In einem Büroturm tief im Berliner Osten steht Stefan Lorkowski vor einer bunten Wand und kann sie förmlich alle sehen, Tausende Autofahrer im ganzen Land, die genervt am Steuer ihrer Autos sitzen und in einem Stau feststecken. Mit einem Projektor wirft Lorkowski eine Karte des deutschen Straßennetzes an die Wand, darauf sind unzählige blaue Pfeile zu sehen. Wo sie sich ballen, zu einer blauen Fläche verschmelzen, ist Stau. Stau auf der A3 bei Köln, Stau auf der A2 bei Bielefeld, mitten in Berlin braut sich gerade auch etwas zusammen.

Das ist die Gegenwart, aber Lorkowski kann gewissermaßen schon in die Zukunft sehen. Auf seiner Karte zeichnet sich schon ab, was den Autofahrern demnächst bevorsteht. Mit einem Mausklick zoomt sich Lorkowski weiter in die Karte hinein, hinein in den Verkehr auf der A2, in immer mehr, immer dichtere blaue Pfeile. Es dauert nicht lange, da steht „Rettungshubschrauber im Einsatz“ auf der Karte an der Wand, darunter ein Diagramm mit Linien, die sich erst orange färben, dann rot. Das heißt: Vollsperrung, nichts geht mehr.

Die Autofahrer auf der A2 ahnen davon nichts, im Radio gibt es noch keine Verkehrsdurchsage. Und genau das ist die Idee, die Lorkowski und sein Arbeitgeber – das niederländische Navigationsunternehmen TomTom – verfolgen: die aktuell relevanten Daten zu sammeln und zu verknüpfen und so schneller und schlauer zu sein als andere. Im Verkehr, aber nicht nur da. Es geht um nicht weniger als die Vermessung und digitale Aufbereitung der Welt.

Kein bloßes Abbild des Wegenetzes

Der Chef der Firma sagt es so: „Digitale Karten sind heute nicht mehr nur ein bloßes Abbild des Wegenetzes. Sie sind elementares Bauteil intelligenter, teilautonomer und künftig autonomer Fahrzeuge.“ Übersetzt heißt das: Nur hochgenaue Kartendaten, kombiniert mit Echtzeitinformationen über Verkehr, Wetter und dergleichen, ermöglichen es, vorausschauend zu fahren. Das gilt schon jetzt.

Es würde erst recht gelten, wenn irgendwann autonome Autos durch Deutschland fahren sollten. Und weil sich ganze Industrien auf das Zeitalter der selbstfahrenden Autos einstellen, sind Firmen wie TomTom mit ihren Datenverarbeitungsideen ein gefragter Partner von Autoherstellern, Städteplanern, Smartphone-Bauern, Verkehrsbehörden, Drohnen- und Mobilitäts-Startups wie Uber und Lyft.

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Denn sie alle brauchen für ihre Geschäfte neue digitale Karten: Straßen, Kreuzungen, Hindernisse müssen nicht mehr nur so ungefähr genau, sondern zentimetergenau abgebildet werden, als stände man direkt vor ihnen. Taxianbieter und Firmen, die Essen oder Waren ausliefern, wollen Daten über einzelne Gebäude, App-Anbieter wollen eine exakte Fußgänger-Navigation, Drohnendienste wollen genaue Informationen. Sie wollen wissen: Wo liegen Hauseingänge? Wie viele Stockwerke hat das Haus? Was gibt es dort, welche Geschäfte, Restaurants, Serviceanbieter?

Nur wenige Anbieter können so etwas

Echtzeitdaten werden mit den statischen Informationen verknüpft. So sollen TomToms Rechner und die der Konkurrenten Fragen beantworten und Zeit, Ärger und Geld sparen helfen. Die Daten geben, so die Idee, Auskunft darüber, auf welcher Abbiegespur Staus entstehen, welche Straßen durch Baustellen verengt sind, wo in einer Stadt Großveranstaltungen ein Verkehrschaos verursachen können, in welcher Reihenfolge Ampeln geschaltet sind, wo der Straßenbelag glatt, also bei Regen gefährlich ist. Und, und, und.

Nur wenige Anbieter können so etwas schon. TomTom, Google mit seinem Maps-Angebot und die Firma Here, die BMW, Daimler und Audi vor drei Jahren für 2,8 Milliarden Euro von Nokia gekauft haben. Sie konkurrieren um einen weltweiten Markt, der Prognosen zufolge in den kommenden fünf Jahren auf über 20 Milliarden Dollar Jahresumsatz wachsen wird. Wenn es so kommt, wäre das ein traumhaftes Wachstum von 100 Prozent.

