Sagt, dass Künstliche Intelligenzen das Weltall erobern werden: Jürgen Schmidhuber

Er sucht das große Publikum. Bevor Jürgen Schmidhuber ein Interview zusagt, fragt er per Mail, wie viele Leser unser Magazin hat. Er will offenbar möglichst viele Menschen erreichen. Ich liefere ihm die Zahlen. Er willigt ein.

Das Gespräch findet am Rande der GTC-Konferenz des Chipherstellers Nvidia in München statt. Eine halbe Stunde Zeit räumt Jürgen Schmidhuber ein, wir sind zu viert. Neben mir sitzen zwei weitere Journalisten aus den Niederlanden und Schweden. Bevor wir uns treffen, hat Schmidhuber eine Mail geschickt – zur Vorbereitung. Darin steht, dass er bereits allen großen deutschsprachigen Zeitungen und Magazinen ein Interview gegeben hat, eine Liste mit Links ist angehangen. Außerdem ist aufgeführt, was der in München geborene Wissenschaftler im Feld der Künstlichen Intelligenz (KI) bisher erreicht hat.

Schmidhuber hat sich über die vergangenen Jahre einen Namen gemacht, er wird oft als Vater der KI bezeichnet. Eine seiner Entwicklungen steckt in Milliarden Smartphones: ein neuronales Netzwerk, das Maschinen das Lernen ermöglicht, wird inzwischen täglich für Spracherkennung bei Alexa, Siri und Co. eingesetzt. Außerdem haben einige seiner Studenten Deepmind mit aufgebaut, jenes Startup, dass Google 2014 für mehr als 600 Millionen Dollar aufgekauft hat. Seit 1995 ist Schmidhuber Direktor am IDSIA, einem Schweizer Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz. Vor einiger Zeit hat er das Unternehmen Nnaisense gegründet, mit seinem 20-köpfigen Team will er die erste Allzweck-KI entwickeln.

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Um frühere und aktuelle Projekte geht es beim Treffen in München dann allerdings nur am Rande. Die meiste Zeit redet Schmidhuber über seine Visionen der Zukunft: „Künstliche Intelligenz wird voraussichtlich fast jeden Aspekt unserer Zivilisation erfassen und umgestalten. Menschen werden bald nicht mehr die wichtigsten Entscheidungsträger sein“, sagt der 55-Jährige. Alles werde sich ändern und die vom Menschen dominierte Zivilisationsgeschichte, wie wir sie kennen, neige sich in den kommenden Jahrzehnten ihrem Ende zu.

KIs kolonisieren das Weltall

Noch sei das menschliche Hirn KI in vielerlei Hinsicht weit überlegen, fährt Schmidhuber fort. Es erlerne beispielsweise ein prädiktives Weltmodell, „das vorhersagt, wie sich die Umgebung durch ausgeführte Aktionen ändern wird und nutzt dieses Weltmodell irgendwie für abstraktes Denken und Planen.“ Kontinuierlich erweitere das Hirn früher gelernte Fähigkeiten und werde dabei zu einem immer allgemeineren Problemlöser. Auch die KI in seinem Labor könne das bereits, behauptet Schmidhuber.

Deswegen komme er zu dem Schluss, dass KI sich langfristig ihre eigenen Ziele setzen werden. Und dass diese weit über die Erde hinaus gehen: „KIs werden sich dorthin begeben, wo die Ressourcen sind.“ Und die seien vor allem draußen im Weltraum zu finden, weit entfernt von unserem Planeten. „Sich selbst replizierende KIs werden sich rasch im Sonnensystem und der ganzen Milchstraße ausbreiten, im Zaum gehalten nur von der begrenzten Lichtgeschwindigkeit. Menschen werden nicht folgen können.“ Einzig und allein ein durch den Menschen ausgelöster Atomkrieg könne diese Entwicklung verhindern, sagt der Professor. Ähnliches wird er auch später den Konferenzbesuchern im Auditorium erzählen.

Schmidhuber ist in der KI-Community umstritten. Ich höre mich bei Konferenz-Besuchern und Gründern von KI-Startups um, frage sie, was sie vom Professor und seinen Prognosen halten. Die einen nennen ihn einen „abgefahrenen Typen“, die anderen einen „PR-Profi“, manche vergleichen ihn mit Donald Trump. Der bekomme durch seine kontroversen Tweets auch regelmäßig maximale Aufmerksamkeit. Eines halten ihm jedoch viele zugute: dass Schmidhuber dem KI-Thema  durch seine provokanten Thesen mehr Öffentlichkeit verschafft habe. Und damit auch den Unternehmen, die sich mit der Technologie beschäftigen.

Glaubt er wirklich, was er predigt?


Um den deutschen „KI-Vater“ besser zu verstehen, lohnt ein Blick in seine Biografie. Geboren 1963 in München, hat Schmidhuber immer davon geträumt, „eine Künstliche Intelligenz zu bauen, die klüger ist als er selbst, um dann in Rente zu gehen.“ So hat er es in vielen Interviews gesagt, so steht es auf seiner Website.

