Spediteur Felix Fiege (l.) und Reiner Kurzhals haben gemeinsam Westphalia Datalab aufgebaut.
Spediteur Felix Fiege (l.) und Reiner Kurzhals haben gemeinsam Westphalia Datalab aufgebaut.

Es ist eine ganz besondere Beziehung: Im Herbst 2017 haben der Wissenschaftler Reiner Kurzhals, Professor an der FH Münster, und Felix Fiege, Miteigentümer der Großspedition Fiege Logistik, gemeinsam die Firma Westphalia Datalab ins Leben gerufen. Das „Kraftwerk der Datenanalyse“, so die Eigenbeschreibung, gehört zu den erfolgreichsten Industrie-Startups und damit zu den Ausnahmeerscheinungen der deutschen Gründerszene. 

Im Oktober gewann Westphalia Datalab den Deutschen KI-Preis 2020 in der Kategorie Anwendung: Ausgezeichnet wurde ein KI-basiertes Projekt zur Diagnose und Therapie der Makuladegeneration, der weltweit häufigsten Ursache der Alterserblindung.

Für das Gespräch schaltete sich Felix Fiege telefonisch aus seinem Urlaub zu, den er auf der Nordseeinsel Föhr verbrachte; Reiner Kurzhals rief aus dem Münsteraner Westphalia Datalab an.

Herr Fiege, Herr Kurzhals, was hat Sie zueinander geführt, wie wurden Sie aufeinander aufmerksam?

Felix Fiege: Einer von Reiners Bachelor-Studenten hatte 2017 bei uns ein Projekt gestartet zur Datenauswertung. Wir fanden den Ansatz, den er verfolgte, sehr spannend, und so haben wir uns kennengelernt. Du hast dich, Reiner, schnell eingeschaltet, und dann begann der Dialog.

Reiner Kurzhals: Ganz genau. Ich konnte zuerst gar nicht glauben, dass ihr so viele unterschiedliche Daten bevorratet. Deswegen hatte ich mir schnell einen Termin bei euch besorgt, um mir das mal näher anzuschauen. Von da an sind wir sozusagen eng zusammengerückt.

Felix Fiege, 41, und sein Vetter Jens, 45, leiten die gleichnamige Fiege-Gruppe in fünfter Generation. Das Unternehmen aus dem westfälischen Greven gehört mit einem Umsatz von 1,7 Milliarden Euro zu den größten Logistikern des Landes. Als einer der wenigen deutschen Mittelständler investiert Fiege nicht nur in bestehende Startups, sondern tritt mit dem Aufbauhelfer und Ideengeber Xpress Ventures auch selbst als Mitgründer in Erscheinung, stellt eine Startfinanzierung sicher und bei Bedarf auch eigene Anlagen, wie etwa Lagerhäuser.

Fiege Logistik ist eine weltweit tätige Spedition. Um welche Daten geht es vor allem?

Fiege: Der Onlinehandel ist hier ein gutes Beispiel: Die Online-Bestellungen unserer Kunden werden mithilfe riesiger Datenmengen und dem Einsatz von künstlicher Intelligenz bestmöglich vorhergesagt. Hierfür werden unterschiedlichste Daten hinzugezogen, zum Beispiel Bestelldaten der Vergangenheit – denn saisonale Schwankungen wiederholen sich –, aber auch externe Daten, wie aus dem Wetterbericht, denn an verregneten Wochenenden bestellen die Endkunden häufiger online. Aus unterschiedlichsten Quellen speisen sich also diese Datenmengen, die nun nutzbar gemacht werden. Denn durch frühzeitigere und präzisere Vorhersagen können wir besser abschätzen, welches Arbeits- und Auftragsvolumen wir morgen oder in der nächsten Woche zu erwarten haben. Das ist für uns Gold wert, denn wir können dementsprechend unsere Kapazitäts- und Personalplanung ausrichten.

Diese großen Datenmengen, die in unseren Lagerhallen entstehen und durch externe Quellen angereichert werden, können wir auch für die Routenoptimierung nutzen, um ein zweites Beispiel zu nennen. Aktuelle und historische Staumeldungen und so weiter werden mitverarbeitet, um die kürzeste Fahrstrecke zu ermitteln und eine schnellere Zustellung zu ermöglichen.

Reiner Kurzhals, 52, ist Professor an der School of Business der FH Münster und ein Spezialist für Statistik und Quantitative Methoden – sowie für Firmengründungen. Nach 4-Tree, einer Datenanalysefirma für den Einzelhandel, die er 2015 an McKinsey verkaufte, hob er 2017 im Verein mit der Fiege-Gruppe das Westphalia Datalab aus der Taufe, erneut eine Datenanalysefirma, die mit KI-Verfahren Produkte und Geschäftsmodelle entwickelt. Westphalia Datalab beschäftigt 55 Datenwissenschaftler. Im Oktober wurde die Firma mit dem Deutschen KI-Preis ausgezeichnet.

