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Mehr geht (beinahe) nicht: Fast die Hälfte der rund 200 Unicorns in China sitzt in Peking.
Mehr geht (beinahe) nicht: Fast die Hälfte der rund 200 Unicorns in China sitzt in Peking.

Den Boom der chinesischen Tech-Industrie bemerkte man in den vergangenen Jahren auch daran, dass die Zahl der „chinesischen Silicon Valleys“ geradezu inflationär anzusteigen schien. Von Shenzhen über Hangzhou bis nach Shanghai – viele Städte im bevölkerungsreichsten Land der Welt haben mittlerweile den Anspruch, international konkurrenzfähige Innovations-Hubs zu sein.

Anderes ist dagegen noch Wunschdenken, etwa die Greater Bay Area, die im Süden Chinas mit künstlichen Inseln, Unterwassertunneln und einer riesigen Überseebrücke Hongkong, Macau und neun weitere Städte zum größten Tech-Zentrum der Welt zusammenschweißen soll. Lokalregierungen im ganzen Land buhlen mit neuer Infrastruktur und finanziellen Anreizen um Talente. Es werden also noch einige „Sino Silicon Valleys“ hinzu- kommen.

Eines von ihnen hat jedoch allen anderen den Weg geebnet: Zhongguancun, der erste große Tech-Distrikt Festlandchinas im nordwestlichen Pekinger Stadtteil Haidian. Seine Erfolgsgeschichte begann vor knapp 40 Jahren.

Boten eines neuen Wohlstands

Als die Grabenkämpfe ausgestanden waren, die Mitte der Siebzigerjahre auf den Tod Maos gefolgt waren, kurbelte der als Sieger hervorgegangene Reformer Deng Xiaoping die Privatwirtschaft an. „To get rich is glorious!“ war eine seiner Losungen, die in den Ohren der lange von der Welt abgeschotteten Chinesen wie eine Verheißung klang. Endlich durften sie, die an Entbehrung und Schwarzmarkthandel gewohnt waren, wieder offen Geschäfte machen, ohne dafür als Kapitalisten oder „Repräsentanten der Bourgeoisie“ gebrandmarkt zu werden.

Nach einer erfolgreichen Agrarreform kamen über Japan und die britische Kronkolonie Hongkong bald auch technische Errungenschaften wie Stereoanlagen, Kühlschränke und Waschmaschinen ins Land – Boten eines neuen Wohlstands, die damals noch auf handgemalten Plakaten angepriesen wurden.

In Peking entstand schon Ende der Siebzigerjahre in der Nähe des alten Sommerpalastes eine Einkaufsmeile, auf der die Bürger Elektronikgeräte kaufen und reparieren lassen konnten. Die Anzahl der Händler war überschaubar – das „Cun“ in Zhongguancun bedeutet „Dorf“. Trotzdem war der Ort, der während der Qing-Dynastie (1644–1912) noch als Begräbnisstätte für die kaiserlichen Eunuchen gedient hatte, zum Leben erwacht.

Mitte der Achtzigerjahre ließen sich hier die ersten großen heimischen Tech-Firmen nieder. Unter ihnen waren der PC-Hersteller Lenovo, damals mit einem Startkapital von umgerechnet 29.000 US-Dollar ausgestattet, und die Founder Technology Group, die schon Ende der Achtziger ein starkes Auslandsgeschäft aufgebaut hatte.

1988 wurde Zhongguancun vom chinesischen Staatsrat zur Pilotzone für die Hightech-Industrie ernannt. Hier sollte Chinas Wunsch, sich von der „Werkbank der Welt“ in ein globales Technologie-Powerhouse zu verwandeln, erstmals Gestalt annehmen. Von ersten Webanwendungen bis zu frühen Smartphone-Knochen wurde hier erfunden und kopiert, verworfen und gehypt, frei nach dem Motto „Zizhu chuangxin“ – „Innovation aus eigener Kraft“.

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Ganz allein schafften es die Unternehmer freilich nicht immer. Bis heute greift die chinesische Regierung den Hoffnungsträgern in Zhongguancun mit Startkapital, Steuererleichterungen, Trainingsprogrammen und Investitionsanreizen unter die Arme.

