Die Voodoo-Gründer Laurent Ritter (links) und Alexandre Yazdi.
Die Voodoo-Gründer Laurent Ritter (links) und Alexandre Yazdi.

Das Mobile Game „Helix Jump“ mutet auf Anhieb wie ein nettes kleines Spielchen an: Ein Ball hüpft auf konzentrisch angebrachten Plattformen einen Turm hinab. Mit meinen Fingern kann ich auf meinem Smartphone-Bildschirm den Turm so drehen, dass der Ball durch die Lücken immer weiter hinab gelangt. Ziel ist es, die unterste Plattform zu erreichen und so das Level zu beenden. Steuere ich den Ball zuvor auf ein oranges Feld, bin ich gescheitert – und muss von vorne anfangen.

Doch was so simpel klingt, kann schnell nahezu süchtig machen. Die kurze Dauer einer Partie dürfte nicht nur mich, sondern auch viele andere Spieler von „Helix Jump“ dazu verleiten, nachdem sie gescheitert sind, immer wieder einen neuen Versuch zu starten. Oder auch nach einem Erfolg doch „noch einmal schnell das nächste Level anzutesten“.

300 Millionen Downloads mit nur einem Spiel

Die Macher des Spiels wollen natürlich genau das: „Suchtpotenzial ist eines der am schwierigsten zu erreichenden Dinge – aber wenn man es erreicht, hat man alles, was man braucht, und der Umsatz wird fließen“, sagt Gabriel Rivaud, in einer Folge des „Appmasters“-Podcast. Rivaud ist Product Manager bei Voodoo, der französischen Firma, die „Helix Jump“ in die App Stores gebracht hat. Es soll weltweit und Betriebssystem-übergreifend das am meisten heruntergeladene Mobile Game im zweiten Quartal 2018 gewesen sein. Das Berliner App-Analytics-Tool Priori Data schätzt die Zahl der „Helix Jump“-Downloads seit der erstmaligen Veröffentlichung des Spiels im März 2018 Betriebssystem-übergreifend auf rund 300 Millionen. 

„Helix Jump“ ist der größte, aber bei weitem nicht der einzige Gaming-Hit von Voodoo. Im deutschen iOS-Store ist das Pariser Unternehmen aktuell mit fünf Spielen in der Top 20 der kostenlosen Games vertreten: Neben „Helix Jump“ mit „Tornado.io“, „Paper.io 2“, „Knock Balls!“ und „Draw.io“. Insgesamt bietet Voodoo laut Priori Data 62 Spiele auf iOS und 46 auf Android an. In aktuellen Stellenausschreibungen beziffert das Unternehmen die Reichweite seiner Apps auf 200 Millionen Monthly Active User.

Allein im August soll sich externen Schätzungen zufolge die Zahl der Vooodoo-Downloads auf mehr als 120 Millionen belaufen haben. „In diesem Jahr werden wir mehr als eine Milliarde Downloads generieren“, sagte Mitgründer und CEO Alexandre Yazdi im Juni bei der Konferenz Casual Connect. „Wir sind die Gaming-Firma mit den meisten Downloads im App Store.“ 

Der Siegeszug der Kürzest-Spielchen 

Damit ist Voodoo die jüngste und beeindruckendste Erfolgsgeschichte innerhalb eines vergleichsweise jungen Mobile-Gaming-Genres, das in den vergangenen zwei Jahren die App-Stores komplett umgekrempelt hat: Hypercasual Games. Spiele mit schnell verständlicher Mechanik, deren Grundprinzip sich anhand eines Screenshots oder eines kurzen Videos innerhalb von Sekunden erfassen lässt, und mit noch kürzerer Spieldauer als bisherige „Casual Games“.

Der erste Publisher, der vorrangig Spiele nach diesem Rezept in den App Store brachte und damit überaus erfolgreich wurde, ist Ketchapp Games. Zwei Jahre nach Gründung hat das ebenfalls aus Frankreich stammende Unternehmen angeblich bereits 700 Millionen Downloads verzeichnen können. In Folge schossen viele Publisher mit ähnlichen Modellen aus dem Boden. In seiner „Best of 2017“-Zusammenfassung über die Entwicklung im App Store nannte Apple „Hypercasual Games“ explizit als Trend. Nun scheint in diesem Jahr Voodoo den Erfolg von Ketchapp zumindest in puncto Download-Zahlen noch zu übertreffen.

Die Spieler im Loop halten, um sie mit Ads vollzuballern

Ob ein Spiel erfolgreich sei, hänge von seiner „snackability“ ab, so Voodoo-Produkt-Manager Gabriel Rivaud. Wie ein Snack muss das Spiel auch in der U-Bahn oder jeglichen anderen Wartesituationen konsumierbar sein. Durch die kurze Dauer eines einzelnen Spieles werde der Spieler immer wieder zu „Loops“, also Schleifen aus mehreren Partien, verführt. Auch, weil Voodoo versuche, die Spiele so zu gestalten, dass sich das Spielende nie als Strafe anfühlt, um die Spieler nicht zu frustrieren.