Herr Kurzhals, die Routenoptimierung, einschließlich diverser Zwischenstopps, kennt man von Google Maps. Was machen Sie anders, was können Sie besser?

Kurzhals: Routenoptimierung hat erst einmal nichts mit künstlicher Intelligenz zu tun, die Berechnung der kürzesten Strecke beruht einfach auf einem mathematischen Verfahren. Was wir machen, ist, dass wir die Routenoptimierung mit konkreten Anwendungsfällen verbinden, zum Beispiel mit Angaben über die Menge der Produkte, die zu einem bestimmten Zeitpunkt das Lager verlassen beziehungsweise vom Kunden nachgefragt werden. Um es ganz platt sagen: Mithilfe der KI können wir vorausberechnen, wie voll ein Lkw sein muss, ob wir überhaupt einen benötigen oder ob ein kleineres Fahrzeug genügt und ob wir Strecken noch einmal abkürzen können.

Herr Fiege, warum sind Sie 2017 bei Westphalia Datalab (WDL) überhaupt eingestiegen, und wie hoch war Ihr finanzieller Einsatz?

Fiege: Wir hatten sofort an das Potenzial von WDL geglaubt, aber auch an die Chancen für unser eigenes Unternehmen und die Wirtschaft überhaupt. Und das hat sich bisher auch bewahrheitet. Uns geht es vor allem um die Nutzung der Datenanalyse für Fiege Logistik selbst, aber wir haben mit Reiner und seinem Team auch abgesprochen, dass wir versuchen wollen, WDL ebenso in anderen Branchen erfolgreich zu machen. Uns hilft die Zusammenarbeit mit einem Startup auch dabei, unsere eigene Innovationsbereitschaft zu stärken. Um neue Techniken und Geschäftsmodelle zu entwickeln und auch als Erster einsetzen zu können, ist es bisweilen ratsam, dies gemeinsam mit Startups zu tun und sich dann in so einer Konstellation wie mit WDL zu verbinden. Engagiert haben wir uns mit einem niedrigen siebenstelligen Betrag. 

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Was hat WDL anderen Unternehmen in der Datenanalyse voraus?

Fiege: Was uns von Anfang an überzeugt hat, ist der Anspruch von WDL, mithilfe von künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen neuartige Werkzeuge zu entwickeln, die normal ausgebildete Kaufleute im Tagesgeschäft bedienen können und für deren Anwendung man keinen Datenwissenschaftler braucht. Die einfache Nutzung der Produkte ist etwas, was WDL auszeichnet, was es so in der Form noch nicht gibt.

Planen Sie, den Fiege-Anteil von zurzeit 40 Prozent zu erhöhen? Und auf welchen Zeitraum ist Ihr Engagement bei WDL angelegt?

Fiege: Erhöhen wollen wir unseren Anteil nicht. Und bei vielen Startups, an denen wir uns beteiligen, ist ein Ausstieg immer eine Option. Ganz abgesehen davon, dass eine Anteilserhöhung oder dauerhafte Beteiligung oftmals auch den Planungen der Gründer zuwiderläuft. 

Kurzhals: Das sehe ich genau so. Das WDL ist ja nur eines von mehreren Startups, bei denen Fiege engagiert ist. Auch wenn wir vielleicht eines der wichtigsten sind, weil wir eine Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts anwenden: künstliche Intelligenz. Aber unsere Ziele sind dieselben. Auch ich als Unternehmer verfolge eine Exit-Strategie. Ich habe ja schon einmal ein Datenunternehmen verkauft, vor ziemlich genau fünf Jahren war das. Und das kann ich mir auch hier vorstellen. Das WDL wird sehr wahrscheinlich nicht meine letzte Gründung gewesen sein.

Sie denken daran, das Unternehmen zu verkaufen?

Kurzhals: Ja, und das ist sogar gesund. Genauso wie bei meinem letzten Startup kommt irgendwann der Zeitpunkt, wo man extrem aufrüsten muss, vor allen Dingen im Vertrieb. Große Unternehmen, die effiziente Verkaufsmaschinerie bereits aufgebaut haben, schielen darauf, erfolgreiche Startups, die eine wichtige Technologie entwickelt haben, zu übernehmen und in den eigenen Vertrieb zu überführen. Und das ist sehr sinnvoll, das machen uns auch die amerikanischen Kollegen vor, es funktioniert eigentlich ausgezeichnet. Das ist so ein Marktmechanismus, da würden wir uns gerne anschließen.

Sind Sie zufrieden mit der Umsatzentwicklung von WDL?

Fiege: Es dürfte immer gern mehr sein. Aber wir sind schon sehr zufrieden. Alle Pläne sind erfüllt worden, die wir am Anfang aufgestellt haben, was die Anzahl der Kunden betrifft, den Umsatz oder die Mitarbeiter, die ja immer entscheidend sind in dieser Industrie.

