Die Mimycri-Gründerinnen Nora Azzaoui (links) und Vera Günther, rechts im Bild eine ihrer Taschen. Sie war mal ein Flüchtlingsboot.
Die Mimycri-Gründerinnen Nora Azzaoui (links) und Vera Günther, rechts im Bild eine ihrer Taschen. Sie war mal ein Flüchtlingsboot.

Taschen, die aus Booten bestehen, in denen Menschen geflohen, womöglich gestorben sind? Das mag vielen befremdlich erscheinen, manchen gar makaber. Das Berliner Startup Mimycri hat sich aber genau darauf spezialisiert. In einer kleinen Werkstatt am Treptower Park fertigt es Rucksäcke, Bauch- und Umhängetaschen aus kaputten Schlauchbooten. Boote, mit denen Menschen von Afrika aus übers Mittelmeer nach Europa geflüchtet sind.

Die Idee kam den Gründerinnen Nora Azzaoui und Vera Günther, als sie im Winter 2015 Freiwilligenarbeit auf der griechischen Insel Chios leisteten. Dort, erzählen sie im Gespräch mit Gründerszene, hätten sie gerade angekommene Geflüchtete in Camps versorgt und Strände aufgeräumt. „Bis man das Material der Schlauchboote aus dem Sand gezogen oder von Felsen gekratzt hat, dauert es Stunden“, sagt Günther. Es habe sich falsch angefühlt, diesen Stoff wegzuwerfen: „Er trägt eine Geschichte von Flucht, Hoffnung, Neuanfang und Perspektive.“

So hätten sie ein paar Stücke Schlauchboot mit nach Deutschland genommen. Ein befreundeter Modedesigner habe daraus eine erste Tasche gefertigt. Wenig später, im Jahr 2017, gründeten Azzaoui und Günther Mimycri als gemeinnützigen eingetragenen Verein (e.V.). Heute verkaufen sie nach eigenen Angaben 50 bis 150 Taschen im Monat. Sie kosten je nach Größe 55 bis 220 Euro – mit weniger könnten sie nicht kalkulieren, sagt Azzaoi. Auf die Frage, was sie als e.V. mit den Gewinnen machen, lacht sie. „Es gibt keinen Gewinn, wenn man sechs Leute beschäftigt und in Berlin Taschen fertigt“, sagt die Gründerin. „Wir können uns ein Gehalt zahlen, das ist cool. Aber mehr ist es nicht.“

Ein Schneider aus Syrien näht die Taschen

Sie und Günther beschäftigen zwei Designerinnen, eine Projektmanagerin und zwei Näher. Einer davon ist Khaldoun Alhossain. Für ihn ist die Arbeit mit den kaputten Schlauchbooten speziell, 2015 kam der Syrer selbst in einem solchen Boot in Griechenland an. Wie er nach Berlin gekommen ist? „Einfach mit dem Bus“, erzählt er. Erst mal sei er nach München gekommen, dann in die Hauptstadt, die ihm „sehr gut“ gefalle – vor allem, wenn es warm ist. In Syrien habe er 15 Jahre lang als professioneller Schneider gearbeitet, erzählt Alhossain in beinahe fließendem Deutsch. Das Nähen mit Bootsstoff sei zwar neu für ihn, das Material aber vergleichbar mit Leder.

Erinnerungen an seine Flucht löse das Nähen „nicht mehr“ aus. „Am Anfang war es traurig. Aber gleichzeitig war ich glücklich, dass ich endlich hier war“, sagt Alhossain. „Wir sind bei Mimycri wie eine Familie. Wir arbeiten, quatschen, essen, machen Ausflüge.“ In der Freizeit spiele er in der ersten Liga Tischkicker. „In einer deutschen Mannschaft“, sagt er stolz.

Fachmann: Khaldoun Alhossain war in Syrien 15 Jahre Schneider. Hier näht er gerade eine Mimycri-Tasche.
Khaldoun Alhossain war in Syrien 15 Jahre Schneider. Hier näht er gerade eine Mimycri-Tasche.

Mit den Taschen, die er bei Mimycri fertigt, hoffe er, etwas in den Menschen zu bewegen. „Ich möchte, dass alle Leute unsere Geschichte kennen. Dass sie wissen, wie die Flüchtlinge hierher gekommen sind und dass sie verstehen, was ein Krieg ist“, sagt er.

Sollte es einmal kein Material mehr für die Taschen von Mimycri geben, weil keine Menschen mehr in Schlauchbooten übers Mittelmeer vor Krieg und Vetreibung flüchten müssten, wäre das ein gutes Zeichen. „Aber noch immer kommen viele mit Booten an, noch immer ertrinken Hunderte“, sagt Günther. Das erfahre sie durch den steten Austausch mit zwei NGOs in Griechenland, die sich um ankommende Flüchtlinge kümmern und das Startup mit Nähmaterial versorgen. Trotzdem wollen Günther und Azzaoui sich künftig nicht mehr ausschließlich auf den Gummiboot-Stoff fokussieren. Stattdessen wollen sie auch andere Materialien upcyclen und damit „Geschichten erzählen“, sagen sie.

Bilder: Pauline Schnor / Gründerszene