Denn spielt der Nutzer nicht weiter, kann der Publisher mit ihm kein Geld mehr verdienen. Hypercasual-Publisher monetarisieren ihre Spiele größtenteils durch Werbung. Damit unterscheiden sie sich von der „alten Schule“ der Mobile-Gaming-Branche, die entweder auf In-App-Einkäufe oder (zu einem geringeren Maße) auf Verkaufserlöse gesetzt hat. Wenig erstaunlich also, dass in den Voodoo-Spielen nach mindestens jeder zweiten längeren Partie Unterbrecherwerbung eingeblendet wird. In der Regel sind das horizontale Videos über die gesamte Bildschirmgröße, in denen meist andere Gaming-Apps beworben werden. Teilweise sind die Ads sogar „playable“, und die Spieler können die jeweilige App in der Werbung ausprobieren. Wie bei Youtube sind die Werbevideos erst nach einiger Zeit überspringbar, oder das Kreuz, mit dem sie geschlossen werden können, taucht erst nach einigen Sekunden auf.

Hinzu kommt vor dem Spiel ein Mini-Video im Polaroid-Look auf der Startseite, mit dem in der Regel ein weiteres Voodoo-Spiel beworben wird, dazu während des Spiels Bannerwerbung am Fuße des Bildschirms, sowie Rewarded Ads: Durch diese kann der Nutzer auch nach einem „Spieltod“ weiterspielen – wenn er ein Werbevideo komplett anschaut.

Die Voodoo-Gründer Laurent Ritter (links) und Alexandre Yazdi.
Die Voodoo-Gründer Laurent Ritter (links) und Alexandre Yazdi.

26 Werbemittel in neun Minuten

Für die Nutzer scheint die Werbeflut nahe an der Perfidie. Natürlich sollen Entwickler und Publisher von kostenlosen Spielen auch Geld verdienen können. Doch der Vermarktungsstil von Voodoo vermittelt den Eindruck, die Aufmerksamkeit des Nutzers bis an die Grenze ausreizen zu wollen. Die Werbung wirkt, als sei ihr Volumen genauso austariert, dass der Nutzer kurz davor steht, das Spiel zu schließen und möglicherweise sogar zu deinstallieren – aber eben nur kurz davor.

In den USA hat ein Spieler in einem Video aufgenommen, wie viel Werbung ihm in „Snake vs Block“, einem weiteren Erfolg von Voodoo, angezeigt wird. In neun Minuten spielt er zehn Partien. In dieser Zeit werden ihm siebzehn unterschiedliche Banner und neun unterschiedliche Video-Ads zwischen den Spielen angezeigt. Dabei scheint er das Spiel bereits gut zu beherrschen. Wäre dies nicht der Fall, und die Dauer der einzelnen Spiele wäre kürzer, wäre die Zahl der Videos noch höher. Und die Option, sein Spiel durch Rewarded Ads zu verlängern, hat er dabei noch nicht einmal in Anspruch genommen. 

Aufruf zum schamlosen Kopieren

Auch wenn Voodoo das „Yield Management“ (also die Optimierung der Werbeumsätze) perfektioniert haben mag: Es dürfte kaum möglich sein, auch nur annähernd so viel Geld mit Werbung in Spielen zu verdienen wie es die ganz großen Gaming-Schwergewichte mit In-App-Einkäufen tun. Doch das müssen die Hypercasual Publisher auch gar nicht unbedingt. Denn im Vergleich zu vielen anderen Publisher-Typen dürften sie deutlich niedrigere Kosten haben – etwa auf der Entwicklungsseite: Hypercasual Games sind deutlich weniger komplex und weniger aufwändig designt. Offenbar liegt im Hypercasual-Bereich in der Entwicklung nur ein geringer Teil der Wertschöpfung. So entwickeln Voodoo und Ketchapp Spiele nicht selbst, sondern arbeiten mit einer Vielzahl von Entwicklerstudios zusammen.

Bei der Auswahl der Spiele ist die Originalität der Spielidee offensichtlich kein Kriterium: Viele Voodoo-Spiele wirken wie eine Kombination von bereits bekannten Versatzstücken oder eine geringfügig veränderte Variante eine bereits existierenden Spieles. Bei einer Wettbewerbsausschreibung im vergangenen Jahr riefen die Voodoo-Macher interessierte Entwickler sogar explizit dazu auf, bereits bestehende Spielkonzepte aufzugreifen und diese „mit einem Twist“ zu versehen. Diese Einstellung brachte Voodoo und anderen Hypercasual-Publishern schon mehrfach den Vorwurf des Ideenklaus von Seiten der Entwickler-Community ein.