Schmidhubers großes Vorbild ist Albert Einstein. Nach dem Abitur machte er ein Diplom in Informatik und Mathematik an der TU München, vier Jahre späte promovierte er, mit knapp 30 Jahren wurde er habilitiert. Gemeinsam mit einem seiner Studenten veröffentlichte Schmidhuber 1997 ein Paper, in dem sie eine Methode beschreiben, bei der Computersysteme (neuronale Netze) das menschliche Gehirn nachahmen. Sie würden um eine „Gedächtnisfunktion“ ergänzt, heißt es darin. Dafür würden Schleifen hinzugefügt, die Muster von Wörtern und Bildern erkennen und diese mit zuvor erhaltenen Informationen in Beziehungen setzen. Die Methode nannte Schmidhuber „Long Short-Term Memory“ (LSTM).

Sehnsucht nach Anerkennung

Doch seine Entdeckung fiel in eine Zeit, in der das Interesse an KI nicht besonders groß war, auch „KI-Winter“ genannt. Nur wenige Forscher beschäftigten sich mit dem Thema, es flossen kaum Gelder. Erst Jahre später wurde das Potenzial von LSTM einer größeren Öffentlichkeit bewusst. Der Durchbruch kam vor etwa sechs Jahren: Seit Unmengen von Daten in digitalisierter Form vorliegen, können selbstlernende Systeme damit ständig gefüttert werden – und entwickeln sich seither rasend schnell weiter. 2015 verkündete Google, die Fehlerrate seiner Spracherkennung durch die Nutzung von LSTM um 50 Prozent senken zu können. Spätestens zu diesem Zeitpunkt erkannten viele Unternehmen die kommerzielle Bedeutung von KI.

Doch Schmidhuber kämpft seit Jahren weiter um die Anerkennung seiner Arbeit. Er ist bekannt dafür, Kollegen bei Vorträgen und auf Konferenzen ins Wort zu fallen. Öffentlich klagt er Wissenschaftler an, seine Ideen geklaut zu haben und nun als ihre eigenen auszugeben.

Einen dieser Vorfälle beschreibt das Wirtschaftsmagazin Bloomberg in einem ausführlichen Porträt über Schmidhuber – „den Paten, den die KI-Community vergessen will“. Im Text wird geschildert, wie Schmidhuber den US-Wissenschaftler Ian Goodfellow, heute KI-Chef bei Google, nach einer Stunde bei seinem Vortrag unterbrach. „Entschuldigung, darf ich eine Frage stellen?“ Dann habe der Professor über die Geschichte „gegnerischer Netzwerke“ referiert und mehrere Verbindungen zwischen seiner eigenen Forschung und der Arbeit von Goodfellow hervorgehoben. Nach drei Minuten damit geendet, er frage sich, ob Goodfellow diese Gemeinsamkeiten noch kommentieren wolle. „Das war seine Art zu sagen: Hey Junge, du hast das nicht erfunden!“, kommentiert der Bloomberg-Redakteur.

„Die moderne KI wurde in Bayern entwickelt“

2015 hat Schmidhuber ein weiteres Paper veröffentlicht. Darin beklagt er, dass ein kanadisches Informatikertrio im Silicon Valley als Superstars der KI gefeiert werde, sich gegenseitig ständig zitiere, aber „die Pioniere der Branche nicht anerkennt“. Gemeint waren Geoffrey Hinton (Google), Yann Lecun (Facebook) und Yoshua Bengio (IBM).

Auch in Interviews weist er immer wieder darauf hin, dass der Ursprung der Künstlichen Intelligenz mitnichten in den USA liege – sondern in der Region München: Tatsächlich sei „die moderne KI vor allem in Bayern entwickelt“ worden, sagte Schmidhuber etwa der Süddeutschen Zeitung. Hier habe man schon vor Jahrzehnten wichtige Grundlagen erforscht, die heute Maschinen schlau machten. Die amerikanischen Internetkonzerne aber „verdrehten“ die Geschichte. Sie verstünden es eben, „Propaganda zu betreiben“. Und erweckten damit dem Eindruck, jene moderne Form der KI, die heute in Sprachassistenten, selbstfahrenden Autos und Smartphones steckt, sei in erster Linie im Silicon Valley erfunden worden.

Es drängt sich der Verdacht auf: Schmidhuber, der in München ganz in schwarz auftritt, mit großen Gesten, für ihn offenkundig wichtige Passagen immer wiederholend, möchte vor allem eines nicht – neben den KI-Superstars aus dem Silicon Valley in Vergessenheit geraten.

Jensen Huang hat er jedenfalls als Fan gewonnen. Der Milliardär und Nvidia-Chef begrüßte den gebürtigen Münchner bei der Konferenz in München persönlich, ließ ihn vor allen Zuschauern aufstehen und rief ihm zu: „I love you man!“

Bild: Screenshot storytile/XING; 
Disclaimer: Der Besuch auf der GTC in München fand auf Einladung von Nvidia statt.