Das Geschäft funktioniert allerdings nur, wenn die Kunden fleißig Daten liefern. Und das tun sie, bewusst oder unwissentlich. Jeder der kleinen blauen Pfeile auf Lorkowskis großer Karte ist ein Autofahrer, der ein Navi oder eine in Autos oder Lkws installierte Software von TomTom verwendet. Damit übermittelt er seine Positionsdaten per Mobilfunk an einen TomTom-Server in den Niederlanden. Auch auf Apples iPhones ist diese Software zu finden. So liefern Hunderttausende Nutzer Informationen, die zu dem Bild auf Lorkowskis Bürowand verschmelzen.

Der Kunde erschafft die Karte der Zukunft

Lorkowksi nennt dieses Bild „Live Map“, Echtzeitkarte. Von wie vielen Nutzern seine Firma dafür Daten bekommt, gibt er nicht preis. Auch die Chefs nicht. Man kann aber davon ausgehen, dass mindestens jeder zehnte Verkehrsteilnehmer seine Positionsdaten an TomTom weiterreicht. Anonymisiert, sagt Lorkowski. Mit den Daten erschafft er die Straßenkarte der Zukunft: hochgenau, mit aktuellen Informationen zu Verkehr, Baustellen, Straßensperrungen, Geländekonturen und Straßenzustand.

Das klappt aber nur, wenn die digitale Basiskarte genau genug ist. So erklärt es Peter Kürpick von TomTom-Konkurent Here. „Die Software muss etwa erkennen, dass ein Stau nur auf einer Abbiegespur entsteht. Dazu benötigt sie eine Hochpräzisionskarte, die zentimetergenau Fahrspuren abbildet.“ Bei Here heißt diese Karte HD Live Map. Für sie vermisst das Unternehmen derzeit sämtliche Straßen in Europa und Nordamerika. Auch TomTom und Google fahren mit Hunderten Fahrzeugen sämtliche Straßen in den USA, Europa, teilweise auch in Schwellenländern mit Vermessungsfahrzeugen ab, die mit Laserscannern und 3-D-Kameras hochgenaue Abbilder der Welt erstellen.

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Kein menschlicher Kartograf könnte diese Datenmasse verarbeiten, das erledigen Computer. Wie gut das funktioniert, kann man zum Beispiel sehen, wenn man bei Google Maps in die Onlinekarte seines Heimatortes hineinzoomt. Die Algorithmen haben in der aktuellsten Version Gebäudeumrisse, Gärten, architektonische Details großer Gebäude festgehalten. Selbst in kleinsten Dörfern in Europa und den USA.

„Google ist aktuell im Detailgrad der Karte anderen Anbietern weit voraus“, sagt US-Kartograf Justin O’Bierne.

Ein Außenseiter überrascht

Die größte Herausforderung für die Kartenanbieter ist es, kontinuierlich und in der Fläche Livedaten über den Verkehr und den Straßenzustand zu sammeln. Dazu brauchen sie Zugriff auf Echtzeitbewegungsdaten ihrer Nutzer. Wann immer ein Nutzer sich per Smartphone von A nach B leiten lässt, übermittelt sein Telefon, anonymisiert oder nicht, seine Position an die Kartenhersteller. Der Server sendet eine optimierte Route zurück, berücksichtigt die Verkehrslage und historische Daten aus der Vergangenheit.

Der Kampf der Hersteller um das beste Produkt ist ein Kampf um die präzisesten Daten, also um Informationen über die Kunden. Google bezieht seine Bewegungsdaten von Google-Maps-Nutzern. TomTom von seinen Navigationsgeräten, von allen, die Apples Navigations-App auf dem iPhone nutzen, und von den Navis seiner Firmenkunden, also auch von Daimler, Audi, Hyundai, Fiat und Renault. Der dritte Anbieter, Here, profitiert nun davon, dass er drei großen deutschen Autobauern gehört, mit denen er eng zusammenarbeitet.

„Here entwickelt seine Karte aktuell am schnellsten weiter“, sagen deshalb die Marktforscher von Counterpoint Research. Zu den Kunden gehören neben Autoherstellern auch Tech-Giganten wie Amazon, MasterCard und Lyft.

Die Konkurrenz von TomTom und Google stellt erstaunt fest, wie schnell sich Here neue Partner holt. Die Eigner Audi, Daimler und BMW verkaufen immer wieder Anteile. Anfang des Jahres an die Autozulieferer Bosch und Continental, auch der Chipgigant Intel hat sich eingekauft. Und Heres wichtigster Partner ist inzwischen das chinesische Unternehmen NavInfo, das den Einstieg in den abgeschotteten chinesischen Milliardenmarkt erlaubt.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Welt.de.

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