„Die Spiele sollen nicht hübsch sein“

Nicht nur die Einzigartigkeit des Spielprinzips ist von untergeordneter Rolle; auch das Game-Design muss mehr zweckdienlich denn liebevoll sein: nicht „polished“, sondern maximal in zwei Wochen entwickelt, empfiehlt Voodoo in der Wettbewerbsausschreibung. In einem Beitrag in einem Entwicklerforum in der Social Community Reddit erklärt CEO Alex Yazdi gegenüber einem Entwickler: „Wir sind sehr darauf bedacht, keine Design-Elemente alleine deswegen hinzuzufügen, um ein Spiel schöner zu machen. Was für uns am meisten zählt, ist dass der Spieler das Spielprinzip leicht versteht und eine angenehme Erfahrung hat.“

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Bei der Auswahl der Spiele und deren Fein-Tuning geht Voodoo komplett Analytics-getrieben vor, wie einem aufschlußreichen Interview mit Voodoo-Publishing-Manager Hugo Peyron zu entnehmen ist. Das wichtigste sei die Retention-Rate, also die Häufigkeit, mit der Spieler zum Spiel zurückkehren. „Wir suchen hier nach hohen Prozentsätzen. Wenn ein Spiel eine niedrige Retention hat, killen wir es.“ Laut einer einer Appsflyer-Studie aus dem November 2017 liegt die Retention Rate im Gaming-Bereich am ersten Tag nach dem Download (D1 Retention) bei 39,9 Prozent. Voodoo sucht demgegenüber Spiele mit einer D1-Retention-Rate von mindestens 55 Prozent.

„Wir killen 95 Prozent aller Spiele“

Auch die Zahl der Sessions (also der Spielsitzungen) misst Voodoo. Auf Basis von A/B-Tests versucht das Unternehmen dann, die wichtigsten Erfolgskennzahlen weiter zu verbessern. Jede Änderung am Spiel müsse sich positiv auf die Kern-KPIs auswirken, sonst werde das Spiel nicht gelauncht, so Peyron. „Wir bringen 19 von 20 Spielen, die wir testen, nicht heraus.“

Als konkretes Beispiel dafür, wie ein Spiel auf Basis von Gaming-Analytics-Erkenntnissen optimiert worden sei, nennt Publishing Manager Peyron das Spiel Snake vs Block. „Hier stellten wir fest, dass die Session-Länge zu lang war.“ Deswegen habe man das Tempo des Spiels erhöht. Obwohl es damit schwerer geworden sei, habe dieser Schritt die Retention erhöht – nach Ansicht von Peyron ein Beleg dafür, dass die Nutzer Spiele in Snack-Länge wollen. Bis heute ist Snake vs. Block nach Schätzungen von Priori Data rund 132 Millionen Mal heruntergeladen worden.

Die KPI-fokussierte Optimierung des Gameplays sorgt wohl auch dafür, dass die Spiele nicht nur in der Entwicklung günstiger sind, sondern auch im Marketing: Weil das Spielprinzip von potenziellen Nutzern einfacher zu erfassen ist und durch das virale Potenzial leichter Aufmerksamkeit für die Games generiert werden kann, sind die User Acquisition Costs im besten Fall deutlich niedriger als bei anderen Spielen. So empfiehlt der Hypercasual-Publisher Tap Tap Games in Rahmen von Tests zu prüfen, ob ein Cost-per-Install unter 50 Cent zu erzielen ist.

Marktführer Voodoo setzt in diesem Zusammenhang offenbar stark auf Facebook. Die Facebook Page des Unternehmens hat fast zwei Millionen Fans. Schaut man sich an, wie viele unterschiedliche Facebook Ads das Unternehmen gleichzeitig schaltet, liegt die Vermutung nahe, dass viele davon über Werbung generiert sein dürften. Alle Ads funktionieren nach demselben Schema: ein Video mit Meme-artiger Caption. Der Umstand, dass einzelne Video Ads in weniger als zwei Wochen mehr als zehn Millionen Aufrufe verzeichnen, lässt darauf schließen, dass diese Methode für Voodoo gut zu funktionieren scheint.

Goldman Sachs glaubt an den Markt

Darüber, wie viel Umsatz die Hypercasual-Branche im Allgemeinen und Voodoo im Speziellen erwirtschaften, existieren keine öffentlichen Zahlen. App-Analytics-Tools tun sich leichter damit, die Höhe der Umsätze von In-App-Einkäufen zu schätzen. Dass sich Goldman Sachs im Mai dieses Jahres an Voodoo beteiligt hat, ist jedoch ein mehr als deutlicher Fingerzeig für das Potenzial des Hypercasual-Marktes. Nach Informationen von Reuters soll die Investmentbank 200 Millionen US-Dollar für einen Minderheitsanteil gezahlt haben, die Unternehmensmehrheit sei in den Händen der Gründer verblieben. Demnach müsste sich die aktuelle Unternehmensbewertung von Voodoo auf mehr als 400 Millionen US-Dollar belaufen.

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Und es nicht der einzige Deal im Hypercasual-Bereich: 2016 hatte Ubisoft bereits Ketchapp übernommen. Wenige Tage nach Verkündung des Goldman-Sachs-Investments in Voodoo gab zudem Zynga die Übernahme des Londoner Mobile-Gaming-Unternehmens Gram bekannt – zum Preis von 250 Millionen US-Dollar. Es dürfte nicht die letzte Akquisition dieser Art bleiben.

Dieser Artikel erschien zuerst bei OMR

Bild: Voodoo