Arbeitsplätze sollen künftig überall buchbar sein – auch im Café.

Morgens um 6.30 Uhr in Deutschland. Es ist die Frage, die sich derzeit Millionen Bundesbürger jeden Tag aufs Neue stellen. Fahr ich oder fahr ich nicht? Die meisten Arbeitnehmer haben seit der Corona-Krise zwei Optionen, wo sie arbeiten wollen. Zu Hause oder im Büro. Jetzt kommt noch eine dritte hinzu – irgendwo dazwischen.

Die Arbeitswelt steht vor der größten Disruption seit der dritten industriellen Revolution, die Millionen Menschen aus der Fabrikhalle in die Büros brachte. Nun stehen wir vor der vierten industriellen Revolution, die durch die Pandemie beschleunigt wird. In den heutigen digitalen Arbeitswelten, in denen Arbeiten überall möglich ist, wo es Internet gibt, scheinen riesige, langfristig vermietete Bürokomplexe eine Sache der Vergangenheit.

In der Zukunft müssen drei Interessen unter einen Hut gebracht werden: Da sind zunächst die Arbeitgeber, die die Chance sehen, einen Teil der fixen Mietkosten loszuwerden. Da sind zum Zweiten die Arbeitnehmer, die nach ihren persönlichen Vorlieben und der eigenen Lebenssituation ihre Arbeit machen wollen.

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Nicht zuletzt sind da die Vermieter, die für ihre Immobilien künftig flexibler planen müssen. Und sie haben die verderblichste Ware im Angebot. Die Miete für einen Büroplatz, der eine Woche leer steht, ist unwiederbringlich verloren. Niemand kann abschätzen, wie der Ort, an dem wir zukünftig arbeiten werden, aussieht und wo er sich befindet. Fest steht aber: Der bislang immobile Büroplatz wird zur mobilen Dienstleistung.

Die Situation erinnert an die Lage auf dem Markt für Hotels, Ferienhäuser und private Unterkünfte vor etwa zehn Jahren. Auch damals war klar, dass Internet und Digitalisierung für eine Disruption sorgen würden. Letztlich bedurfte es nur einer technologischen Lösung, die den Startschuss für diesen drastischen Wandel gab.

Airbnb der Arbeitswelt

Dank der Digitalisierung kamen auf einen Schlag auch neue Übernachtungskapazitäten auf den Markt, weil Private plötzlich imstande waren, für freie Zimmer oder Wohnungen Touristen zu finden. Airbnb etablierte sich als führende Plattform, die Anbieter von Wohnraum aller Art und unterschiedlichste Nachfrager zusammenbrachte.

Airbnb ist gewissermaßen auch das Vorbild der Macher von Independesk. Sie reagieren auf die große Disruption in der Arbeitswelt. Ihre App ist sozusagen die Reaktion auf das, was so viele Arbeitgeber und Arbeitnehmer in den vergangenen Monaten im Joballtag erlebt haben. Dass es zwar durchaus Vorteile hat, nicht jeden Tag stoisch ins Büro zu fahren. Dass aber auch das Homeoffice keine dauerhafte Option ist.

Die Independesk-App ist nichts anderes als die Möglichkeit, sich via Smartphone einen Schreibtisch zu suchen. Einen, der nicht zu Hause, aber auch nicht beim Arbeitgeber steht. „Wir wissen ja nicht erst seit dem Durchbruch des Homeoffice, dass sich das Privatleben schlecht vom Arbeitsleben trennen lässt“, sagt Co-Gründer Karsten Kossatz. „Dort, wo man schläft, arbeitet es sich einfach nicht gut.“

Monatsbudget für die Schreibtischmiete

Die App wird am 15. September freigeschaltet, und der Preis für einen Schreibtisch wird zwischen 15 und 25 Euro pro Tag liegen, erklärt der 28-Jährige. Man muss die Location für mindestens zwei Stunden buchen. Auf die Stunde heruntergerechnet, liegen die Kosten dann zwischen zwei und vier Euro. Zudem, kündigt Kossatz an, wird es eine Art Premiumsegment geben.

