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Ein neues EU-Gesetz könnte dazu führen, dass YouTube für Urheberrechtsverstöße seiner Nutzer verantwortlich gemacht wird.

Die YouTube-Apokalypse“, „Wird YouTube bald gelöscht?“, „Unser YouTube-Kanal wird gelöscht – das Ende von YouTube“ – so lauten die Titel einiger Videos deutscher YouTube-Stars, die aktuell schnell mehrere Hunderttausend bis über eine Million Klicks einsammeln. Die Betreiber erfolgreicher deutscher YouTube-Kanäle wenden sich mit den alarmistischen Titeln gegen die kommende Neuregelung des Urheberrechts in der Europäischen Union. In der kommenden Neufassung des Artikels 13 wird geregelt, dass künftig Internetplattformen wie YouTube für Urheberrechtsverstöße ihrer Nutzer verantwortlich gemacht werden können, wenn sie keine Lizenzen für Inhalte von den Rechteinhabern erwerben.

„Da kein Webseitenbetreiber unnötig Risiken eingehen will, werden sie von Beginn an alles blockieren, was hochgeladen wird“, sagt etwa YouTube-Jungstar Luca, „das Einzige, das es dann hier auf YouTube noch zu schauen gäbe, wäre Content von großen Medienkonzernen“. 

Die YouTube-Stars entwickeln eine Breitenwirkung: Lucas 3,4 Millionen Abonnenten schauten das Video innerhalb weniger Stunden über 1,1 Millionen Mal an, der YouTuber sammelt über hunderttausend Like-Klicks. Seine Nutzer schreiben in den Kommentaren verzweifelte Sätze wie: „YouTube ist mein Leben“, „bitte lasst uns YouTube, Politiker“, „Ich heul gleich“, „Was sollen wir den dann schauen?“. In den Kommentarspalten anderer populärer YouTube-Kanäle spielt sich Ähnliches ab, denn die Fans glauben ihren Jungstars, vertrauen ihren Alarmrufen.

Mitteilung der YouTube-Chefin

Die Grundlage der jugendlichen Verzweiflung unter den Bloggern ist eine Mitteilung der YouTube-Chefin Susan Wojcicki, die Ende Oktober in ihrem vierteljährlichen Schreiben an die „YouTube-Partner und Creators“ vor der kommenden Neuregelung mit drastischen Worten alarmierte: „Artikel 13 in seiner jetzigen Fassung könnte Millionen von Menschen – von Creators wie euch bis hin zu alltäglichen Nutzern – daran hindern, Inhalte auf Plattformen wie YouTube hochzuladen“, schrieb Wojciki und warnte weiter: „Diese Gesetzgebung stellt eine klare Bedrohung für euren Lebensunterhalt und eure Möglichkeit dar, euch weltweit Gehör zu verschaffen.“ Sie versichert, dass YouTube im Zweifelsfall lieber Kanäle in Europa dichtmacht: „Es wäre schlichtweg zu riskant, Inhalte von kleinen Videomachern zu präsentieren, da die Plattformen nun direkt für diese Inhalte verantwortlich wären.“

Dass Wojcicki sich jetzt mit dem Schreiben an die Multiplikatoren mit der größten Breitenwirkung unter den YouTube-Videomachern wendet, ist ein Versuch der indirekten Einflussnahme: Mitte September hatte das EU-Parlament einem Entwurf der Urheberrechtsreform zugestimmt, doch mit der Abstimmung sind die Gesetzesentwürfe keineswegs bereits endgültig festgelegt.

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Da der Entwurf umstritten ist, greift das sogenannte Trilogverfahren: Die Parlamentarier entsenden Vertreter in Verhandlungen mit der EU-Kommission und dem europäischen Rat und verhandeln erneut über einen Kompromiss. Eine finale Abstimmung könnte danach im Frühling 2019 angesetzt werden.

Einfluss durch Mobilisierung der Jungstars

Schafft es YouTube nun, genügend Anhänger der Jungstars zum politischen Protest gegen die Reform zu mobilisieren, könnte der Konzern das Trilogverfahren eventuell noch zu seinen Gunsten beeinflussen. Das weiß auch die EU-Kommission. Am Dienstag protestierte ein Sprecher der Behörde in Brüssel gegen Wojcickis scharfe Kritik. Wer Nützliches und Konstruktives zum derzeitigen Gesetzgebungsverfahren beizutragen habe, sei willkommen, sagte ein Sprecher der Brüsseler Behörde am Dienstag. Den Gesetzgebungsprozess jedoch für die Behauptung zu nutzen, die EU sei gegen das Internet, sei „Unsinn“. Die YouTuber würden auch nach Inkrafttreten der Reform weiterhin in der Lage sein, das zu tun, was sie heute tun: „etwa Anleitungen oder andere kreative Inhalte hochladen“. 

YouTube wehrte sich in einer ersten Reaktion gegen die Kritik aus Brüssel: Man habe lediglich die kreativen Jungstars auf die potenziellen Folgen der neuen Gesetze hinweisen wollen. YouTube unterstütze das Vorhaben der EU, das Urheberrecht an das digitale Zeitalter anzupassen. 

Dass YouTube tatsächlich mit Inkrafttreten einer Neuregelung irgendwann in den kommenden zwei Jahren die Kanäle seiner erfolgreichsten Jungstars löscht, ist extrem unwahrscheinlich – würde der Konzern damit doch seine größten Nutzergruppen, die jugendlichen Anhänger der Stars, vergraulen und seine sorgfältig aufgebauten Creator-Netzwerke zerstören. Stattdessen wird YouTube – aller Voraussicht nach – die technische Lösung weiterentwickeln, die der Konzern ohnehin bereits einsetzt: Mit sogenannten Upload-Filtern kann die Plattform bereits jetzt verhindern, dass Content-Piraten von Werken Fremder profitieren. Ausgerechnet am Dienstag stellte Google in Lissabon auf der Internetkonferenz Web Summit den neuesten „Piracy Report“ vor.

Demnach hat der YouTube-Mutterkonzern inzwischen über 100 Millionen Dollar in seine Content-ID-Technologie investiert, mit der er Urheberrechte auf YouTube schützt. Der Konzern hat mittlerweile über drei Milliarden US-Dollar an Rechteinhaber ausgezahlt, deren Inhalte durch Fremde unlizenziert auf YouTube monetarisiert worden sind. Die Technologie zum Einhalten der neuen Regeln hat YouTube also bereits entwickelt. Die drohenden Briefe der YouTube-Chefin scheinen vor diesem Hintergrund wenig mehr als ein Versuch der indirekten politischen Einflussnahme über den Umweg leicht zu beeindruckender YouTuber und ihrer Fans.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Welt.de.

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