Kurzhals: Ja, wir sind jetzt drei Jahre alt und haben im ersten Geschäftsjahr ziemlich genau eine Millionen Euro umgesetzt. Was schon ziemlich ungewöhnlich ist, denn als Deep-Tech-Unternehmen, das extrem kapitalintensive KI-Softwareprodukte anbietet, würde man von uns gar nicht erwarten, dass wir überhaupt Umsätze erzielen. Aber wie wir Westfalen halt sind, krempeln wir die Ärmel hoch und zeigen unseren Investoren, dass wir unsere Produkte auch verkaufen können. Im zweiten Jahr haben wir die Einnahmen auf 2,5 Millionen Euro erhöht. Und jetzt im dritten Jahr hat die Corona-Krise unseren Plan, den Umsatz noch einmal mindestens zu verdoppeln, leider durchkreuzt. Aber wir schließen den Umständen entsprechend sehr gut ab und werden uns wenigstens kaum verschlechtern. Und das ist ja schon mal ein großer Erfolg zu diesen Zeiten. 

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In seiner zweiten Wachstumsphase braucht das WDL noch einmal kräftig Kapital. Können Sie den Bedarf beziffern?

Kurzhals: Wir sind ein industrielles Startup und gehen somit gewissermaßen einen Sonderweg: Der Felix ist ja Mitgründer, aber auch Investor, und wir befinden uns mitten in der Kapitalbeschaffung. Wir sammeln gerade fünf Millionen Euro ein, jetzt für diese zweite Phase, nachdem die erste mit dem Einstieg von Remondis, einem der größten Recyclingunternehmen zu Ende gegangen war.

Auch Remondis ist ein Unternehmen aus der Region.

Kurzhals: Ja, ich kann zum Felix Fiege und zu dem Herrn Rethmann, dem Chef von Remondis, mit dem Fahrrad fahren. Wir wollen mit WDL hier in Westfalen, dem Land der Hidden Champions, eine Technologiefirma aufbauen, die sich mit den Großen der Welt in den USA oder China messen kann. Wie gesagt, fünf Millionen Euro fehlen uns noch, deshalb reden wir zurzeit mit mehreren Familienunternehmern – alle in Fahrrad-Entfernung – und mit drei internationalen Konzernen, um diese Lücke bis Ende 2021 zu schließen.

Warum ist es Ihnen bisher nicht gelungen, das Interesse von Wagniskapitalgebern zu wecken?

Kurzhals: Mit Fiege als Hauptinvestor sind wir ein industrielles Startup, und mit dieser Kombination können Wagniskapitalgeber im Augenblick wohl noch wenig anfangen. Die denken nach wie vor in diesen Schwarz-Weiß-Mustern und sollten sich vielleicht einmal etwas lockerer machen und auch nach alternativen Wegen schauen. Industrie-Startups mit einem starken Einzelgesellschafter passen nicht in deren Beuteschema.

Fiege: Wir beobachten den Startup-Markt in der Logistik recht genau, mischen hier ja teilweise selbst mit, und sehen immer wieder, dass die Finanzierungsmöglichkeiten im Ausland viel, viel besser sind. Das führt bekannterweise dazu, dass sich viele Startups in der kapitalintensiven zweiten Wachstumsphase ins Ausland orientieren und versuchen, sich von dort finanzieren zu lassen oder vielleicht sogar dorthin überzusiedeln. Ja, manche innovativen Geschäftsmodelle werden gar nicht erst umgesetzt, weil ihre Finanzierung in Deutschland hoffnungslos ist. Das ist ein Riesennachteil für Deutschland und Europa im Vergleich mit den USA oder China. Wir müssen die Bereitschaft, in neue Ideen zu investieren, erhöhen, um international wettbewerbsfähig zu bleiben oder es in manchen Bereichen auch wieder zu werden. 

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Wie förderlich ist der Standort Münster für die Geschäftsentwicklung von WDL? Wäre es nicht angezeigt, Zweigstellen in München oder in Berlin zu gründen?

Kurzhals: Wir stellen gerade drei neue Geschäftsführer ein, und davon kommen zwei aus München und einer aus Berlin. Aber es stimmt natürlich, dass der Standort eine wichtige strategische Rolle spielt. Deshalb wollen wir auch versuchen, auf dem neuen KI-Campus der Merantix AG in Berlin ein Büro zu eröffnen und ein anderes in München. Münster war für den Start der ideale Standort, aber je größer wir werden, desto wichtiger wird es, diese beiden großen Standorte, München und Berlin zu sichern, und das machen wir gerade.

WDL also voll auf Expansionskurs.

Kurzhals: Hundertprozentig! Was mich, nebenbei bemerkt, persönlich besonders reizt an der Gründer- und Tech-Szene, spiegelt der Slogan einer Gemeinschaftsanzeige von Fiege und der Hypo-Vereinsbank wider, wo es heißt: „Alles ist unmöglich, bis es einer macht“.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Welt.de.

Bild: Westphalia Datalab