An dem Grundeinkommen-Experiment können 500 Berliner teilnehmen.
An dem Grundeinkommen-Experiment können 500 Berliner teilnehmen.

In der Diskussion ist das bedingungslose Grundeinkommen schon lange. Jetzt prescht ein Berliner Verein mit einem Sozialexperiment vor: Deutschlandweit sollen 500 Menschen testen, ob eine finanzielle Grundsicherung ohne Bedingungen und Sanktionen funktioniert und Menschen schneller in Arbeit bringt. 

Gegenwärtig sucht der Verein Sanktionsfrei auf der Seite „hartz-plus.de“ nach Freiwilligen, die an dem groß angelegten Versuch teilnehmen wollen. Bedingung ist, dass die Teilnehmer bereits Grundsicherung, die umgangssprachlich als Hartz IV bezeichnet wird, beziehen oder in naher Zukunft möglicherweise Hartz IV in Anspruch nehmen werden. Den Teilnehmern der Studie will der Verein drei Jahre lang Hartz IV aufwerten zu einer bedingungslosen Grundsicherung. „Hartz Plus“ soll das Upgrade heißen, und die Betroffenen bekommen dabei die Garantie, dass Sanktionen des Jobcenters bedingungslos ausgeglichen werden.

Hartz IV wird dadurch de facto bedingungslos: Termine beim Jobcenter, das Angebot, an einer Qualifizierung teilzunehmen, oder die Aufforderung, Bewerbungen zu verschicken – alldem können die Betroffenen nachkommen oder die Mitteilungen vom Amt schlicht ignorieren. Kürzt der Betreuer im Jobcenter den Teilnehmern daraufhin die Grundsicherung, erstattet der Verein den Betroffenen sofort den gekürzten Betrag, ganz gleich, was der Grund für die Sanktion ist.

Allerdings sollen nur 250 Probanden auf diese Weise in den Genuss einer bedingungslosen Grundsicherung kommen. Die 250 übrigen Teilnehmer werden zu einer Kontrollgruppe gehören, die den üblichen Sanktionsmöglichkeiten ausgesetzt bleiben. Alle Freiwilligen werden vor Beginn der Studie ausführlich und dann im Verlauf des Versuchs alle drei Monate erneut befragt.

„Hartz IV führt zu gelernter Hilflosigkeit“

Die Initiatoren des Experiments wollen auf diese Weise überprüfen, ob ein Hartz IV ohne Sanktionen und Druck das Wohlbefinden und die Motivation der Arbeitslosen steigert und dafür sorgt, dass sie eher eine Stelle finden. „Das Leben von Hartz-IV-Empfängern und -Empfängerinnen ist prekär in Bezug auf die gesamte Lebenssituation“, sagt Reiner Wieland, Professor für Organisationspsychologie an der Uni Wuppertal. Der Wirtschaftspsychologe leitet die Studie. „Sanktionen fördern zusätzlich das Gefühl von Kontrollverlust“, sagt er. „Das führt zu gelernter Hilflosigkeit, depressiven Verstimmungen und Inaktivität.“

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Der fünfköpfige Verein Sanktionsfrei setzt sich seit der Gründung vor drei Jahren für eine bedingungslose Grundsicherung ein. Bisher schon unterstützen die Initiatoren Hartz-IV-Empfänger mit Hilfeleistungen. Über die Vereinswebseite können Betroffene Faxe mit Einsprüchen gegen bevorstehende Sanktionen des Jobcenters einlegen, der Verein zahlt Anwälte, die gegen verhängte Sanktionen vorgehen, und gleicht die Kürzungen mit Spendenmitteln aus. Wenn die Klagen gegen die Jobcenter-Entscheidungen erfolgreich sind, müssen die Betroffenen das Geld an den durch Spenden und Crowdfunding finanzierten Verein zurückzahlen.

„Hinter dem Prinzip ,Fördern und Fordern‘ steckt die Annahme, dass Menschen durch Druck motiviert werden“, sagt Vereinsgründerin Helena Steinhaus zur Arbeit des Vereins. „Allerdings zeigen arbeits- und organisationspsychologische Studien, dass Sanktionen zum Gegenteil führen. Erst aufgrund der autoriär-repressiven Hartz-IV-Logik fallen immer mehr Menschen aus dem System.“ In der Arbeitspsychologie sei längst angekommen, dass Druck krank mache und demotiviere.

