Sophia sitzt da mit ihren sehr kurzen Haaren, den sehr engen Jeans und ihrem unsteten Blick. Sie ist sehr jung, Anfang 20 vielleicht, und immer auf der Hut. Vor allem hier, im Getümmel des Leipziger Hauptbahnhofes. Es wimmelt und brummt vor Geschäftigkeit. Viele Männer mit Aktentaschen, weißen Hemden und Jackets sind unterwegs. Genau wie ich. Das Tagwerk ist getan. Jetzt geht es nach Hause. Nach Stuttgart vielleicht. Berlin oder Hamburg. Sophia kommt aus Stuttgart. Sagt sie. Sie will auch wieder zurück. Nur ginge das gerade nicht, weil sie ein paar Probleme hätte. 

Da war dieser Mann. Groß war er und sehr kräftig. Er wollte Sophia 100 Euro für ein „bisschen Spaß“ bezahlen, erzählt sie. Sie hätten dann auch durchaus Spaß gehabt in seiner Wohnung. Doch das Geld bekam sie nicht. Er habe sich hinterher beschwert, dass sie ihm andere Dinge versprochen hätte. Nein, ins Detail wolle sie nicht gehen. Aber er habe wirklich keinen Grund gehabt, sich zu beschweren. Doch der Mann behielt auch noch ihren Personalausweis und ihre Krankenversicherungskarte. Einfach so. Sophia hat keine Ahnung, wie sie die Papiere zurückbekommen könnte. Sie hätte keinen festen Wohnsitz. Das mache die Sache schwierig. Und zu diesem kräftigen Mann traue sie sich nicht mehr. Nein, geschlagen habe er sie nicht. Aber mit Worten verletzt. Sie sei dann einfach gegangen. Sophias Blick wird starr. Sie wurde schon sehr oft verletzt.

Manchmal ziemlich unvernünftig

Zurück am Bahnhof hätte sie dann drei süße Jungs aus Berlin getroffen. Es sei noch sehr früh am Morgen gewesen. Und die Sophia sei manchmal ziemlich unvernünftig und nach ein paar Bier ist sie mit den jungen Leuten in den Zug nach Berlin gestiegen. Vorher habe man noch richtig guten Alkohol gekauft. Richtig gut! Auf der Fahrt sei sie dann irgendwann betrunken gewesen. Vielleicht war das auch besser so, denn an das, was dann passierte, könne sie sich nicht mehr genau erinnern. Sagt sie. Ihr Blick flackert. Auf jeden Fall fand sie sich später im Zug in die Gegenrichtung wieder. Zurück zum Leipziger Hauptbahnhof.

Ihre Sachen wolle sie nicht mit nach Berlin nehmen. Nein. Viel zu schwer für diese schmale Person. Die habe sie dann einfach in ein Schließfach gepackt. Doch da lägen sie jetzt immer noch. Seit fast vier Wochen. Inzwischen würde es fast 100 Euro kosten, um die Sachen wieder heraus zu holen. So viel Geld habe sie gerade nicht. Doch sie wolle ihre Sachen zurück, sagt sie. Da seien ganz tolle Klamotten und neue Schuhe drin. Arbeiten wolle sie dafür. Als Kellnerin. Richtig freundlich wolle sie zu den Leuten sein, damit das Trinkgeld stimme. Dann könne sie ihre Sachen auslösen. Doch wer nähme schon eine Bedienung ohne festen Wohnsitz und ohne Personalausweis?

Orte mit abgezähltem Kleingeld

Seit ein paar Minuten hört ein anderer Mann Sophias Geschichten zu. Es gibt nur wenige Sitzplätze vor der Bahnhofskneipe. Er hat sie auf ein Bier eingeladen und erzählt, dass er ihre Probleme vielleicht lösen könne. Man müsse die Sache strategisch angehen. Er habe da ein paar Freunde, die helfen könnten. Jetzt nicht. Er blickt kurz auf die Uhr. Dafür sei es zu spät am Tag. Aber morgen ganz bestimmt. Keine Polizei, versichert er mehrfach. Keine Polizei! Der Freund würde bei dem großen, kräftigen Mann anrufen. Mit Namen und Status. Wie sich das gehöre. Dann würde der die Personalpapiere schon wieder herausrücken. Und eine Wohnung würde er Sophia auch besorgen. Nicht in Stuttgart. In Leipzig. Aber immerhin.

Sophia gerät ins Träumen. Eine kleine Einzimmer-Wohnung. Mit Badewanne. Da könnte sie sich endlich entspannen. Im warmen Wasser. Das wäre so schön. Sie könne aber derzeit nur 340 Euro im Monat zahlen. Hartz, verstehst du? Der Mann steht auf und sagt, er müsse kurz Geld wechseln. Fünf Minuten braucht er, dann ist er wieder zurück. Mit seinen Camouflage-Hosen und seinem bunten T-Shirt sieht er ein bisschen aus wie ein Streetworker. Er wolle mit Sophia an einen Ort gehen, an dem man abgezähltes Kleingeld brauche. Letztes Mal habe der Automat nicht gewechselt. Das habe ihn geärgert. Jetzt habe er aber Kleingeld und außerdem eine kleine Überraschung für Sophia. Eine Überraschung, die ihr gefallen würde.

Der Lauf der Dinge

Eine Überraschung. Sophia strahlt. Wann ist sie zum letzten Mal überrascht worden? Sie könne sich gar nicht mehr dran erinnern. Das sei so aufregend und spannend, lacht sie. Ein kurzes Lachen, vor dem sie selber ein wenig erschrickt. Dann beginnt sie, sich nervös eine Zigarette zu drehen. Für Tabak sei immer ein wenig Geld da, sagt sie. Der Mann erzählt, dass es sonst auch einen vorübergehender Personalausweis gäbe. Den könne man auf jeden Fall bekommen, um ein paar Dinge zu regeln. Morgen. 

18:14 Uhr. Mein Zug steht auf Gleis 11. Ich muss jetzt ganz dringend los und überlege, ob ich Sophia noch ganz kurz warnen soll. Ist diesem Mann zu vertrauen? Wohin will er sie locken? An welchem Ort braucht man abgezähltes Kleingeld? Eine Münzwäsche? Ein Automatenrestaurant? Darf ich den Lauf der Dinge aufhalten, indem ich Sophia meine Bedenken mitteile? Verhindere ich ihre Rettung, ihr Glück? Oder ein weiteres dieser kleinen Probleme, die sie sich dauernd aufhalst? Sie schaut kurz auf als ich aufbreche und wünscht mir eine gute Fahrt. Ich wünsche ihr viel Glück. Sie wird es brauchen.

Nächsten Sonntag beschäftigen wir uns wieder mit Tech- und Startup-Themen. Versprochen. Bis dahin hören wir das neue Album von The Coral.

Foto: Youtube/The Coral