denn im Grunde tat ich ja den ganzen Tag kaum etwas anderes, als auf den Bildschirm zu starren. So witzig das war, es tat auch ein bisschen weh – vermutlich, weil es den Nagel auf den Kopf traf.

Abteilungen aufblähen statt Probleme zu beheben

Und dann wuchs das Unternehmen auch noch. Es kamen immer neue Leute dazu, deren Aufgaben unklar waren. Wachstum signalisiert den Investoren eine positive Entwicklung, und es zeigt, dass es der Firma gut geht, aber es schafft keine solide Arbeitsumgebung, in der jeder weiß, was Sache ist.

Einmal kam ich ins Büro und musste feststellen, dass, sozusagen über Nacht, gleich eine ganze Truppe neuer Leute dazugekommen war. Es waren Praktikanten, und sie belegten die Hälfte des Großraumbüros im oberen Stockwerk. Als ich fragte, was sie denn machten, sagten sie mir, das ganze Team sei mit der Bearbeitung von Beschwerden betraut. Anstatt das Produkt und den Kundenservice in Ordnung zu bringen, blähte die Firma einfach ihre Beschwerdeabteilung mit billigen Arbeitskräften auf.

Klingt das nach Innovation oder Effizienz?

Natürlich nicht.

Lest auch

Wie man sieht, werden in Startups aufkommende Probleme alles andere als innovativ angegangen. Vielmehr wird die Inkompetenz in einem Bereich des Unternehmens dadurch behoben, dass man die Komplexität in einem anderen Bereich noch erhöht. Der Vertrieb macht Versprechungen über das Produkt, von denen er weiß, dass sie gelogen sind? Kein Problem, man verschlimmert einfach diese Inkompetenz durch Einstellung von Praktikanten, die natürlich nie eine Einführung darüber bekommen haben, wie mit Beschwerden umzugehen ist!

Ideale Firma in Strategiemeetings zelebriert

Wir behaupteten, unsere Technologie sei innovativ und unsere Firma effizient, doch in Wahrheit war alles, was jeder Einzelne in der Firma tat, aufwendig und schwerfällig. Das ideale Unternehmen hingegen, die Traumversion, die wir gerne in unserer Firma sehen wollten, wurde in den Strategiemeetings zelebriert. Und wenn ich sage „die wir gerne sehen wollten“, dann war das bei mir in meinen ersten paar Monaten wirklich der Fall – trotz der ineffizienten Arbeitsmethoden, trotz des Mangels an Kommunikation, trotz der fehlenden Flexibilität und der sehr eingeschränkten Möglichkeiten, irgendwo Innovationen zu verwirklichen. Ich redete mir immer noch ein, meine Zeit, in der ich meine Ideen würde verwirklichen können, würde schon noch kommen.

Die Strategiemeetings, die in jedem Projekt nahezu täglich stattfanden, verliefen ungefähr wie folgt:

  • Jemand organisierte ein Meeting und einen geeigneten Raum via Google, alle nahmen teil.
  • Wir redeten dreißig Minuten lang über die großartigen möglichen Ergebnisse, die wir erreichen könnten.
  • Wir stellten eine Liste mit den nächsten Schritten und „To-dos“ auf.
  • Nichts wurde fertig, weil jede Idee zuerst von Timo und Felix begrüßt und gefördert, am Ende aber wieder abgeschossen wurde.

Eine Verliererkultur also, nichts wurde zu Ende gebracht, einmal abgesehen von nutzlosen Tätigkeiten, frei von jedem Sinn und präsentiert mit dem Nebelhorn für ein Team, das ebenso ungläubig wie gelangweilt auf den nächsten Thrill wartete. Was soll an dieser sogenannten neuen Startup-Welt glanzvoll oder innovativ sein?

„The next Big Thing: Albtraum Start-up-Szene – ein Undercoverbericht“ von Sam Gregson ist bei Benevento Books erschienen. 416 Seiten, broschiert, 18 Euro

Wie sich die Arbeit in Startups und anderen Unternehmen in Zukunft besser organisieren lässt, lest ihr in Kürze in unserem Gründerszene Report „New Work: Was Mitarbeiter heute motiviert“. Unsere bisherigen Reports findet ihr hier.

Bild: Tim Gouw / Unsplash