So konnte aus der einstigen Elektroladenzeile ein Areal werden, das sich heute auf 488 Quadratkilometer erstreckt und über 9000 Tech-Firmen ein Zuhause bietet. Ein Drittel aller chinesischen Unternehmen, die am NASDAQ gelistet sind, haben heute ihren Sitz in Zhongguancun, darunter Superplayer wie Baidu und Sina Corp.

Täglich 80 neue Startups in Zhongguancun

Fast die Hälfte von Chinas rund 200 Unicorns – Firmen, die nicht älter als zehn Jahre sind und schon mit mindestens einer Milliarde US-Dollar bewertet werden – sitzt ebenfalls hier. Unter ihnen der Mitfahrdienst Didi, der Uber 2016 mit einer beispiellosen Rabattschlacht aus dem chinesischen Markt drängte. Oder Bytedance, die mit 75 Milliarden US-Dollar bewertete Mutterfirma der Viral-App Tiktok. Laut offiziellen Zahlen werden in Zhongguancun täglich 80 neue Startups gegründet.

Auch wenn die Quellen offizieller Zahlen aus China nicht immer transparent sind, ist das nicht unwahrscheinlich. Besonders auf dem Feld der künstlichen Intelligenz (KI) schießen die Unternehmen nur so aus dem Boden. Außerdem betreiben etablierte Firmen wie Sensetime, Sogou, Intel, Bytedance, Megvii und Microsoft in Zhongguancun wichtige KI-Labore.

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Auch die Pioniere sind noch dort. Vergangenen Herbst kündigte Lenovo einen neuen Software-Campus an, auf dem 10.000 Mitarbeiter in einem „Silicon-Valley-artigen Umfeld“ arbeiten sollen. Die Business-Kultur aus Kalifornien hat in Zhongguancun längst Einzug gehalten: Gratismahlzeiten, Fitnessstudios, Kinos und anderes Entertainment sollen die Mitarbeiter dazu bringen, sich möglichst lange in der Nähe ihres Arbeitsplatzes aufzuhalten.

Google hat schon seit 2005 sein China-Hauptquartier in Zhongguancun – obwohl die meisten seiner Dienste im Land blockiert und höchstens über VPN-Kanäle erreichbar sind. Solche Umgehungs-Software ist in China zwar offiziell verboten, die Regierung toleriert sie jedoch – auch um heimische Startups nicht von internationalen Entwicklungen abzuschneiden.

Mit dem Tech-Sektor geht man in der Volksrepublik heute um einiges pragmatischer um als etwa mit Kunst und Kultur, die seit der Machtübernahme von Xi Jinping deutlich schärfer kontrolliert werden. Als eine seiner ersten Amtshandlungen besuchte der Staats- und Parteichef im September 2013 zusammen mit seinen Top-Kadern Zhongguancun. „Wir müssen die Chancen der technologischen Revolution beim Schopf packen“, erklärte er damals. „Wir dürfen nicht warten, zögern oder nachlassen.“

An Xis Prioritäten hat sich nichts geändert. Anfang des Jahres sagte er bei einer Rede im Binhai-Zhongguancun Science and Technology Park, einer Außenstelle des Innovations-Hubs im benachbarten Tianjin, dass China alte Wachstumstreiber noch mehr durch neue ersetzen und sich dabei noch unabhängiger vom Ausland machen müsse. Ein klarer Seitenhieb auf US-Präsident Donald Trump, der damals schon den chinesischen Telekommunikationsanbieter ZTE auf die schwarze Liste gesetzt hatte. Dass andere wie Huawei folgen würden, sah Xi da offenbar bereits kommen.

Auf Seite 2: Die chinesische Tech-Branche bringt viele Millionäre hervor

Der größte Vorteil von Zhongguancun gegenüber anderen chinesischen Tech-Hubs ist sein Standort. Die Regierung ist nah und wacht darüber, dass der Innovationsfluss nicht abbricht. Und während im südchinesischen Shenzhen die Produktionsstätten gleich um die Ecke liegen, hat Zhongguancun den unmittelbarsten Zugriff auf Chinas geistige Ressourcen.