Wer mag, kann sich dann auch in exklusiven Locations wie dem Fernsehturm, einem Luxus-Spa oder einem Theater einbuchen. Das kann dann auch zwischen zehn und 50 Euro pro Stunde kosten. „Letztlich werden alle Orte zum Angebot zählen, wo es freie Schreibtische gibt. Hotels, Firmen, Cafés oder auch klassische Coworking-Spaces“, zählt Kossatz auf. Die Grundvoraussetzungen, die alle Anbieter erfüllen müssen, sind: ein freier Tisch, ein Stuhl, kostenloser Internetzugang, Strom und Waschräume.

In der Independesk-App werden Suchkriterien wie Entfernung, maximaler Preis und Dauer eingegeben – dann zeigt sie die Desk-Optionen in der Umgebung. (Bild: Independesk)

Die App selbst funktioniert selbsterklärend. Der registrierte Nutzer gibt seine Suchkriterien, wie beispielsweise Entfernung, maximaler Preis und Dauer, an – und bekommt die Desk-Optionen in seiner gewünschten Umgebung angezeigt. Das Angebot soll sich nicht nur an Selbstständige oder Freelancer richten. „Wir stellen uns vor, dass auch der normale Angestellte mit seinem Arbeitgeber eine Art Monatsbudget vereinbaren kann. Das kann er dann flexibel nutzen“, sagt Kossatz.

Zum Beispiel, wenn der Mitarbeiter spontan doch nicht ins weit entfernte Büro fährt, aber auch kein Homeoffice machen möchte. Der Arbeitgeber wiederum hat den Anreiz, so auf Dauer teuren Büroplatz zu sparen. Der zweite Motor der Geschäftsidee ist, dass viele Firmen in diesen Tagen vor allem das umgekehrte Problem haben – nämlich zu viel Leerstand. Der lässt sich zumindest teilweise verringern, indem man Schreibtische über die App offeriert.

Totentanz in Werbeagenturen

Die Angebote von großen Firmen wie BASF, die jetzt ebenfalls Büroflächen auf dem freien Markt anbieten, fürchten die Macher von Independesk nicht. „Wir sind flexibler. Mit uns legt sich niemand fest. Er hat keine laufenden Kosten. Er muss nur zahlen, wenn der Mitarbeiter tatsächlich einen Schreibtisch bei uns bucht und nutzt.“

Die Mitmach-Bereitschaft der Unternehmen dürfte in der Tat größer denn je sein. „Im Moment spüren wir sogar etwas wie Dankbarkeit. Denn in vielen Branchen herrscht gerade eine Art Totentanz. Werbeagenturen sind beispielsweise dankbar für jeden Schreibtisch, den sie in ihren Büros besetzen können.“

Die Independesk-Gründer wollen die Gunst der Stunde nutzen und mit ihrer App schnell expandieren. Zum Start am 15. September fokussieren sie sich auf die Region Großraum Berlin. „Registrieren können sich Anbieter von Locations dann aber sofort deutschlandweit“, erklärt Kossatz. München und Hamburg sollen für die Nutzer noch in diesem Jahr ansteuerbar sein. Das Geschäftsmodell sei skalierbar und könne weltweit ausgerollt werden. „Die Entwicklung der flexiblen Arbeitsorte wird sich nicht mehr zurückdrehen lassen. Überall. Das Geschäftsmodell funktioniert deshalb global.“

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Obwohl die Geschäftsidee durch ihre simple Konstruktion besticht, die jeder versteht und leicht anwenden kann, ist die Konkurrenz noch überschaubar. Doch der Wettbewerb um das Airbnb der Arbeitswelt dürfte schon bald an Intensität gewinnen. Denn die leicht kopierbare Idee wird viele Konkurrenten auf den Plan rufen. Und dann wird, wie immer in der Plattform-Ökonomie, der zum größten Akteur, der den Netzwerkeffekt am schnellsten für sich nutzen kann.

Jeder neue Nutzer, ob Vermieter oder Arbeitnehmer, erhöht den Wert der Plattform überproportional. Je mehr Anwender, desto größer der Nutzen und desto größer die Chance, dass die Menschen den perfekten Arbeitsplatz dort suchen.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Welt.de.

Bild: Westend61 / Getty Images