Mit dem bevorstehenden Versuch soll jetzt erstmals auch wissenschaftlich untersucht werden, wie die sanktionsfreie Grundsicherung die Motivation der Betroffenen beeinflusst. Es ist nicht das einzige Projekt dieser Art: Der Verein Mein Grundeinkommen, der bisher schon jeden Monat per Los eine Person bestimmt, die ein Jahr lang monatlich 1000 Euro erhält, will ab Mai, ebenfalls wissenschaftlich begleitet, untersuchen lassen, wie die Geldzahlungen das Leben der Betroffenen verändern.

Italien arbeitet an eigener Grundsicherung

Die Jobcenter haben im vergangenen Jahr in beinahe einer Million Fällen die Leistungen von Hartz-IV-Empfängern gekürzt. Die große Zahl täuscht allerdings darüber hinweg, dass nur ein kleiner Teil aller Leistungsberechtigten von den Kürzungen tatsächlich betroffen ist. Der Anteil aller sanktionierten Leistungsempfänger liegt bei gerade einmal rund drei Prozent.

Das von Sanktionsfrei initiierte Experiment zeigt somit auch auf, was hierzulande in der Diskussion über ein bedingungsloses Grundeinkommen häufig übersehen wird: Mit der Grundsicherung Hartz IV hat Deutschland bereits ein Grundeinkommen – das allerdings nicht völlig bedingungslos ist. Jeder Bürger hierzulande hat verfassungsrechtlichen Anspruch darauf, dass der Staat ihm die wirtschaftliche Existenzsicherung ermöglicht.

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Tatsächlich ist die Grundsicherung hierzulande sogar im Vergleich mit anderen Industriestaaten relativ großzügig. In Italien beispielsweise bereitet die populistische Regierung zwar gerade die Einführung eines sogenannten bedingungslosen Grundeinkommens vor und erfüllt damit ein Wahlversprechen der Fünf-Sterne-Bewegung. Hinter diesem Vorhaben verbirgt sich allerdings nichts anderes als eine an Bedingungen geknüpfte Grundsicherung unter Hartz IV-Niveau, die aber von der italienischen Regierung als progressive soziale Errungenschaft gefeiert wird.

Noch härtere Sanktionen bei jungen Hartz-IV-Beziehern

Deutschland ist derweil schon weiter: Hierzulande steht das Hartz-IV-System auf dem Prüfstand. Vor allem die SPD und die Grünen haben zuletzt eine Debatte um eine Reform der Grundsicherung angetrieben und dabei verstärkt Ideen eines bedingungslosen Grundeinkommens einfließen lassen. Vor allem bei den Sanktionen für Hartz IV-Empfänger sehen die beiden Parteien Reformbedarf. Die Parteien haben damit Wähler aus der Mittelschicht im Blick, die Angst davor haben, auf den digitalen Wandel am Arbeitsplatz nicht ausreichend vorbereitet zu sein, ihren Job an einen Roboter oder Software zu verlieren und nach dem Arbeitsplatzverlust schnell auf Hartz-IV-Niveau zu sinken.

Den Verzicht auf Sanktionen sehen Arbeitsmarktexperten allerdings kritisch. Die Sanktionsmöglichkeiten funktionierten nachweislich, sagt Enzo Weber, Forschungsleiter am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB). Sein Institut gehört zur Bundesagentur für Arbeit, forscht aber unabhängig. Lediglich bei den Sanktionen für junge Leistungsempfänger unter 25 sehen er und viele andere Experten Verbesserungsbedarf.

Junge Hartz-IV-Bezieher können weit härter bestraft werden als ältere Leistungsempfänger, wenn sie ihre Pflichten verletzen, etwa an einer Fortbildung nicht teilnehmen oder zu einem Termin im Jobcenter nicht erscheinen. Der Gesetzgeber will damit verhindern, dass junge Menschen ein Berufsleben beginnen, das vor allem von Arbeitslosigkeit und dem Bezug von Sozialleistungen gekennzeichnet ist.

Bei wiederholten Verstößen können Betreuer nach Rücksprache mit den Vorgesetzten die Regelleistung sogar komplett zusammenstreichen. Solche Härte halten Arbeitsmarktforscher, Praktiker und Politiker gleichermaßen für kontraproduktiv. Im Extremfall könnten die Betroffenen in die Obdachlosigkeit abrutschen.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Welt.de.

Bild: Getty Images / AFRafael Dols