Die Tsinghua-Uni und die Beijing-Universität – Nummer eins und zwei unter Chinas besten Hochschulen – befinden sich in Laufweite. Im Haidian-Park von Zhongguancun sitzen 200 weitere Bildungseinrichtungen und Forschungsinstitute, unter ihnen die Chinesische Akademie der Wissenschaften und das renommierte Beijing Institute of Technology.

Die chinesische Tech-Branche bringt viele Millionäre hervor

Für Nachwuchstalente und Forscher ist Zhongguancun ein einmaliges Experimentierfeld, aber auch ein Sprungbrett für all jene, die schnell Karriere machen wollen: Headhunter streifen durch die Coworking-Spaces, Inkubatoren und Rekrutierungsbüros muss man nicht lange suchen.

Auch Global Player wie IBM, Microsoft und Siemens haben hier Niederlassungen. Zhongguancun-Außenstellen, die die internationale Zusammenarbeit stärken sollen, finden sich heute in Sydney, Bad Vilbel, dem Silicon Valley, Washington, Toronto, London, Tokio, Helsinki und Heidelberg.

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Top ausgebildete Auslandschinesen werden mit staatlicher Förderung zurück in die Heimat gelockt. Ausländische Tech-Spitzenkräfte können mittlerweile ein Langzeitvisum für sich und ihre Angehörigen bekommen. Etwas, das in China bis vor wenigen Jahren staatswichtigen Experten, langjährigen Großinvestoren, Sportstars oder Veteranen des kommunistischen Befreiungskampfes vorbehalten war.

Es hat sich herumgesprochen, dass heute nirgends so schnell Millionäre entstehen wie in der chinesischen Tech-Branche. Die Fluktuation ist hoch: Während die durchschnittliche Anstellung im Silicon Valley 3,65 Jahre beträgt, sind es in China nur knapp 2,6 Jahre. Auch der Wettbewerb ist nirgends härter. Alibaba-Gründer Jack Ma, der unter Chinas Entrepreneuren ein höheres Ansehen genießt als Steve Jobs, erklärte im Frühjahr, dass die sogenannte 9-9-6-Woche – Arbeiten von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends an sechs Tagen die Woche – „ein großer Segen für junge Unternehmen“ sei. „Wenn Sie nicht 9-9-6 arbeiten, wenn Sie jung sind, wann können Sie jemals 9-9-6 arbeiten?“, fragte er.

Auch in China, wo zumindest theoretisch Regelarbeitszeiten von 40 Stunden pro Woche gelten, wurden Mas Aussagen kontrovers diskutiert. Denn standhalten kann dem Druck nicht jeder. Und dass die Aufopferung sich auszahlt, ist längst nicht mehr gewiss. Mit der schwächelnden Wirtschaft hat sich auch die Aufbruchsstimmung unter Chinas Gründern etwas abgekühlt. Ende vergangenen Jahres gaben große Tech-Unternehmen wie Bytedance bekannt, in den kommenden Monaten Boni und Arbeitsplätze streichen zu müssen. Gleichzeitig schießen die Mieten in Zhongguancun durch die Dichte an hochkarätigen Unternehmen immer weiter in die Höhe.

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Anfang 2019 kaufte JD.com, Chinas zweitgrößter E-Commerce-Konzern, für 400 Millionen Dollar ein Hotel in der Nähe des Distrikts, um dort ein neues Innovation- und Recruitment-Zentrum einzurichten. Das schafft einerseits Arbeitsplätze. Andererseits zeigt es auch, dass es in Zhongguancun vor allem junge Gründer immer schwerer haben, bei dem Niveau der Mieten mitzuhalten. Die Pekinger Stadtverwaltung steuert gegen, indem sie andere Standorte als alternative Innovations-Hubs fördert, etwa Wangjing im Nordosten.

Mit einem erhöhten, sechs Meter breiten und neun Kilometer langen Fahrrad-Highway – weltweit der erste seiner Art – soll Mitarbeitern, die sich die Mieten von Zhongguancun nicht mehr leisten können, zudem die Anreise erleichtert werden. Ob das reicht, den Standort für Newcomer dauerhaft attraktiv zu halten, ist ungewiss. An anderen „Sino Silicon Valleys“, die Zhongguancuns Platz einnehmen wollen, mangelt es jedenfalls nicht.

Bild: Getty Images / Ludovic Marin
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